10. Der Fischfang des Wolfes

[72] Ihr Herren! Es war um jene Zeit, da der Sommer zu Ende geht, um dem rauhen Winter Platz zu machen. Reinhart der Fuchs war in seinem Bau; er hatte nichts zum Beißen und zum Brechen und wußte nicht, woher er etwas nehmen sollte. Der Not gehorchend machte er sich also auf den Weg und strich durch ein Binsengestrüpp zwischen dem Wald und dem Fluß, bis er die Landstraße erreichte. Dort angekommen duckte er sich hinter eine Hecke und wartete auf Abenteuer. Siehe, da kamen Kaufleute, welche Fische vom Meere her brachten. Sie hatten eine Ladung frischer Heringe, denn letzte Woche war der Wind zum Fischfang günstig gewesen, und auch andere[72] Arten guter Fische: von Neunaugen und Aalen waren ihre Körbe voll. Reinhart war noch einen Bogenschuß weit von ihnen entfernt. Als er den mit Fischen beladenen Wagen erblickte, lief er ein wenig voraus, doch so, daß die Kaufleute ihn nicht bemerkten, denn er wollte sie täuschen. Dann legte er sich mitten auf den Weg und stellte sich tot: er kniff die Augen zu, biß die Zähne zusammen und hielt den Atem an. Der eine Kaufmann sah ihn und rief seinem Gefährten zu: »Sieh, ist das ein Fuchs oder ein Köter?« »Es ist ein Fuchs,« entgegnete jener, »pack ihn geschwind, den Hurensohn, damit er uns nicht entwischt, denn er ist schlau. Er soll uns seinen Pelz lassen!« Die Kaufleute liefen – der eine hinter dem andern her – auf Reinhart zu. Sie fanden ihn am Boden hingestreckt und drehten und wendeten ihn nach allen Seiten ohne Furcht, daß er sie beißen möchte. Sie schätzten den Rücken und den Hals, der eine sagte, er sei drei Groschen wert, doch der andere erwiderte: »Bei Gott, er ist mindestens viere wert und das ist noch billig! Wir haben nicht viel geladen; werfen wir ihn auf unseren Karren! Seht nur, was für eine saubere, weiße Kehle er hat!« Mit diesen Worten warfen sie ihn auf das Wägelchen und fuhren weiter.

Reinhart aber machte sich über die Körbe her. Mit den Zähnen öffnete er den einen und entnahm ihm mehr als dreißig Heringe: da war der Korb leer. Er fraß sie mit Genuß ohne Salz und Salbei, dann öffnete er den anderen Korb. Er steckte seine Schnauze hinein und zog drei Netze voll Aale hervor. Der Schlaumeier packte die Stricke mit den Zähnen, warf sich die Netze auf den Rücken und überlegte sich nun, wie er wieder vom Wagen herunterkommen sollte. Erst kniete er und spähte, dann schnellte er sich los und sprang mit einem Satz vom Wagen herab auf die Straße, während er um den Hals geschlungen seine Beute trug. Nachdem er seinen Sprung getan hatte, rief er den Kaufleuten zu: »Gott behüte euch! Dieser Haufen Aale ist mein, den Rest könnt ihr behalten.« Als die Kaufleute solches hörten, erschraken[73] sie und riefen: »Seht den Fuchs!« Sie sprangen vom Wagen herab und hofften Reinhart noch zu erwischen, aber umsonst. »Wehe!« sagten sie und rangen die Hände, »das ist ein schöner Schaden! Wir Toren haben Reinhart geglaubt! Nun hat er uns die Körbe aufgebunden, hat sich satt gefressen und nimmt uns noch drei Netze voll Aale mit. Möge er daran platzen!« »Ihr Herren! Wozu der Lärm? Ihr könnt reden, was ihr wollt. Ich bin Reinhart und werde schweigen.«

Als die Kaufleute die Verfolgung aufgegeben hatten, ging Reinhart geradeswegs in seine Burg, wo ihn seine Angehörigen, die der Hunger quälte, mit Ungeduld erwarteten. Hermeline, seine treffliche Gattin, sprang ihm entgegen, und die Brüder Percehaie und Malebranche eilten auf ihren Vater zu, welcher in kurzem Trab, dick, vollgefressen und heiter daherkam, die Aale um seinen Hals geschlungen. Reinhart trat in seinen Bau und sperrte vorsorglich die Türe ab von wegen der Aale. Seine Kinder putzten ihm indes die Stiefel ab und häuteten die Fische, dann schnitten sie dieselben in Stücke und steckten diese auf kleine Bratspieße aus Haselgerten. Hierauf wurden die Kohlen angeblasen und die Fische auf die Glut gelegt.

