27. Aschelbrödel oder das kleine Glaspantöffelchen

[245] Es war einmal ein Edelmann, der nahm in zweiter Ehe eine Frau, die hochmütigste und stolzeste, die man je gesehen hat. Sie hatte zwei Töchter ganz nach ihrer Art, die ihr in jeder Beziehung glichen. Der Mann hatte eine Tochter aus erster Ehe, aber von einer Sanftmut und Güte ohnegleichen: das hatte sie von ihrer Mutter, welche die beste Frau von der Welt gewesen war. Kaum war die Hochzeit vorüber, so ließ die Stiefmutter ihre böse Laune losbrechen. Die guten Eigenschaften des Kindes waren ihr zuwider, weil sie ihre eigenen Töchter nur noch verabscheuungswürdiger erscheinen ließen. Sie lud ihr die niedrigsten Verrichtungen im Hause auf: sie mußte das Geschirr putzen und die Stiegen und das Zimmer der Gnädigen scheuern sowie jenes ihrer Fräulein Töchter; sie schlief ganz oben auf dem Speicher auf einem elenden Strohsack, während ihre Schwestern in Gemächern mit Parkettböden ruhten, wo sie Betten von der neuesten Mode hatten, und Spiegel, in denen sie sich vom Kopf bis zum Fuße betrachten konnten. Das arme Mädchen ertrug alles geduldig und wagte nicht, sich bei ihrem Vater darüber zu beklagen, der sie doch nur gescholten haben würde, weil seine Frau ihn gänzlich beherrschte. Wenn sie ihre Arbeit verrichtet hatte, so pflegte sie sich in der Asche am Ofen niederzulassen, daher nannte man sie im Hause gemeinhein Aschenhocker1; die jüngere Schwester, welche nicht ganz so feindselig war wie die ältere, nannte sie Aschenbrödel2; indes war Aschenbrödel mit seinen armseligen Kleidern hundertmal schöner als seine Schwestern, wenn sie auch noch so kostbar ausstaffiert waren.

