26. Der gestiefelte Kater

[241] Ein Müller hinterließ den drei Söhnen, die er hatte, als ganzes Erbteil nur eine Mühle, seinen Esel und einen Kater. Die Teilung war bald vollzogen, weder der Notar noch der Sachwalter brauchten in Tätigkeit zu treten. Sie hätten übrigens auch bald das armselige Erbe aufgezehrt. Der Älteste bekam die Mühle, der zweite den Esel und dem Jüngsten blieb nur der Kater. Dieser letztere konnte sich gar nicht trösten über seinen kläglichen Anteil. »Meine Brüder«, sagte er, »werden sich ihr Brot ehrlich verdienen können, wenn sie zusammenhalten, ich aber, wenn ich meinen Kater verspeist und mir aus seinem Pelz einen Pulswärmer gemacht haben werde, ich werde Hungers sterben müssen.« Der Kater, der diese Worte verstand, es aber nicht merken ließ, sagte zu ihm mit ernster und gesetzter Miene: »Bekümmert Euch nicht, Herr, Ihr braucht mir nur einen Sack zu geben und mir ein paar Stiefel machen zu lassen, mit denen ich durch das Gestrüpp laufen kann, und ihr werdet sehen, daß Euer Anteil gar nicht so kläglich ist wie Ihr glaubt.« Obwohl der Gebieter des Katers nicht gerade viel darauf gab, so hatte er doch schon oft seine Geschicklichkeit beim Fang der Ratten und Mäuse bewundert (wie zum Exempel, wenn er sich an den Füßen aufhängte oder sich in der Mehltonne liegend tot stellte), daß er nicht alle Hoffnung aufgab, von ihm in seiner Not Beistand zu erhalten. Als der Kater das bekommen hatte, um was er gebeten, zog er herzhaft seine Stiefel an, warf sich den Sack um den Hals, dessen[241] Schnüre er mit den Vorderpfoten festhielt, und begab sich nach dem Karnickelberg, wo es eine Unmenge Kaninchen gab. Er tat Kleie und Schlingen in seinen Sack, und indes er sich hinstreckte, als ob er tot wäre, wartete er, bis irgendein junges, in den Ränken dieser Welt noch wenig erfahrenes Kaninchen in den Sack schlüpfen würde, um das zu fressen, was er hineingetan hatte. Kaum hatte er sich niedergelegt, so sah er seinen Wunsch schon erfüllt: ein junger Leichtfuß von Kaninchen kroch in den Sack, und Meister Hinz zog geschwind die Schnüre zu, packte es und tötete es ohne Erbarmen. Ganz stolz auf seine Beute ging er zum König und verlangte, ihn zu sprechen. Man gewährte ihm Eintritt in das Gemach Sr. Majestät, wo er beim Eintritt dem Könige einen tiefen Bückling machte. Darauf sprach er zum König: »Seht hier, allergnädigster Herr, ein Kaninchen vom Karnickelberg, welches der Herr Marquis von Carabas (das war der Name, welchen er seinem Herrn beizulegen für gut fand) mir geheißen hat, Euch in seinem Auftrag zu überreichen.« »Sage deinem Herrn,« erwiderte der König, »daß ich ihm danke und daß er mir eine Freude gemacht hat!« Ein andermal versteckte er sich in einem Kornfeld, immer seinen Sack offen haltend, und als zwei Rebhühner hineingeschlüpft waren, zog er wieder die Schnüre zu und fing sie alle beide. Dann überreichte er sie wieder dem Könige, wie er es mit dem Kaninchen vom Karnickelberg gemacht hatte. Der König nahm die beiden Rebhühner mit Vergnügen entgegen und ließ ihm ein gutes Trinkgeld verabreichen. Der Kater brachte nun zwei bis drei Monate lang von Zeit zu Zeit dem Könige Wildbret von der Jagd seines Herrn.

