[148] 51. Der alte Hahn

Es stand einmal ein Schloß, dessen Herr einen alten Hahn besaß. Weil dieser schon so sehr alt war, mochten die Schloßleute ihn nicht mehr füttern, und der Hahn mußte in der Umgegend betteln gehn, um sich sein Futter zusammenzusuchen. Aber als auch dieses nicht genug einbrachte, sein[148] Leben zu fristen, beschloß der arme Hahn, doch wieder nach Hause zurückzukehren. Unterwegs begegnete ihm ein Fuchs, der ihn fragte: »Wohin wanderst du, mein Hähnchen?« – »Ich gehe heim«, antwortete der Hahn; »beim Betteln kommt nichts heraus!« – »Nimm mich mit«, sagte der Fuchs. »Ich habe nicht die Kraft, dich zu tragen«, erwiderte der Hahn; »aber wenn du dich in einen Floh verwandelst und dich unter meinen Flügeln versteckst, will ich dich mitnehmen.« Der Fuchs verwandelte sich in einen Floh, und der Hahn steckte ihn unter seinen Flügel. Dann wanderte er weiter, wanderte ein Weilchen, da begegnete ihm ein Wolf und redete ihn an: »Wohin gehst du, mein Hähnchen?« – »Nach Hause«, antwortete der Hahn. Als der Wolf das hörte, wollte er ihn durchaus begleiten und sagte: »Nimm mich mit!« – »So verwandle dich in einen Floh und setze dich in die Federn an meiner Seite, dann will ich dich mitnehmen«, antwortete der Hahn. Der Wolf ward zum Floh, und der Hahn steckte ihn ins Seitengefieder.

Darauf, als er eine Strecke Weges weitergewandert war, begegnete ihm ein Bär und verlangte ebenfalls, von ihm mitgenommen zu werden. Der Hahn bedeutete auch ihm, sich in einen Floh zu verwandeln, und als der Bär das getan, steckte er ihn ins Schenkelgefieder.

So wanderte er eine Zeitlang dahin und kam denn auch endlich in sein altes Heim, stellte sich auf den Schloßhof hin und fing an zu krähen:


»Kikeriki, kikeriki!

Der Hahn hat einen goldnen Helm!

Der Herr ist nur ein armer Schelm,

hat seinen Hahn verjagt!«


Darüber geriet der Schloßherr in einen gewaltigen Zorn und befahl seinem Knecht, den Hahn zu töten. Dem Knecht tat es leid um den Hahn, der so schön krähen konnte; er weigerte sich, die Arbeit zu tun, weil sie ihm so zuwider war. »Nun, so magst du den Hahn in den Stall zu den wilden Hengsten sperren, die werden ihn bald zu Tode stampfen«, meinte der Herr. Der Hahn[149] wurde denn auch in den Stall gebracht. Aber er kam dort zu keinem Schaden; denn als die Hengste anfingen auszuschlagen, sagte der Hahn nur: »Komm unter meinem Schenkel hervor, lieber Bär, friß, soviel du vermagst, und töte das übrige!« Da erschien auch sofort der Bär, der als Floh am Schenkel des Hahnes gesessen, fraß so viele von des Herrn Zuchthengsten, als er nur konnte, und tötete und zerfleischte die übrigen. Am folgenden Tage kam man, um nach dem Hahn zu sehen; der König selbst kam in den Stall, um sich zu überzeugen, daß die Hengste den Hahn zerstampft hatten; aber dieser war noch am Leben und krähte wie früher:


»Kikeriki, kikeriki!

Der Hahn hat einen goldnen Helm!

Der Herr ist nur ein armer Schelm,

hat seinen Hahn verjagt!«


Im Schlosse waren zwölf böse, starke Stiere, und der König befahl seinem Knecht: »Hetzt die Stiere auf den Hahn, daß sie ihn stoßen; wer weiß, ob er nicht getötet wird und das unverschämte Gekrähe ein Ende nimmt.«

Gut, man ließ die Stiere los. Aber als sie den Hahn stoßen wollten, griff dieser nach dem Floh unter seinem Flügel; der Floh ward wieder zum Wolf und fraß und erwürgte die Stiere alle, wonach der Hahn wie früher zu singen anfing:


»Kikeriki, kikeriki!

