[102] 35. »Lade und feuere!«

[102] Es war einmal ein Schäferjunge, der – obwohl er ein großer, langer Mensch war – keine tüchtige Arbeit verrichtete, er hütete bloß die Schafe. Er besaß keine Hose, nur ein grobes sackleinenes Hemd. Eines Sonntags kam er mit seinen Schafen an der Kirche vorbei und dachte: ›Ich will auch einmal in die Kirche gehen.‹ Darauf ging er hinein. Der Pfarrer verkündete eben von der Kanzel, daß die Königstochter verschwunden sei und daß derjenige, der sie zurückbrächte, sie zur Frau haben solle und dazu die Hälfte des Königreichs. Der Junge dachte: ›Wenn ich mich aufmache, sie zu suchen, werd ich sie wohl finden‹, und er ging auf der Stelle fort.

Er kam in einen tiefen, dunklen Wald. Dort erblickte er zwei mächtige Schlösser. In das schlechtere ging er hinein und fand bloß eine alte Magd, die fragte ihn: »Was bist du denn für ein Mann, daß du hierhergekommen bist?« Er antwortete, daß er ein Schäfer sei und ausgezogen, um die Königstochter zu suchen. Die Alte sagte: »Die ist hier, aber wie ist's möglich, sie fortzubekommen? Vielleicht, wenn ich dir helfe.« Sie gab ihm einen riesigen Beutel voll Geld und befahl ihm, denselben in den Wald zu bringen, und zwar an einen solchen Platz, wo er ihn am folgenden Tag wiederfinden könne. Der Junge brachte den Beutel hin und versteckte ihn zwischen den Wurzeln eines Wacholderbusches. Dann blieb er bei der alten Magd in dem Schlosse.

In dem Schlosse wohnten Räuber. Sie kamen am Abend nach Hause und fragten den Jungen, was für ein Mensch er sei. Die alte Magd hatte ihn aber vorbereitet, und er antwortete, daß er sich zu ihnen schlagen wolle, weil er im Räubern ein Mann sei. Da nahmen sie ihn freudig auf. Am nächsten Tag sagten sie zu ihm: »Wir wollen jetzt mit dir auf Raub ausziehn.« Aber der Junge antwortete: »Es wird mir besser allein gelingen, denn einen fürchten sie nicht so wie eine ganze Horde.« Da gingen die andern fort, um die Reisenden anzufallen, und der Schäferjunge ging seinen eignen Weg, und dieser führte zum Silberbeutel im Wacholderbusch. Als die andern am Abend nach Hause kamen,[103] wunderten sie sich sehr, daß er solch einen Beutel voll Gold auf einmal bekommen hatte. Da sagte er: »Morgen bringe ich noch mehr.«

Danach gab ihm die Magd einen schweren Beutel mit Goldstücken. Die andern brachten den Silberbeutel zum Räuberhauptmann und sagten: »Jetzt haben wir einen Mann, der solche Beutel raubt.« – Dann ging wieder der eine hierhin, der andere dorthin. Am Abend lag ein schwerer Beutel mit Goldstücken auf dem Tisch, und da freuten sich die andern. Sie brachten den Beutel dem Räuberhauptmann, um ihn zu zeigen. Der wunderte sich sehr und sagte, daß er den Mann auch gern sehen möchte.

Die Haushälterin aber meinte: »Wo ihr nun solch einen Mann bekommen habt, könnte da nicht einer von euch in die Stadt fahren und Branntwein holen, damit ihr euch vergnügt, da er doch so viel Geld gebracht hat und immer noch mehr zu bringen verspricht?«

Da spannten sie ein Pferd an und schickten den Schäferjungen im Hemde in die Stadt, um Rum und Bier zu holen. Aber die Magd gab ihm einen Zettel mit, für den er eine Flasche Schlaftrank bringen sollte. Er bekam alles, was er bringen sollte. Die Magd füllte die Becher, und in die Becher der Räuber goß sie tüchtig von dem Schlaftrank, nicht einmal die Hälfte voll Rum. Sie tranken und wurden betrunken, dann fielen sie in einen tiefen Schlaf, so daß sie sich nicht mehr vom Fleck rührten. Da sprach die Magd: »Nimm du jetzt ihr Schwert und schlage allen die Köpfe ab! Dann geh in das große Schloß!« Der Räuberhauptmann aber wohnte im großen Schloß. Der junge Mann tat, wie ihm gesagt war, und der Boden lag mit Toten bedeckt. Dann reinigte er sich sorgfältig von dem Blut und ging zum Räuberhauptmann, um ihn zu begrüßen.

Der Bösewicht nahm ihn freudig auf und dankte ihm für die Geldbeutel. An der Wand in der Kammer des Räubers hing ein riesiges Schwert, das der Junge nicht imstande war, auch nur zu bewegen. Er sagte: »Wenn ich so viel Kraft hätte, das Schwert zu schwingen, wieviel Geld könnte ich da bringen!« – »Wenn ich dir einen Trank gebe, so kannst du es«, antwortete ihm der Räuber,[104] und er gab ihm einen Zaubertrank. Da griff er nach dem Schwert und nahm es von der Wand herab, ließ es blitzen und blinken und sprach: »Jetzt werde ich aber Geld bringen!« und schlug dem Räuber den Kopf ab. Als der herunterfiel, wollte er sich wieder mit dem Rumpfe vereinen, aber der Junge stieß den Kopf auf die andere Seite der Türschwelle.