Es ereignete sich nun, daß der Königssohn ein Ballfest gab, zu welchem er alle Leute von Stand einlud; unsere beiden Fräulein waren gleichfalls gebeten, denn sie spielten eine große Rolle im Lande. Da sah man sie nun in bester Laune damit beschäftigt, ihre Kleider und ihren Kopfputz auszusuchen,[246] der ihnen am besten anstände; neue Plage für Aschenbrödel, denn sie mußte das Leinenzeug ihrer Schwestern bügeln und ihre Manschetten fälteln; es wurde nur mehr davon geredet, wie sie sich anziehen wollten. »Ich,« sagte die ältere, »ich werde mein rotes Sammetkleid mit dem englischen Spitzenausputz anlegen.« »Ich,« sagte die jüngere, »ich habe nur meinen gewöhnlichen Rock, aber dafür ziehe ich den Mantel mit den goldenen Blumen an und meine Diamantspange, die nicht zu den unscheinbarsten gehört.« Man ließ die beste Haarkräuslerin kommen, um die Haarpuffen in Doppelreihen aufzustecken und kaufte Schönheitspflästerchen bei der ersten Künstlerin; dann riefen sie Aschenbrödel herbei, um ihren Rat zu erholen, denn sie hatte einen guten Geschmack. Aschenbrödel gab ihnen die besten Ratschläge von der Welt und erbot sich sogar, ihnen das Haar zu richten, was sie sich gern gefallen ließen. Während Aschenbrödel sie frisierte, sagten sie zu ihr: »Aschenbrödel, hättest du nicht auch Lust, auf den Ball zu gehen?« »Ach, liebe Fräulein, ihr spottet! Da gehöre ich nicht hin!« »Da hast du recht, man würde hübsch lachen, wenn man einen Aschenhocker auf den Ball gehen sähe.« Jede andere als Aschenbrödel hätte ihnen das Haar verkehrt gemacht, aber sie war sanftmütig und frisierte sie tadellos. Fast zwei Tage lang blieben sie ohne Nahrung, so außer sich waren sie vor Freude, man zerriß über ein Dutzend Schnürbänder, so fest schnürte man sie, um ihnen schlankere Hüften zu geben, und sie gingen nicht von ihrem Spiegel fort. Endlich kam der Glückstag, sie fuhren davon, und Aschenbrödel verfolgte sie mit den Augen, solange sie konnte; als sie nichts mehr von ihnen sah, begann sie zu weinen. Ihre Patin sah sie so in Tränen aufgelöst und fragte sie, was sie habe. »Ich möchte gern ... ich möchte gern ...!« sie weinte so heftig, daß sie ihren Satz nicht vollenden konnte. Ihre Patin, die eine Fee war, sagte zu ihr: »Du möchtest gern auf den Ball gehen, nicht wahr?« »Ach, ja,« erwiderte Aschenbrödel seufzend. »Nun gut, willst du ein braves Mädchen sein,« sagte die Patin, »so will ich dich hinbringen.« Sie[247] führte Aschenbrödel in ihre Kammer und sprach zu ihr: »Geh in den Garten und hole mir einen Kürbis!« Aschenbrödel ging sogleich hin und brachte den schönsten, den sie finden konnte, ihrer Patin; freilich konnte sie sich nicht denken, wie dieser Kürbis es ihr ermöglichen sollte, auf den Ball zu gehen. Ihre Patin höhlte ihn aus, und als nur noch die Schale daran war, schlug sie mit ihrem Zauberstäbchen auf den Kürbis, und im Nu ward dieser in eine schöne, über und über vergoldete Kutsche verwandelt. Dann schaute sie in ihre Mausfalle, worin sie sechs noch lebendige Mäuse vorfand; sie hieß Aschenbrödel die Klappe der Mausefalle ein wenig heben, und einer jeden Maus, die hinausschlüpfte, gab sie einen Schlag mit ihrem Stäbchen, und im Handumdrehen war jede Maus in ein schönes Pferd verwandelt, das gab ein prächtiges Sechsergespann, gezogen von mausgrauen Apfelschimmeln. Da sie in Sorge war, aus was sie einen Kutscher machen sollte, sagte Aschenbrödel: »Ich will nachschauen, ob keine Ratte in der Rattenfalle ist, daraus könnten wir einen Kutscher machen.« »Du hast recht,« sagte die Patin, »geh und schau!« Aschenbrödel brachte ihr die Rattenfalle her, in welcher drei fette Ratten waren. Die Fee wählte die mit dem dichtesten Bartwuchs unter den dreien aus und, nachdem sie sie mit ihrem Stabe berührt hatte, ward sie in einen dicken Kutscher verwandelt, der einen der schönsten Schnurrbärte hatte, die man je gesehen. Dann sprach sie zu ihr: »Geh in den Garten, dort wirst du sechs Eidechsen hinter der Gießkanne finden; bringe sie mir!« Kaum hatte sie diese der Patin gebracht, als sie auch schon in sechs Lakaien verwandelt waren, die geschwind in ihren verbrämten Gewändern hinten auf die Kutsche kletterten und sich dort festhielten, als ob sie nie in ihrem Leben etwas anderes getan hätten. Darauf sagte die Fee zu Aschenbrödel: »So, siehst du, damit kannst du auf den Ball gehen. Bist du nicht recht froh?« »Ja, aber soll ich so, wie ich bin, in meinen garstigen Kleidern gehen?« Ihre Patin berührte sie nur mit ihrem Stäbchen, und sogleich waren ihre Kleider in Gewänder aus Gold- und Silberstoffen verwandelt,[248] ganz mit Edelsteinen besetzt. Dann reichte sie ihr ein Paar Glaspantöffelchen, die schönsten von der Welt. Als sie solcherweise geschmückt war, stieg sie in die Kutsche; doch ihre Patin ermahnte sie, vor allen Dingen ja nicht über Mitternacht auszubleiben, denn falls sie einen Augenblick länger auf dem Ball verweilen würde, so wäre ihre Kutsche wieder ein Kürbis, ihre Pferde wieder Mäuse, ihre Lakaien wieder Eidechsen, und ihre alten Kleider würden ihre frühere Gestalt wieder annehmen. Sie versprach ihrer Patin, sie wolle nicht verfehlen, den Ball vor Mitternacht zu verlassen; dann fuhr sie davon, ganz außer sich vor Freude.

Der Königssohn, dem man gemeldet hatte, daß soeben eine unbekannte hohe Prinzessin vorgefahren sei, beeilte sich, sie zu empfangen, er bot ihr beim Aussteigen aus der Kutsche den Arm und geleitete sie in den Saal, wo die Gesellschaft versammelt war. Sogleich entstand ein allgemeines Schweigen, man hörte zu tanzen auf, und die Geigen verstummten, so sehr war man in die Betrachtung der außergewöhnlichen Schönheit dieser Unbekannten versunken. Man vernahm nur noch ein Stimmengewirr: »Ach, wie schön sie ist!« Der König selber, so alt er auch war, konnte es nicht unterlassen, sie anzuschauen, und er flüsterte der Königin zu, er habe schon lange kein so schönes und liebenswürdiges Wesen mehr gesehen. Sämtliche Damen musterten aufmerksam ihren Kopfputz und ihre Kleider, um sich gleich am nächsten Tage ähnliche zu verschaffen, vorausgesetzt, daß sich überhaupt noch so schöne Stoffe und so geschickte Hände auffinden ließen. Der Königssohn wies ihr den Ehrenplatz an, dann nahm er sie und führte sie zum Tanze, und sie tanzte so anmutig, daß man sie nur noch mehr bewunderte. Man trug ein treffliches Mahl auf, von welchem der junge Prinz nichts aß, so sehr war er damit beschäftigt, sie anzuschauen. Sie setzte sich zu ihren Schwestern und erwies ihnen tausend Aufmerksamkeiten, sie teilte ihnen von den Orangen und Limonen aus, die der Prinz ihr gegeben hatte, was diese sehr wunderte, denn sie kannten sie gar nicht. Während sie so plauderten, hörte Aschenbrödel die Uhr[249] dreiviertel auf Zwölf schlagen: sogleich machte sie eine tiefe Verbeugung vor der ganzen Gesellschaft und enteilte so geschwind als sie konnte. Sobald sie heimgekommen war, suchte sie ihre Patin auf, dankte ihr und sagte zu ihr, sie möchte gar zu gern auch am nächsten Tage auf den Ball gehen, weil der Königssohn sie darum gebeten habe. Als sie noch dabei war, ihrer Patin alles zu erzählen, was sich auf dem Balle zugetragen hatte, klopften die beiden Schwestern an das Tor; Aschenbrödel ging, um ihnen zu öffnen: »Wie spät ihr heimkommt!« sagte sie gähnend und sich die Augen reibend und sich reckend, als ob sie gerade erst aufgewacht sei; sie hätte indessen keine Lust zum Schlafen gespürt, seit sie auseinandergegangen waren. »Wenn du auf dem Ball gewesen wärest,« sagte die eine der Schwestern, »so hättest du dich gewiß nicht gelangweilt. Die schönste Prinzessin war dort, die allerschönste, die man nur sehen kann; sie hat uns tausend Höflichkeiten erwiesen, sie hat uns Orangen und Limonen gegeben.« Aschenbrödel geriet fast außer sich vor Freude: sie fragte jene nach dem Namen dieser Prinzessin, aber sie antworteten, daß man diesen nicht wisse, und gerade das sei der größte Kummer des Königssohnes, der um alles in der Welt gern wissen möchte, wer sie sei. Aschenbrödel lächelte und sagte: »Sie war wohl schön? Mein Gott, wie seid ihr glücklich, könnte ich sie nicht einmal zu Gesicht bekommen? Ach, Fräulein Plaudertasche, leiht mir doch Euer gelbes Kleid, daß Ihr alle Tage tragt!« »Wirklich«, sagte Fräulein Plaudertasche, »das kannst du dir denken, mein Kleid einem garstigen Aschenhocker leihen, wie du einer bist, da müßte ich ganz verrückt sein!« Aschenbrödel erwartete diese abschlägige Antwort und war recht froh darüber, denn sie wäre in große Verlegenheit geraten, wenn ihre Schwester ihr das Kleid hätte leihen wollen.

Am folgenden Tage waren die beiden Schwestern auf dem Ball und Aschenbrödel gleichfalls, aber noch reicher geschmückt als das erstemal. Der Königssohn hielt sich ständig in ihrer Nähe auf und sagte ihr unausgesetzt Liebenswürdigkeiten. Das junge Mädchen langweilte sich keinen Augenblick und[250] vergaß derart die Warnung ihrer Patin, daß sie schon den ersten Schlag der Mitternachtsglocke vernahm, als sie glaubte es sei erst elf Uhr; sie sprang auf und floh so behende wie ein Reh von dannen. Der Prinz folgte ihr, konnte sie aber nicht einholen; sie ließ einen von ihren gläsernen Pantoffeln fallen, den der Prinz sorgfältig aufhob. Aschenbrödel kam daheim ganz außer Atem an, ohne Kutsche, ohne Lakaien und in ihren abscheulichen Kleidern, nichts war ihr von der ganzen Pracht geblieben als eines ihrer Pantöffelchen, das Gegenstück zu dem, das sie hatte fallen lassen. Man befragte die Türhüter des Schlosses, ob sie nicht eine Prinzessin hätten herauskommen sehen; sie sagten, niemand sei herausgekommen außer einem sehr schlecht gekleideten jungen Mädchen, das eher wie eine Bäuerin denn wie eine Dame ausgesehen hätte. Als ihre beiden Schwestern vom Balle heimkamen, fragte sie Aschenbrödel, ob sie sich wieder so gut unterhalten hätten und ob die schöne Dame wieder dort gewesen sei. Sie bejahten es, aber sie sei entflohen, als es Mitternacht geschlagen habe und das so hastig, daß sie eines ihrer Glaspantöffelchen habe fallen lassen, das niedlichste von der Welt; der Königssohn habe es aufgehoben und den ganzen Rest des Balles damit verbracht, es zu betrachten, sicher wäre er über die Maßen verliebt in die schöne Prinzessin, der der Pantoffel gehörte.

Sie sagten die Wahrheit, denn einige Tage darauf ließ der Königssohn durch einen Trompeter öffentlich bekanntmachen, daß er diejenige, deren Fuß in den Pantoffel passe, heiraten wolle. Man probierte ihn zuerst den Prinzessinnen an, dann den Herzoginnen und dem ganzen Hofstaat, aber umsonst. Man brachte ihn zu den beiden Schwestern, die ihr möglichstes taten, um ihren Fuß in den Pantoffel hineinzuzwängen, aber sie hatten keinen Erfolg damit. Aschenbrödel, die ihnen zuschaute und ihren Pantoffel erkannte, sagte lachend: »Ich möchte doch sehen, ob er mir nicht paßt!« Ihre Schwestern lachten und spotteten sie aus, aber der Kammerherr, welcher die Pantoffelprobe besorgte, betrachtete Aschenbrödel aufmerksam und fand sie überaus schön; er sagte, es sie nur recht[251] und billig, und er habe den Auftrag, den Pantoffel allen jungen Mädchen anzuprobieren; darauf hieß er Aschenbrödel Platz nehmen, und wie er nun den Pantoffel ihrem Füßchen hinhielt, gewahrte er, daß derselbe ohne Mühe darüberging und wie angegossen saß. Das Erstaunen der beiden Schwestern war groß, aber es ward noch größer, als Aschenbrödel das andere Pantöffelchen aus der Tasche zog und an ihren Fuß steckte. Darüber kam die Patin herbei, welche mit ihrem Zauberstab Aschenbrödels Kleider berührte, die nun noch weit prächtiger wurden als alle die früheren. Da erkannten ihre beiden Schwestern in ihr das schöne Wesen wieder, das sie auf dem Balle gesehen hatten. Sie warfen sich ihr zu Füßen, um sie für die schlechte Behandlung, die sie ihr hatten angedeihen lassen, um Verzeihung zu bitten. Aschenbrödel hob sie auf und sagte ihnen, indem sie sie umarmte, daß sie ihnen von ganzem Herzen vergebe und daß sie sie bitte, sie immer lieb zu behalten. Darauf führte man sie zu dem jungen Prinzen, geschmückt wie sie war, und dieser fand sie noch weit schöner als je zuvor, und wenige Tage darauf heiratete er sie. Aschenbrödel, welche ebenso gut war wie schön, ließ ihre beiden Schwestern im Palaste wohnen und gab sie noch am gleiche Tage zwei vornehmen Herrn vom Hofe zur Ehe.

1

Cucendron = Cul + cendre.

2

Cendrillon.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Französische Volksmärchen. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs, 1923, S. 245-252.
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