[37] 11. Die Wunderdinge

Es lebte einmal ein Kaiser, der hatte einen Sohn, der sich um nichts Sorgen machte. Da befahl ihm der Vater, sich doch um etwas zu kümmern. Er schickte ihn in den Wald, um Wunderdinge zu holen. Der Kaisersohn nahm eine stumpfe Axt und ein Stück Brot, ging in den Wald und hackte krumme Bäume, solche, die krumm gewachsen waren. Die brachte er nach Hause und warf sie auf die Diele. Der Kaiser fragte ihn: »Nun, hast du Wunderdinge gefunden?« Und der Sohn antwortete: »Ei freilich, dort[37] stehen sie auf der Diele.« Da sprach der Kaiser: »Das sind keine Wunderdinge.« Er schalt ihn und sagte: »Nimm dir Brot und geh noch einmal fort.«

Da ging er wieder in den Wald, geriet in die Wildnis und verirrte sich. Er kam zum Meeresstrande an eine Badehütte und ging hinein, um die Nacht dort zu verbringen. Hier war niemand, und er legte sich schlafen. In der Nacht aber kam ein alter Mann in die Hütte, der bat um ein Lager, und der Kaisersohn ließ ihn ein. Der Alte hatte einen Rindenranzen auf dem Rücken, den nahm er ab und sprach:


»Speis uns, Ränzlein,

Tränk uns, Ränzlein,

Pack Teller und Schüsseln wieder ein!«


Und der Ranzen speiste und tränkte sie und räumte die leeren Teller und Schüsseln wieder fort. Der Kaisersohn lag auf der Bank und betrachtete sich den Ranzen von unten und von allen Seiten und dachte bei sich: ›Das ist mir ein Wunderding.‹ Als sich der Alte niedergelegt hatte und eingeschlafen war, stahl er ihm den Ranzen und ging damit fort.

Unterwegs begegnete ihm ein Mann, der fragte: »Wo kommst du her?« Er antwortete: »Ich habe ein Wunderding gesucht.« – »Gib mir das Wunderding, ich gebe dir dafür ein Schwert, das schlägt, wenn du es befiehlst, allen die Köpfe ab.« Da tauschte er dem Manne den Ranzen gegen das Schwert ein, denn er dachte: ›Wunderdinge sind beide, ein Wunderding war der Ranzen, und ein Wunderding ist das Schwert.‹ Dann befahl er dem Schwerte: »Schlag dem Manne dort, der meinen Ranzen genommen hat, den Kopf ab!« Und es ging hin und schlug dem Manne den Kopf ab. Dann nahm er Ranzen und Schwert und machte sich auf den Heimweg.

Da begegnete ihm wieder ein Mann, der fragte: »Wo kommst du her, Mann, und was trägst du da?« Der Kaisersohn sagte: »Ich habe Wunderdinge gesucht.« – »Gib mir den Ranzen«, bat der Wandersmann, »ich gebe dir eine Flöte dafür, auf der du dir alles herbeispielen kannst, was du wünschest. Und wenn du um noch soviel spielst, du bekommst es.« Er tauschte den[38] Ranzen gegen die Flöte ein, aber beim Weitergehen sagte er wieder zu dem Schwert: »Geh und schlag dem Manne den Kopf ab.« Und er nahm ihm den Ranzen weg. Da hatte er drei Wunderdinge: den Ranzen, das Schwert und die Flöte.

Er kam nach Hause, ging auf einen weiten, steinigen Acker, holte seine Flöte hervor und spielte darauf, daß ihm Gott hier einen großen Herrenhof geben möchte. Da stand ein großer Herrenhof da. Er spielte und wünschte sich Vieh. Auch das bekam er. Dann spielte er: Gott möchte ihm hier eine große Brücke bis vor des Kaisers Schloß bauen. Als die Brücke fertig war, wunderte sich der Kaiser, wer sie wohl ohne seine Erlaubnis gebaut haben möchte. Und er schickte Soldaten über die Brücke, die sollten nachforschen, wer sie gebaut habe. Die Soldaten marschierten hinüber, und wie der Kaisersohn sah, daß seines Vaters Soldaten zu ihm kamen, nahm er seine Flöte und spielte darauf, damit die Toten aus den Gräbern auferständen. Und sie wurden lebendig, standen alle auf und gingen bis an die Brücke. Die kaiserlichen Soldaten, die sie erblickten, konnten nicht begreifen, was das für Volk war. Sie erschraken, kehrten wieder um und sagten zum Kaiser: »Wir können nicht sagen, was das für Volk ist.« Da schalt der Kaiser und sprach: »Wenn ich euch schicke, müßt ihr über die Sache Aufklärung bringen.« Und der Kaiser schickte sein ganzes Heer über die Brücke. Das sah der Kaisersohn und erkannte es. »Da kommt meines Vaters Heer, um mich zu sehen.« Und er ging auf das Heer zu und sagte zu den Soldaten: »Ich bin der Kaisersohn, den sein Vater ausgeschickt hat, Wunderdinge zu suchen. Geht zurück und sagt meinem Vater, daß er kommen und meine Wunderdinge ansehen möchte.« Als nun der Kaiser kam, um die Wunderdinge seines jüngsten Sohnes zu betrachten, holte dieser seinen Ranzen herbei und sprach:


»Speis uns, Ränzlein,

Tränk uns, Ränzlein,

Pack Teller und Schüsseln wieder ein!«


Und er fragte seinen Vater: »Ist das ein Wunder?« Der Kaiser antwortete: »Ja, das ist ein Wunder.« Dann befahl er dem Schwert, allen außer dem Kaiser die Köpfe abzuschlagen. Wieder[39] fragte er: »Ist das ein Wunder?« Da schalt ihn der Kaiser: »Was tötest du meine Soldaten? Solche Wunder zu sehen, läßt du mich rufen?« Und er sprach: »Ich gehe nach Hause.« Da sagte der Kaisersohn: »Wart nur ein wenig, daß ich dir das dritte Wunder zeige!« Aber der Kaiser wollte nicht: »Ich danke für deine Wunder.« – »Wart, Vater, und wenn du noch so große Eile hast!« Er zeigte ihm das dritte Wunder, nahm die Flöte und spielte das ganze Volk, das sein Schwert totgeschlagen hatte, wieder lebendig, jedermann wurde wieder lebendig. Er spielte die Toten aus den Gräbern. Da war die Freude groß, als alle Soldaten wieder lebendig wurden, die er seinem Vater getötet hatte. Und er fragte seinen Vater: »Ist das ein Wunder?« – »Ja«, sagte der Vater, »das ist ein Wunder.«

Sie blieben beisammen, und ich ging meiner Wege.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 37-40.
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