Die Königstochter saß unterdes mit Tränen in den Augen in derselben Kammer in einem eisernen Käfig. Als der alte Räuber tot war, sagte sie dem Jungen, wo die Schlüssel waren. Er öffnete den Käfig und befreite das Mädchen. Die alte Magd gab ihnen Reisegeld, und sie zogen von dannen.

Aus dem tiefen dunklen Wald kamen sie in eine Seestadt. »Wer weiß, wie es uns noch ergehen mag«, sagte die Königstochter, und sie nähte dem Jungen auf die Innenseite seines Hemdes, weil er weiter keine Kleider hatte, eine Tasche. Dann riß sie ihr seidenes Kopftuch entzwei und steckte die eine Hälfte in diese Tasche, einen Ohrring nahm sie ab, einen Ring von ihrem Finger, und die Ketten von ihrem Hals zerriß sie und steckte die Hälfte davon in die Tasche und nähte sie zu. Dann mieteten sie eine Kammer. Das Mädchen sagte: »Ich nähe jetzt eine Geldtasche, geh du hin und verkauf sie und verlang dafür fünfzig Taler.« Er ging und verkaufte sie und bekam fünfzig Taler. Dann kam er an einem Gasthof vorbei, wo viele Herren beim Spiele saßen. Er ging ebenfalls hinein und verspielte sein ganzes Geld. Dann kam er betrübt zurück. Die Königstochter fragte: »Warum bist du denn so traurig? Hast du keine fünfzig Taler bekommen?« – »Das habe ich wohl«, gab er zur Antwort, »aber ich habe mit den Herren gespielt und die Taler verloren.«

Da nähte das Mädchen dem Jungen eine Geldtasche, für die er hundert Taler bekommen mußte. Die sollte er an einen Seekapitän verkaufen. Er ging hin, und ein Kapitän kaufte sie ihm ab. Der Kapitän fragte: »Wer hat sie denn gemacht?« – »Meine Braut«, antwortete er. »Wo ist sie denn?« – »Sie wohnt hier in der Stadt in einer kleinen Kammer.« Da sagte der Kapitän: »Komm morgen hierher und bring deine Braut mit!«

Er ging heim. Es war Dämmerung, als er an einer Kirche vorbei kam.[105] Da stritten zwei Tote miteinander, und der eine hieb auf den andern ein und sprach: »Du schuldest mir noch hundert Taler!« Der Junge näherte sich ihnen, und der die Schulden hatte, sah ihn und sprach: »Gib du ihm die hundert Taler, ich finde sonst niemals Ruhe.« Da gab er sie ihm, und sie verschwanden auf der Stelle.

Dann ging er zur Königstochter und erzählte, was ihm begegnet war. Am folgenden Tage gingen sie auf das Schiff des Kapitäns. Das Schiff war zur Abfahrt bereit, und sie fuhren sofort auf die See hinaus. Der Kapitän führte sie in die Kajüten und gab dem Jungen ein Glas Branntwein, weil er ihn berauschen wollte. Der trank, und der Schnaps stieg ihm zu Kopf.

Unterdessen setzte der Kapitän ein Boot aus und sagte zu den Männern: »Gehe keiner von euch in das Boot und mache die Taljen fest, wie sehr ich es euch auch befehlen sollte!« Als der Junge auf das Deck hinaufkam, sagte der Kapitän grob: »Geht jetzt, Männer, und macht die Taljen fest!« Niemand ging. Da wurde der Kapitän zornig und sprach: »Bei dem ruhigen Wetter wagt sich keiner von euch ins Boot hinunter?« Der Junge erhob sich: »Ei, hat der Kapitän so schlechte Matrosen?« Er stieg ins Boot, aber als er die Taljen ergreifen wollte, machten sie das Tau vom Schiff los und ließen ihn dort am Platze. Der Kapitän aber segelte nach der Stadt, aus der die Königstochter verschwunden war.

Der Junge trieb auf dem weiten Meere, und er hatte keine Ruder und kein Steuer. Das Boot schaukelte wie eine Nußschale. Er war sehr traurig und schlief in seinem Boote ein.

