XIX. Óli der Starke und Tór der Starke.

[16] Früher in alten Zeiten lebte in Gásadal auf Vágar ein Riese, welcher Tór der Starke genannt wird, und in Mikines wohnte zu derselben Zeit ein Mann, der Óli der Starke genannt wird. Tór, der Thalbewohner, beabsichtigte den Mikinesbewohner zu töten und die Insel für sich zu gewinnen; er ging daher aus dem Thal auf den Líraberg hinauf und sprang von dort über den Fjord, hinaus in die Borgarschlucht im Borgardal, östlichst auf Mikines; die Fussspuren stehen noch nach ihm in den Felsen beiderseits dort, wo er gesprungen. Der Mikinesbewohner hatte seinen Sitz westlich auf der Insel; Tór hatte deshalb einen langen Weg über Thäler und Berge zu gehen, ehe er ihn fand; doch der Weg wurde ihm nicht lang, mit seinen langen Beinen stapfte er im Handumdrehen westwärts über die Insel. Als er mit gespreizten Beinen die Bergwand herabkam, sah ihn der Mikinesbewohner und Furcht befiel ihn, denn dieser grosse Riese war schrecklich anzusehen. Er sprang deshalb auf die Füsse und lief, so schnell er konnte, westwärts über die Insel davon; aber als er westwärts über die Schlucht gekommen war, war nicht mehr viel zwischen ihnen. Das Herz begann Óli deshalb bis in den Hals zu schlagen und er begann sich heftig zu fürchten und rief den Notruf: »Zerreisse die Schlucht!« und damals geschah es, dass Mikinesholm sich von der Insel loslöste und der Sund dazwischen kam. Das ist sichtbar an den Uferwänden beiderseits, dass der Holm und die Insel miteinander verwachsen gewesen sind; wo Höhlen in der einen Uferwand sind, ragen gerade gegenüber Klippen heraus an der anderen Wand. – Als der Riese diesen mehr als 20 Faden breiten Schlund vor sich und den Holm sich loslösen sieht, ruft er: »Reisse, was reissen will, ich springe darüber.« Er setzte hinüber und dort draussen auf dem Holm begannen nun beide zu kämpfen, weil der Mikinesbewohner sah, dass keine andere Möglichkeit zu wählen war, als dem Riesen Stand zu halten und Kraft und Stärke zu erproben. Sie rangen hart und lange und wühlten die Erde bis zu ihren Knöcheln auf; – das heisst »í Trakki« [»Stelle, wo gestrampelt worden ist«] und hier ist kein Gras seither gewachsen, obwohl der ganze Holm sonst durchaus mit langem Grase vom obersten Berggrat bis zu den Strandklippen hinab bewachsen war. Endlich drückte der Mikinesbewohner den Riesen auf die Kniee nieder, drückte ihm ein Auge aus und drohte ihn zu töten. Aber der Riese wollte das Leben nicht verlieren und begann[16] nun um Gnade zu bitten und versprach Óli drei seltene Dinge, wenn er ihm Leben und Sicherheit schenken wollte. Das erste, was der Riese geben wollte, um sich vom Tode zu lösen, war ein grosser Wal, der jährlich in die Hvalaschlucht hier auf Mikines kommen sollte; das zweite war, dass ein grosser Baum in einer Schlucht angetrieben werden sollte, welche nicht weit von jener ist und Viđarhellisschlucht genannt wird; und das dritte war ein Vogel, der sich auf keiner anderen Insel der Föroyer setzen oder brüten sollte, als auf Mikinesholm. Aber er legte die Bedingung zu den Gaben, dass niemand, der in Zukunft sich hier auf der Insel niederliesse und von ihnen geniessen wolle, sie tadeln oder verspotten dürfe. Der Mikinesbewohner ging auf diese Bedingungen ein und nahm das Anerbieten Tórs an; so verglichen sich beide und lebten ihr ganzes Leben zusammen. Westlichst auf der Insel, auf der Bergkuppe draussen auf dem Holm, wurden sie jeder in seinen Hügel beigesetzt, als sie starben; noch heute heisst der eine Hügel Óli der Starke, welcher nördlicher ist, und hier ist der Mikinesbewohner begraben; der andere heisst Tór der Starke, wo der Thalbewohner begraben ist.

Der Riese hielt wohl, was er versprochen hatte; jährlich zur Heuzeit kam der grosse Wal in die Hvalaschlucht, aber jetzt kommt er nicht mehr, denn die Mikinesleute vergassen, dass sie über ihn nichts böses sagen durften und so hielten sie ihren Spott mit ihm, weil er nicht mehr als ein Auge hatte und sie lästerten ihn, weil sie Durchfall bekamen, als sie sein Fleisch assen, – so verschwand der Wal und kam nicht wieder. – Der Baum kam im Frühjahr, aber ging bald desselben Weges wie der Wal; denn sie lästerten ihn, dass er krumm und knotig sei und sie fluchten darüber, weil sie ihn jährlich dazu benutzen mussten, eine Kapelle zu erbauen; aber die Kapelle wurde jährlich vom Winde umgestürzt, wenn das Treibholz kam, und vom Berge weggeweht; – sie glaubten daher keinen Nutzen von dieser Gabe zu haben, und so verschwand sie. Der Vogel, der das dritte war, was der Riese versprochen hatte, war die »Súla«1; sie kam in grossen Schwärmen auf die Bergabsätze auf dem Holm und auf die Klippen auf ihm. Aber die súla will kein Mikinesmann tadeln oder verspotten, damit sie sie nicht verlieren sollen, denn sie ist eine gute Unterstützung für die, welche an der Brandung sitzen und selten zur Ausfahrt auf das Meer kommen. Wenn jemand von den Hauptinseln nach Mikines herauskommt und die Súla lästert, dass ein übler Geruch von ihren Federn ausgehe, oder anderes dergleichen, so verbessert das der Mikinesmann, der solches hört, und sagt: »Ein guter Vogel ist sie nichtsdestoweniger, und ein hochgeborener Vogel, der »træl« [Knecht] zu jedem Menschen sagt« (so lautet ihr Ruf). Aber die Súla setzt sich auf keiner anderen Insel als[17] in Mikinesholm auf des Land, ausser wenn sie sterben soll, und doch sieht man sie weit umher über den Fjorden zwischen den Inseln fliegen. Die Súla besucht den Holm zurzeit der Paulsmesse [Februar] und ist dann auf den Vogelbergen bis zur Martinsmesse [November], wo die Jungen ganz flügge sind; dann ist sie den ersten Teil des Winters fort.

1

deutsch »Bassangans«, »Tölpel«; vergl. die Anmerkungen am Schlusse der Übersetzung.

Quelle:
Jiriczek, Otto L.: Færöerische Märchen und Sagen. In: Zeitschrift für Volkskunde 2 (1892) 1-24, 142-165, Berlin: A. Asher & Co, S. 16-18.
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