[23] 7. Die sieben Brüder

Es war einmal ein armer Mann, der hatte sieben Söhne. Da dachte der Alte: ›Was sollen wir mit den Jungen anfangen, wo wir selbst so schrecklich arm sind, daß wir das Brot im Dorfe borgen müssen, das bloß für einmal reicht?‹ Und seine Frau riet ihm: »Nimm die Jungen mit in den Wald, und dann sieh zu, daß du sie dort verlierst!« Da führte sie der Vater in den Wald und sprach zu ihnen: »Jungen, ihr fällt hier Holz, indes ich hingehe und besseren Baumstand suche.« Und er ging fort. Die Burschen fällten Bäume, fällten und fällten, und einer nach dem andern wurde müde, denn[23] schon kam der Abend. Immer noch warteten sie auf den Vater, aber er kam nicht wieder. Schon wurde es dunkel, da sagte der klügste von den Brüdern zu den andern: »Kommt, Brüder, laßt uns nach Hause gehen! Der Vater ist uns fortgelaufen.« Da machten sie sich auf und gingen quer durch den großen Wald. Sie gingen und gingen und gingen, da sahen sie ein kleines Licht und kamen an ein Häuschen. Der klügste Bruder guckte zum Fenster hinein und fragte: »Ist hier ein Nachtlager zu haben?« Da antwortete drinnen eine Stimme: »Wir haben nur Platz für einen auf die Nacht.« Aber allein wollte er nicht hineingehen und die andern Brüder draußen lassen, und so gingen sie zusammen weiter.

Als sie ein recht tüchtiges Stück Wegs gegangen waren, kamen sie an ein altes Haus. Der kluge Bruder trat in die Tür und fragte, ob er ein Nachtlager bekommen könne. Da antworteten sie ihm: »Unsere Hütte ist zwar klein, aber zwei Männer finden zur Nacht noch Platz darin.« Doch er konnte es nicht über sich gewinnen, die andern zu verlassen. »Wie können wir denn zu zweien unter Dach kriechen und die andern über Nacht draußen lassen?« Sie gingen und gingen, und wieder kamen sie an ein Haus. So kamen sie an sechs Häusern vorbei, aber in keinem war für alle Brüder Platz.

Doch als sie zum siebenten Häuschen kamen, wurden sie alle eingelassen. Man legte die sieben Brüder mit den sieben Töchtern des Bösen in eine Stube zusammen zum Schlafen. Die Mädchen aber hatten alle rote Mützen auf dem Kopf, und die sieben Brüder waren barhäuptig. Als sie sich zum Schlaf niedergelegt hatten, sprachen die Wirtsleute miteinander: »Ehe es Tag wird, schneiden wir den Barhäuptigen die Köpfe ab.« Das hörte der kluge Bruder, denn er schlief noch nicht. Er stand auf, nahm den Mädchen die Mützen vom Kopf und setzte sie seinen Brüdern und sich auf. Die ganze Teufelsfamilie aber schlief noch, als er mit seinen Brüdern das Haus verließ.

Als nun der Böse aufstand und die bloßen Köpfe der Schläfer sah, nahm er sein Schwert und schlug allen die Köpfe ab. Doch wie er genauer hinsah, erkannte er die eigenen Töchter. Da zog[24] er die Siebenmeilenstiefel an und jagte den Brüdern nach. Aber als er sie fast erreicht hatte, ließ ihm Gott einen großen Wald entgegenwachsen, daß er die Kinder Gottes nicht fangen konnte. Und der Teufel sah, daß er nicht hindurchkam, und sprach: »Von der Mutter hab ich daheim noch meines alten Vaters Axt, ich lauf und hol sie mir und hacke den Wald nieder. Dann halt ich die Knaben am Rock fest.« Er ging hin, holte sich die Axt und fällte den Wald. Aber als er die Axt auf die Erde legen wollte, sprach ein Vogel vom Ast eines Baumes: »Laß die Axt nicht am Boden liegen! Sonst nehm ich sie dir, sonst nehm ich sie dir, sonst nehm ich sie dir.« Da wagte der Teufel nicht, die Axt auf den Boden zu legen, sondern ging fort und brachte sie heim.

Unterdessen bekamen die Brüder einen weiten Vorsprung. Sie liefen und liefen, was sie nur konnten. Da lag am Wege ein gespaltener Felsblock, worin alle sieben Brüder Platz hatten, und der kluge Bruder sprach: »Ihr sechs kriecht unten hinein, und ich bleibe oben stehen.« Da kam der Teufel in seinen Siebenmeilenstiefeln, das Schwert im Gürtel, auf sie los. Aber der kluge Bruder schlich sich leise von hinten an ihn heran, stahl ihm das Schwert aus dem Gürtel und schlug ihm den Kopf damit ab. So rettete er sich und die Brüder. Dann zog er dem Teufel die Siebenmeilenstiefel aus und zog sie selber an.

Als sie sich nun auf den Heimweg machten, holte er mit jedem Schritt sieben Meilen aus, und die andern blieben alle weit hinter ihm zurück. Sie jammerten und schrien: »Wart, Bruder, wart, Bruder, du läßt uns ja im Stich!« Als er zum zweitenmal ausschritt, blieben die andern wieder sieben Meilen zurück und jammerten und schrien wieder: »Du läufst uns ja davon!« Da wartete er wieder, bis sie ihn eingeholt hatten. Beim drittenmal wurde es schon Abend, und er kam unter das eigene Fenster und wartete unter dem Fenster auf die Brüder.

In der Stube aßen Vater und Mutter ihr Abendbrot, und es kam der Mutter in den Sinn: »Wo mögen wohl jetzt meine Jungen zu Abend essen?« Da trat er in die Stube und sprach: »Das war recht von dir, Mutter, daß du uns in den Wald geschickt hast, Hungers zu sterben; wir sind aber mit dem Leben davongekommen.«[25] Sie kamen alle nach Haus, und die Geschichte ist aus.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Finnische und estnische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1922, S. 23-26.
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