Als er erwachte, befand sich sein Boot an der Seite eines riesig großen Schiffes. Da freute er sich und stieg auf das Schiff hinauf. Auf Deck war keine Menschenseele, aber das Schiff lief mit vollen Segeln. Er ging in die Kajüten, weil er dachte, daß die Mannschaft dort beim Essen sei. Aber auch da war niemand. Dort war der Tisch gedeckt, voll mit allen möglichen Gerichten. Er fing an zu essen. Da wurde vom Deck gerufen: »Herauf, wer da unten ist!« Als er hinaufkam, war niemand zu sehen. Er ging wieder zum Essen. Da wurde heftiger gerufen: »Herauf, wer da[106] unten ist!« Er ging hinauf und sah sich um, aber er konnte niemanden finden. Er ging zum drittenmal in die Kajüte, da wurde richtig gebrüllt: »Herauf, wer da unten ist!« Er ging hinauf und ging auf das Vorderschiff, da lag ein Mann lang ausgestreckt, zu dem sagte er: »Steh auf und komm zum Essen!« Aber der Mann antwortete: »Ich bin der Tote, für den du am Kirchhof die hundert Taler bezahlt hast. Ich helfe dir jetzt und schenke dir dieses Schiff. Es fährt zu der Stadt, wohin der Kapitän die Königstochter gebracht hat, und du kommst mit diesem Schiffe hin, bevor der Kapitän mit der Königstochter getraut wird. Wenn du in die Stadt kommst und der Anker herausfliegt und die Flaggen an den Masten in die Höhe gehen, so befiehl: ›Lade und feuere!‹ Wenn sie dann eine weiße Flagge auf dem Dach des Schlosses aufziehen, so sage: ›Halt!‹«

Er fuhr mit seinem Schiff davon und tat, wie ihm gesagt war. Dann flogen von dem Schiffe so schrecklich viel Kugeln in die Stadt, daß die Fenster klirrten. Da wurde eine weiße Fahne auf dem Dache des königlichen Schlosses sichtbar, und es kamen Boten vom König, um zu fragen: »Was denkt sich denn der Kapitän?« Sie luden den Kapitän zu einer Unterredung mit dem Könige ein. Die Königstochter aber war nach Hause gekommen, und die Hochzeit sollte gefeiert werden, und es war ein Lärmen und Treiben. Der Junge stieg an Land und ging nach dem Schlosse. Die Türwachen fragten ihn: »Was bist du denn für ein Kerl?« Er antwortete: »Ich bin der Kapitän jenes Schiffes, und der König hat mich zu sich befohlen.« – »Das muß ein größerer und feinerer Mann sein als so ein Schäferjunge«, antworteten die Wachen und ließen ihn nicht hinein.

Er ging zu seinem Schiff zurück und sprach: »Lade und feuere!« Da legte sich das Schiff auf die andere Seite und donnerte los, daß die Glasscheiben zitterten und der Bewurf von den Wänden flog. Danach zogen sie wieder eine weiße Flagge auf, und der König ließ fragen: »Woran liegt es denn, daß der Kapitän nicht kommt?« Er antwortete: »Wie kann ich denn kom men, wenn mich die Wachen ankläffen wie bissige Köter. Nehmt euch in acht, oder ich schieße die ganze Stadt zusammen.« Aber er ging trotzdem.[107] Den Torwachen war gesagt, daß sie ihn hineinlassen sollten, was für ein Hemdenmatz auch kommen werde. Und die Torwachen ließen ihn durch, die Türwachen aber nicht.

Der Junge ging zurück und sprach: »Lade und feuere!« Da fielen vom Schloß die Schornsteine herunter, und unzählige Fahnen wurden sichtbar. Der Junge brüllte: »Halt!« Es kam ein Boot und eine Menge Männer, die fragten ihn, woran es liege, daß er nicht komme. Er antwortete: »Das erstemal haben mich die Torwachen nicht hineingelassen und dann die Türwachen nicht.« Schließlich ging er doch. Im Schloß saßen sie beim Mahle, und nach dem Essen sollte die Trauung stattfinden. Der König begrüßte ihn und fragte, weshalb er nur so fürchterlich zu schießen angefangen habe! Da gaben sie ihm einen tüchtigen Schluck, um ihm die Zunge zu lösen. Der Tisch war gedeckt, und das junge Paar saß am Tisch, die Prinzessin zwischen Vater und ihrem Bräutigam.

Das Mädchen sah den Jungen, und es kamen ihr Tränen in die Augen, er aber lächelte ein wenig. Da dachte der König: ›Was ist das nur? Das Mädchen weint, der Junge lächelt, und der Kapitän ist so niedergedrückt.‹

Als das Essen vorüber war, ging die Königstochter in ihre Kammer, rief den König zu sich und sagte: »Dieser Junge hat mich aus den Händen der Räuber befreit, aus dem eisernen Käfig, und dasselbe Hemd hatte er schon damals.« Sie riefen den Jungen in die Kammer, und das Mädchen trennte die Tasche aus seinem Hemd, nahm das Stück Seide und die übrigen Gegenstände heraus und sagte zu ihrem Vater: »Sieh hier! Ist dies nicht dieselbe Seide? Hier ist der eine Ring, und dies ist der andere: sind sie nicht ein Paar?« Der Vater glaubte seiner Tochter, als sie ihm erzählte, wie der Kapitän gehandelt hatte, und er fragte den Jungen: »Was willst du nun, daß mit dem Kapitän geschehe?« Da sagte jener: »Ich will nichts weiter, als daß Ihr ihn – wie mir geschehen ist – in ein Boot ohne Ruder setzt, wenn das Wasser recht stürmisch ist.« Das taten sie. Und der Schäferjunge bekam die Königstochter.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 102-108.
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