Eines Tages hatte er erfahren, daß der König mit seiner Tochter am Flußufer entlang eine Spazierfahrt machen wollte, und er sagte zu seinem Herrn: »Wenn Ihr meinem Rat folgen wollt, so ist Euer Glück gemacht. Ihr braucht nur an einer Stelle im Fluß, die ich Euch zeigen werde, zu baden; das übrige überlaßt mir!« Der Marquis von Carabas tat, wie sein Kater ihm geraten hatte, ohne zu wissen, wozu dies[242] gut wäre. Während er badete, fuhr der König vorüber, und der Kater begann aus Leibeskräften zu schreien: »Zu Hilfe! Zu Hilfe! Der Marquis von Carabas ertrinkt!« Auf dieses Geschrei hin steckte der König seinen Kopf aus dem Kutschenschlag und erkannte den Kater, der ihm so oft Wildbret gebracht hatte. Er befahl seiner Leibwache, dem Marquis von Carabas unverzüglich zu Hilfe zu eilen. Unterdes man den armen Marquis aus dem Wasser zog, trat der Kater zur Kutsche und berichtete dem Könige, während sein Herr gebadet habe, seien Diebe gekommen und hätten die Kleider desselben mitgenommen, obwohl er aus Leibeskräften: Diebe! geschrien hätte (der Spitzbube hatte sie unter einem großen Stein versteckt). Der König befahl auf der Stelle seinen Kammerdienern, eines seiner prächtigsten Gewänder für den Herrn Marquis von Carabas zu holen. Der König erwies ihm tausend Aufmerksamkeiten, und da die schönen Kleidungsstücke, die man ihm gerade angelegt hatte, sein stattliches Aussehen ungemein hoben (denn er war hübsch und wohlgestaltet), so fand ihn die Königstochter sehr nach ihrem Geschmack, und der Marquis von Carabas hatte ihr noch keine zwei bis drei sehr ehrerbietige und ein wenig zärtliche Blicke zugeworfen, als sie sich schon bis zum Wahnsinn in ihn verliebte. Der König wünschte, daß er zu ihm in die Kutsche steige und an der Spazierfahrt teilnähme. Der Kater sah mit Entzücken, daß sein Plan von Anfang an so gut gelang und lief geschwind voraus. Unterwegs traf er Bauern, welche eine Wiese mähten, und sprach zu ihnen: »Ihr guten Leute, die ihr da mäht, wenn ihr dem Könige nicht sagt, daß die Wiese, die ihr mäht, dem Herrn Marquis von Carabas gehört, so werdet ihr alle kurz und klein gehackt wie Pastetenfleisch.« Der König verfehlte nicht, die Mäher zu fragen, wem die Wiese gehörte, die sie mähten. »Dem Herrn Marquis von Carabas!« sagten alle wie mit einem Munde, denn die Drohung des Katers hatte ihnen Furcht eingejagt. »Ihr habt da ein schönes Erbe!« sagte der König zum Marquis von Carabas. »Ihr seht, allergnädigster Herr,« erwiderte der[243] Marquis, »es ist eine Wiese, die alle Jahre einen reichlichen Ertrag gibt.« Meister Hinz, der immer vorauslief, traf auf Schnitter und sprach zu ihnen: »Ihr guten Leute, die ihr da Korn schneidet, wenn ihr dem Könige nicht sagt, daß die Felder alle dem Herrn Marquis von Carabas gehören, so werdet ihr kurz und klein gehackt wie Pastetenfleisch.« Der König, der einen Augenblick später vorüberfuhr, wollte wissen, wem all die Kornfelder, die er erblickte, gehörten: »Dem Herrn Marquis von Carabas!