[62] 17. Wie die Trauerbirke entstanden ist

Ein reicher Mann lauste seiner Tochter den Kopf und fand eine große Laus. Er setzte sie unter einen Topf und ließ sie wachsen. Und die Laus wuchs, bis sie so groß war wie eine Katze. Da tötete er sie, und aus der Haut machte er seiner Tochter Schuhe. Dann rief er alles Volk zusammen, damit sie rieten, aus was für einer Haut die Schuhe gemacht worden seien. Wer es erraten könne, der solle seine Tochter zur Braut haben. Da fanden sich viele ein, die gern des reichen Mannes Tochter zur Braut gehabt hätten.

Hinter dem Hause aber war ein See. Da kam ein Wasserweibchen herauf, das stieg durch den Rauchfang und verwandelte sich in einen alten Mann. Der kroch hinterm Ofen hervor und sprach: »Sie sind aus der Haut einer Laus.« Und ein flinker Bursch sprang auf und rief: »Ich hab's geraten, ich hab's zuerst gesagt.« Da kamen die Leute von der andern Seite auf ihn zu und hießen ihn schweigen. Und der Alte ging hin und wollte das Mädchen zur Frau haben. Aber ihr Vater sprach: »Dir gebe ich meine Tochter nicht, und wenn es sonst was gälte.« Und sie selbst sagte: »Dich alten Kerl nehme ich nicht«, und lief aus dem Haus. Da entführte sie das Wasserweibchen hinter dem Haus und nahm sie mit sich in den See. Dort hatte sie ein prächtiges Schloß auf einer schönen Insel und einen bunten Garten mit allerhand Beeren und allerlei Vögeln. Und sie hatte einen flinken Jungen, dem gab sie das Mägdlein zur Frau.

Sie lebte dort ein Jahr, das erschien ihr wie eine Woche, sie lebte ein zweites, ein drittes und bekam ein Kind. Sie lustwandelte mit dem Kinde und ihrem Manne in dem Garten, und sie aßen, was sie wollten. Aber eines Tages bekam sie doch Sehnsucht nach Hause. Es kam ihr in den Sinn, ihre Eltern einmal zu besuchen, und sie sagte zu ihrem Gatten: »Es wäre wohl Zeit, daß[62] ich einmal nach Hause ginge, ich habe jetzt Sehnsucht.« Da sagte der Mann: »Du kannst gehen, wann du willst, doch back erst gute Kuchen für die Deinen, nimm alle Beeren für Pasteten!« Und sie buk Pasteten und nahm einen Sack voll Gold für die Ihrigen zum Geschenk mit. Dann hob er seine Frau und ihren Knaben aufs Knie, und sowie er bloß einmal mit ihnen herumflog, waren sie dort am Ufer, von wo sie das Wasserweibchen geholt hatte. Und er beschied sein Weib und sagte: »Wenn du wieder nach Hause möchtest, so ruf am Ufer: ›Komm, komm, mein Geliebter, und hol mich!‹ Dann komme ich und hole dich.« Die junge Frau ging zu ihrem Vater, und ihr Mann kehrte mit dem Bübchen wieder heim. Am Ufer aber kam ihr viel Volks entgegen, denn sie meinten: »Wer kommt denn da in so feinen Kleidern?« Und sie gab den Leuten die Hand und schenkte ihnen von dem Golde. Dann kam sie nach Hause, aß und trank dort und erzählte dem Vater und den Brüdern, wie sie lebte. Sie erzählte und lobte: »Ich habe dort ein herrliches Leben. Da gibt es so schöne Gärten und Vögel und Beeren, daß einem keine Sehnsucht kommt. Bin ich doch heute nach drei Jahren zum erstenmal nach Hause gekommen.«

Da flüsterten ihre zwei Brüder im geheimen miteinander, und sie gingen in den Wald und schnitten sich Knüttel von Erlenholz, damit wollten sie den Schwager totschlagen. Aber das Mädchen fühlte Sehnsucht nach ihrem Manne und ihrem Kind, nach ihrem weichen Lager und allem andern. Es trieb sie heim mit aller Macht. Doch weder Vater noch Mutter wollten sie fortlassen. »Ich kann nicht mehr hierbleiben, ich leide solche Qual und Jammer hier.« Sie drängte und drängte, da half kein Verbot mehr. »Wenn du solche Sehnsucht hast, so geh, doch besuch uns bald wieder«, baten Vater und Mutter. Da ging sie zum Ufer, ihren Geliebten zu rufen, der mit dem Kind in Sehnsucht ihrer harrte. Und der Geliebte kam. Doch als er ans Ufer stieg, sprangen die Brüder aus dem Walde mit Erlenholzknütteln auf ihn ein und schlugen ihn, daß er tot liegenblieb. Die Schwester aber fing bitterlich an zu weinen: »Warum tatet ihr das?«

Da wurde sie zur Trauerbirke und der Knabe auf ihrem Arm[63] zum Ast an der Birke. Und die Blätter hingen an ihr wie die Locken am Kopf. So blieb sie in ihrer Trauer und kam nicht mehr zu ihrem Vater und den Brüdern. Sie blieb eine Trauerbirke.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 62-64.
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