Der Hahn hat einen goldnen Helm!

Der Herr ist nur ein armer Schelm,

hat seinen Hahn verjagt!«


Das hörte der König und sagte im Zorn zu seinen Knechten: »Wir haben ja noch zwölf Böcke; tragt den Hahn zur Nacht in ihren Stall; laß sehen, ob er nicht endlich aufhört, sein Kikeriki zu singen!«

Gesagt, getan: Man bringt den Hahn dorthin und sperrt ihn zu den Böcken. Diese gehen gleich auf ihn los, um ihn zu stoßen; aber der Hahn wußte Rat: er ließ den dritten Floh aus seinem[150] Gefieder, der verwandelte sich in den Fuchs und zerriß und erwürgte die Böcke ganz jämmerlich und fraß davon, soviel er vermochte und fertigkriegen konnte.

Am Morgen kam man nachzusehen, wie es dem Hahn ergangen war. Da fand man ihn noch immer am Leben; und kaum wurde die Tür geöffnet, als auch der Fuchs hinausschlüpfte und seiner Wege lief; wer weiß, wohin er gelaufen sein mag. Als der König von all diesem Kunde erhielt, ward er furchtbar zornig und sagte: »Dieses absonderliche Tier muß ich doch umbringen, geschehe es, wie es wolle!« Mit diesem Entschluß ging er in den Viehstall, um den Hahn mit eigenen Händen zu töten. Bald fing er ihn ein und drehte ihm den Hals um, aber noch im Sterben sagte ihm der Hahn: »Du wirst mich nicht los, selbst wenn ich tot bin. Noch einmal wirst du meine Stimme hören; aber dann ist auch dein eigenes Ende nahe.« Als der Schloßherr das hörte, dachte er in seinem Sinn: ›Ich muß diesen absonderlichen Unruhstifter aufessen; dann wird er doch von seinem Geschrei lassen.‹ Deshalb ließ er ein Gastmahl herrichten, wozu alle die benachbarten Herren und viele andere eingeladen wurden, und der Hahn ward als Braten zubereitet.

Nun, die Gäste waren alle beisammen, man setzte sich an den Tisch und fing an zu essen. Da nahm der Schloßherr den gebratenen Hahn in die Hand, schnitt sich ein Stückchen davon ab und tat es in den Mund, indem er sagte: »Du hast dir vieles in deinem Leben zugute kommen lassen, aber dein Kikeriki wirst du nicht mehr rufen!«

Kaum hatte der Herr dieses gesagt, als der Hahn plötzlich seinen Kopf aus des Redenden Munde steckte und wie ehedem krähte:


»Kikeriki, kikeriki!

Der Hahn hat einen goldnen Helm!

Der Herr ist nur ein armer Schelm,

hat seinen Hahn verjagt!«


Als die Gesellschaft aus dem Munde des Schloßherrn diese sonderbare Stimme hörte, gerieten alle in die größte Bestürzung und ließen das Gastmahl stehen. Endlich, als sich der Herr von[151] seinem Schrecken erholt, rief er seinen Dienern zu: »Ergreift ein Beil, und wenn der Hahn wieder in meinem Mund erscheint, so spaltet ihm den Kopf!«

Die Diener taten, wie ihnen befohlen war, und sowie der Hahn wieder den Kopf zum Munde des Herrn heraussteckte, hieben sie mit dem Beil auf den Hahn ein; der aber zog schnell den Kopf zurück, und das Beil zerschmetterte das Haupt des Schloßherrn, welcher tot hinsank, wie es der Hahn vorausgesagt hatte. So lang ist's.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 148-152.
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