[67] 19. Der Kantelespieler

Es war einmal ein Bursch, der hatte kein Schätzchen. Da kam Weihnacht. Die andern Burschen gingen alle zum Fest, aber er blieb zu Hause und saß allein. Da dachte er: ›Was kann ich jetzt wohl machen?‹ Er kaufte sich eine Kerze und nahm die Kantele zur Hand, ging in die Badestube, steckte sich die Kerze an und stellte sie auf den Ofen. Dann fing er an zu spielen.

Wie er eine Weile gespielt hatte, kam ein Mädchen zu ihm in die Badestube und begann zu tanzen. Dann kam sie auf den Burschen zu und gab ihm einen Kuß. Erst um Mitternacht verschwand sie. Den nächsten Abend ging der Bursche wieder in die Badestube und spielte dort. Das Mädchen kam wieder und tanzte und gab dem Burschen einen Kuß. Am dritten Abend lud der Bursche seine alte Pate ein. Und die Pate belehrte ihn: »Häng dir ein Kreuz um den Hals, über den Rock. Wenn das Mädchen wiederkommt und dir einen Kuß gibt, nimm das Kreuz ab und häng es ihr um den Hals.« Als nun das Mädchen kam, um ihn zu küssen, hängte er ihr das Kreuz um den Hals. Da murmelte sie etwas zum Fenster hinaus, und andere Mädchen gaben Antwort, aber der Bursche erschrak und fiel bewußtlos hin. Als er am Morgen aufwachte, sah er, daß das Mädchen bei ihm saß. Er ging nach Hause und das Mädchen hinter ihm her. Er redete sie an, aber sie konnte nicht sprechen. Da ließen sie den Pfarrer kommen, und der Pfarrer las ihr Gottes Wort vor. Da begann das Mädchen zu erzählen, woher sie komme, daß sie aus dem Schlosse und die Tochter des Grafen sei. Und sie bat den Burschen:[67] »Geh mit mir zu meinem Vater!« Dann machten sie sich zusammen auf mit einem Pferd und einem schlechten Wagen. Sie kamen jedoch nicht bis zum Schloß, der Wagen zerbrach, und das Pferd wurde müde. Da setzten sie ihren Weg zu Fuß fort, bis sie schließlich beim Schloß anlangten. Aber hier wurden sie nicht eingelassen. Da fragten sie: »Hat nicht der Graf ein hübsches kleines Kind?« – »Ja, das hat er«, antwortete man ihnen. »Nun, des Kindes wegen kommen wir her.« Da ließ man sie vor. Der Graf fragte: »Was wißt ihr denn von dem Kinde?« Und sie sagten: »Wir wissen nicht mehr, als daß es 21 Jahre alt ist, und es wächst nicht und stirbt nicht. Es ist aber gar nicht Euer Kind, denn ich bin Eure Tochter.« – »Du unser Kind?« sprach der Graf. »Wie kannst du denn unser Kind sein?« – »Seht«, sagte das Mädchen, »eine Hexe hat mich entführt und Euch dies Kind statt meiner in die Wiege gelegt. Ich bin jetzt 21 Jahre bei ihr.« Und das Mädchen fragte den Grafen: »Hattet Ihr nicht zu der Zeit einen Ball?« – »Ja, das hatte ich.« – »Wurde Euch damals nicht ein silberner Löffel gestohlen?« – »Ja«, sagte der Graf, »den stahlen sie.« – »Und was habt Ihr damals mit der Haushälterin gemacht?« – »Wir haben sie wegen des Diebstahls bestraft.« – »Nun, gabt Ihr nicht später noch einen Ball? Stahlen sie Euch da nicht einen silbernen Becher?« Der Graf antwortete: »Ja, das taten sie.« – »Die Haushälterin war nicht schlecht«, sagte das Mädchen, »wir waren es, wir haben Euch den Becher gestohlen! Jetzt seht Ihr doch, daß ich Eure Tochter bin, und diesen jungen Mann sollt Ihr mir zum Gatten geben.« Da fragte der Graf: »Wie kommst du denn zu dem armen Burschen?« Und das Mädchen erzählte: »Es war am Weihnachtsabend, der junge Bursche spielte in der Badestube die Kantele, wir kamen vorbei, und ich bat, ihm zusehen zu dürfen. Da schickten sie mich hinein, vor ihm zu tanzen, und befahlen mir, ihn zu küssen; wir wollten ihn zum besten haben. Aber er war gescheiter als wir, der Bursche. Zwei Abende nacheinander war ich dort. Am dritten Abend warf er mir ein Kreuz um den Hals, dann bin ich nicht mehr fortgegangen. Den folgenden Morgen lief ich ihm nach. Seht, so hat er mich erlöst.«[68]

Da erkannte der Graf das Mädchen als seine Tochter an. »Was sollen wir aber mit diesem Kind hier machen, das schon 21 Jahre bei uns ist?« fragte er. »Baut einen Scheiterhaufen und zündet ihn an, dann bringt mir das Kind!« Das Kind wurde ihr gebracht, und sie legte es auf eine Schippe und warf es in die brennenden Scheiter. Da schrien die Hexen aus dem Fenster: »Verbrenn unser Kind nicht in dem Scheiterhaufen!« Hoch loderten die Flammen auf, da platzte dem Kinde die Haut vom Leibe, und ein Erlenstumpf blieb auf der Feuerstätte.

Da ging das Mädchen hin zu dem Burschen und führte ihn an die Feuerstätte, und der Graf sagte zu ihm: »Geh und sieh nach deinem Hause!« Aber der junge Mann antwortete: »Ich habe keine Pferde, um hinzufahren.« Da kaufte ihm der Graf Pferde, kaufte einen Wagen und gab ihm einen Kutscher, und sie fuhren zu dem Hause, wo der junge Mann wohnte. Seine Hütte war sehr ärmlich, und der Graf sagte: »Nach einem Monat sollst du ein Haus aus Stein haben.« Sie bauten ihm ein Haus aus Stein, dahinein zog er mit seiner jungen Braut, und sie leben noch jetzt in dem steinernen Haus.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 67-69.
Lizenz:
Kategorien: