[72] 22. Der Sünder und der Königssohn

Ein Königssohn zog aus, um sich aus dem Nachbarreich eine Braut zu holen. Im eignen Reiche fand er keine, denn die Prinzessinnen gehörten alle derselben Familie an. Sein Vater gab ihm viel Geld mit. Er gab ihm Wagen und Chaisen und Kutscher und alles. Dann fuhr er an der finnischen Kirche vorüber, wo sie Gottesdienst hielten.[72]

In der Kirche aber war ein Sünder. Als nun das Volk aus der Kirche ging, stellten sie den Sünder vor die Kirchentür. Und wer aus der Kirche kam, mußte ihn anspeien, die ganze Volksmenge, dies war ihm als Strafe zuerteilt worden. Das konnte der Königssohn nicht mit ansehen, wie sie nach ihm spien, er war erzürnt über die harte Strafe, ging zum Pfarrer und sprach: »Was kann es kosten? Ich kaufe ihn frei!« Und er nahm den Mann von der Kirchtür weg und wollte für ihn bezahlen. Aber der Pfarrer sprach: »Den kannst du mit Geld nicht loskaufen!« – »Glaubst du nicht, daß ich Geld genug habe, ich, der Königssohn?« Da nahm ihm der Pfarrer alles ab, Geld, Wagen und Kutscher und alles. Er ließ ihn auf der nackten Landstraße stehn, und er mußte zu Fuß weiterziehen. Er wanderte den ganzen Tag, bis es Abend wurde. Da sah er einen Knaben am Wege sitzen, und er sagte zu ihm: »Guten Abend!« Der Knabe dankte ihm und bat: »Nimm mich mit, laß mich nicht allein auf der Landstraße!« Und er folgte ihm. Der Knabe war ein Betteljunge, aber auch der Königssohn war so arm, daß er nichts hatte, um Essen zu kaufen. Da kamen sie an ein Haus, und der Junge sprach: »Laß uns hier die Nacht bleiben!« – »Ich habe nichts, um zu bezahlen«, sagte der Königssohn. »Darum sorg dich nicht, dort geben sie uns schon zu essen«, und sie gingen in das Haus. Die ganze Nacht durch hatte sich der Königssohn Gedanken gemacht, wie sie von hier fortkommen sollten, wo er doch nichts hatte, um das Nachtlager und das Essen zu bezahlen. Und er sagte zu dem Betteljungen: »Mit was wollen wir jetzt bezahlen, wir haben ja beide kein Geld.« – »Wir haben freilich Geld. Geh in den Flur, dort steht auf dem Brett eine Schüssel, die bring hierher.« Die Schüssel aber war voll von Goldstücken. Nun, da bezahlten sie am Morgen in dem Hause das Abendessen und das Nachtlager und alles, dann machten sie sich auf die Reise. Sie wanderten bis gegen Mittag. Da fanden sie auf dem Weg einen Stock. Der Betteljunge sagte zum Königssohn: »Den Stock heb auf!« Als sie eine Weile gegangen waren, kamen sie an einen mächtig großen Stein. »Schlag mit dem Stock hier[73] dreimal auf den Stein!« sprach der Betteljunge. Und der Königssohn schlug mit dem Stock dreimal auf den Stein, da teilte sich der Stein, und es kamen Wagen und Pferde und Lakaien und Kutscher daraus hervor, wie sie der Königssohn früher gehabt hatte – und noch einmal soviel Geld. Da nahm er den Betteljungen zu sich in den Wagen und fuhr mit ihm in das fremde Königreich, um sich die Braut zu holen. Sie gelangten dahin, wo die Braut war, und er hielt bei dem fremden König um seine Tochter an. Der König aber sprach: »Ich habe meine Tochter schon drei Männern gegeben, aber alle drei starben sie, ein Kobold hat sie getötet.«

Da sagte der Betteljunge: »Fürchte dich nicht, lieber Königssohn, dir tun sie nichts. Ich gehe mit dir und deinem Mädchen drei Nächte in eine Kammer; wenn euch da nichts geschieht, so ist sie dein.« Und der Königssohn befahl, daß man dem Betteljungen während der Zeit, wo er in der Kammer war, gut zu essen und zu trinken geben sollte, denn er gehöre zu seinen Leuten. Als aber die dritte Nacht um war, kamen alle gesund aus der Kammer. Dann erst feierten sie Hochzeit.

Nachdem die Hochzeit vorüber war, zog der Königssohn mit seiner jungen Frau fort. Er nahm Abschied von dem Knaben und sagte: »Nimm dir zum Lohn, was du willst, weil du mein treuer Gefährte warst.« Da es ihm aber der Königssohn so aufrichtig und aus gutem Herzen anbot, verschwand der Knabe vor seinen Augen. Und als er verschwunden war, merkten sie erst, daß es Gottes Engel gewesen war.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 72-74.
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