Die Seerose.

[147] In einem Bergkessel des Riesengebirges liegt in der Mitte ein großer Haufen Steine, darunter soll ein Jüngling begraben sein. Vor uralten Zeiten war nämlich in diesem Orte ein See. Auf diesem See fuhr einmal ein junger Mann. Wie er so über die Wellen hingleitet, sieht er eine wunderschöne Seerose, die sich jedesmal wieder entfernt, so oft er darnach fassen will. Auf einmal steht das Schiff still und alle Mühe, es flott zu machen, ist vergebens. Da erhob sich aus dem Wasser eine wunderschöne Frau, die bat den Jüngling, ihr in ihr Schloß zu folgen. Aber diesem war die Sonne lieber. So mochte er einige Tage auf derselben Stelle inmitten des Wassers zugebracht haben und schon fieng der Hunger an ihn zu quälen, da[147] stürzte er sich endlich ins Wasser und lebte mit der Meerfrau im Schlosse. Allein er hatte stete Sehnsucht nach der Oberwelt und bat die Meerfrau, ihm einen Thurm zu bauen, der über den Spiegel des Sees reichte. Sie erfüllte ihm diese Bitte. Aber er war noch nicht zufrieden und verlangte ein Schloß mit Gärten und Feldern, auch das bewilligte ihm die Geliebte, obgleich der See hiedurch sehr eingeengt wurde. Eines Tages aber, als die Meerfrau sich nicht aus dem See erheben durfte, gelang es endlich dem Jüngling ganz zu entfliehen und in seine Heimat zu gelangen, wo er sich vermählte. Als er aber einmal auf der Jagd war, stürzte er unversehens in einen Brunnen; dort lebte ein Verwandter der Meerfrau, der hatte ihn getödtet und sendete ihn der Meerfrau, die den Ungetreuen mit einem Haufen Steine bedeckte. Nachher vertrocknete der See, nur der Steinhaufen inmitten des Bergkessels ist noch zu sehen. (F. Kahler aus Braunau.)

Quelle:
Grohmann, Josef Virgil: Sagen-Buch von Böhmen und Mähren. 1: Sagen aus Böhmen, Prag: Calve, 1863, S. 147-148.
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