« erwiderten die Schnitter, und der König freute sich wieder mit dem Marquis daran. Der Kater lief weiter vor der Kutsche her und sagte allen denen, die er traf, immer das gleiche; und der König war erstaunt über die großen Besitzungen des Herrn Marquis von Carabas. Meister Hinz gelangte schließlich in ein schönes Schloß, dessen Besitzer ein Menschenfresser war, der reichste, den man jemals gesehen hatte, denn alle Ländereien, an denen der König vorübergefahren war, gehörten zu seinem Schloß. Der Kater, der sich zuvor fürsorglich erkundigt hatte, wer dieser Menschenfresser wäre, und welche Künste er verstände, verlangte, mit ihm zu reden, indem er sagte, er habe nicht so nahe am Schlosse vorübergehen wollen, ohne sich die Ehre zu geben, ihm seine Aufwartung zu machen. Der Menschenfresser empfing ihn so höflich, wie ein Menschenfresser nur irgend kann, und bat ihn, Platz zu nehmen. »Man hat mich versichert,« sagte der Kater, »daß Ihr die Gabe besitzt, Euch in jedes beliebige Tier zu verwandeln, daß Ihr zum Beispiel die Gestalt eines Löwen oder eines Elefanten annehmen könnt.« »Das ist wahr,« entgegnete der Menschenfresser barsch, »und um es Euch zu beweisen, sollt Ihr gleich sehen, wie ich zu einem Löwen werde.« Der Kater war so erschrocken, einen Löwen vor sich zu sehen, daß er unverzüglich an der Dachrinne heraufkletterte, nicht ohne Mühe und Gefahr, denn seine Stiefel taugten nicht zum Marschieren auf den Ziegeln. Als der Kater einige Zeit darauf gesehen hatte, daß der Menschenfresser seine vorherige Gestalt wieder abgelegt hatte, kam er wieder herunter und[244] gestand, daß er in großer Angst gewesen sei. »Man hat mich weiterhin versichert,« sagte der Kater, »– aber ich könnte es niemals für möglich halten –, daß Ihr auch die Fähigkeit hättet, die Gestalt der kleinsten Tiere anzunehmen, zum Beispiel Euch in eine Ratte oder in eine Maus zu verwandeln; ich gestehe Euch, daß ich das für gänzlich unmöglich halte.« »Unmöglich?« entgegnete der Menschenfresser, »Ihr sollt es gleich sehen.« Und in demselben Augenblick verwandelte er sich in eine Maus, welche auf dem Fußboden umherzulaufen begann. Kaum hatte sie der Kater bemerkt, so stürzte er sich auch schon darauf und fraß sie auf. Unterdessen hatte der König im Vorbeifahren das schöne Schloß des Menschenfressers gesehen und wollte sich hineinbegeben. Der Kater hörte die Kutsche über die Zugbrücke rasseln, lief hinaus und sprach zum König: »Eure Majestät sind hochwillkommen in diesem Schlosse des Herrn Marquis von Carabas!« »Wie, Herr Marquis!« rief der König aus, »auch dies Schloß gehört Euch? Es kann nichts Schöneres geben als diesen Hof und all die Gebäude, welche ihn umgeben; laßt uns nun gefälligst die inneren Räume in Augenschein nehmen!« Der Marquis reichte der jungen Prinzessin den Arm und folgte dem König, der voranschritt. Sie betraten einen großen Saal, in welchem sie ein treffliches Mahl vorfanden, das der Menschenfresser für seine Freunde hatte herrichten lassen, die ihn am gleichen Tage hätten besuchen wollen, aber sich nicht hereingetraut hatten, weil sie von der Ankunft des Königs erfuhren. Der König war entzückt von den guten Eigenschaften des Herrn Marquis von Carabas, ebenso wie seine Tochter, die ganz vernarrt in ihn war; und da er die großen Besitzungen sah, die ihm gehörten, sagte er, nachdem er fünf bis sechs Schluck getrunken hatte: »Es hängt nur von Euch ab, Herr Marquis, ob Ihr mein Schwiegersohn werdet.« Der Marquis machte einen tiefen Bückling und nahm die Ehre an, die ihm der König erwies; und noch am nämlichen Tage vermählte er sich mit der Prinzessin. Der Kater ward ein großer Herr und lief nur mehr Vergnügens halber den Mäusen nach.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Französische Volksmärchen. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs, 1923, S. 241-245.
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