Während die Aale brieten, siehe, da kam Herr Ysengrin, der Wolf, des Weges, welcher schon seit dem frühen Morgen umhergelaufen war, ohne nur das geringste gefangen zu haben. Hungrig schlich er sich durch das Holz auf Reinharts Bau los; denn er sah aus der Küche, in welcher die Aale am Spieße gedreht wurden, Rauch aufsteigen. Ysengrin witterte den Duft, der ihm fremd war: er kräuselte die Nase und leckte sich den Bart; darauf trat er zu einem Fenster, um zu erspähen, was es da gäbe. Die Frage war nur, wie er dahinein gelangen könne, denn gegen Bitten pflegte Reinhart unempfänglich zu sein. Der Wolf lief unstät umher, hier und da einen sehnsüchtigen Blick nach der Burg werfend, welche ihm unzugänglich blieb. Schließlich beschloß er, seinen Gevatter zu bitten, er möge ihm um Gottes willen ein wenig von seinem Fleische abgeben. Er rief also durch ein Loch:[74] »Herr Gevatter, öffnet mir die Tür! Ich bringe Euch gute Nachricht!« Reinhart hörte und erkannte ihn wohl, dennoch hatte er taube Ohren für ihn. Ysengrin stand betrübt draußen und sprach: »Öffnet, lieber Herr!« »Wer seid Ihr?« fragte Reinhart lächelnd. »Ich bin es!« versetzte jener. »Wer ich?« »Euer Gevatter!« »Ach so, wir glaubten, Ihr wäret ein Landstreicher.« »Nein,« sprach Ysengrin, »öffnet!« »Ihr werdet Euch einen Augenblick gedulden müssen,« sagte Reinhart, »bis die Mönche gespeist haben, die sich gerade zum Essen niedersetzen!« »Wie? sind das Mönche?« »Vielmehr,« entgegnete jener, »eher Canonici. Sie sind vom Orden St. Benedikts und ich habe mich ihnen angeschlossen.« »Um Gottes willen,« sprach der Wolf, »redet Ihr die Wahrheit?« »Bei der heiligen Barmherzigkeit!« »Aber, sagt mir, eßt Ihr Fleisch?« »Das ist verpönt,« sagte Reinhart. »Was essen denn die Mönche?« »Sie essen Weichkäse und Fische. So empfiehlt es St. Benedikt!« Ysengrin sprach: »Davon wußte ich nichts. Aber gewährt mir Gastfreundschaft. Es ist spät und ich weiß nicht, wohin ich mich noch wenden soll.« »Gastfreundschaft?« sagte Reinhart, »redet nicht davon! Nur ein Mönch oder ein Eremit kann bei mir Unterkunft finden. Geht anderswo hin!« Ysengrin sah ein, daß er unter keinen Umständen eingelassen werden würde; trotzdem fing er wieder an: »Fische? Ist das gutes Fleisch? Gebt mir doch einen Brocken, nur um zu verkosten!« Der schlaue Fuchs nahm drei Stücke Aal, die auf den Kohlen brieten und inzwischen gar geworden waren. Ein Stück aß er selbst, die anderen brachte er dem Wolf und sprach zu ihm: »Gevatter, tretet ein wenig näher und empfangt aus Nächstenliebe von unserer Speise. Aber wir erwarten, daß Ihr auch in unseren Orden eintreten werdet!« »Ich weiß es noch nicht, aber es ist möglich!« versetzte Ysengrin, »jedoch, lieber guter Meister, gebt mir geschwind das Essen!« Ysengrin erhielt es und verschlang es in einem Happ. »Wie dünket Euch darum?« fragte Reinhart. Der Feinschmecker zitterte und brannte vor Gier. »Es möge Euch tausendmal vergolten werden, Herr Reinhart!« sprach[75] er, »aber gebt mir nur noch ein einziges Stück, süßer, lieber Gevatter, nur zum Anbeißen; dann will ich auch Eurem Orden beitreten.« »Ich rate Euch sehr, Mönch zu werden,« antwortete der listige Reinhart, »denn bei Euren Anlagen werdet Ihr es noch vor Pfingsten zum Prior oder Abt bringen.« »Hätte ich dann Fische genug?« »Soviel Ihr essen wollt; aber zuvor müßt Ihr Euch Haar und Bart scheren lassen.« Ysengrin begann zu brummen, als er vom Scheren reden hörte. »Wenn es sein muß, Gevatter, so schert mich geschwind!« Reinhart erwiderte: »Sogleich werdet Ihr eine große und breite Tonsur haben, nur muß erst das Wasser warm sein.« Der Fuchs stellte Wasser aufs Feuer und ließ es kochen; dann kam er wieder und hieß den Wolf seinen Kopf durch ein Loch neben der Türe stecken. Ysengrin reckte den Hals vor und Reinhart goß ihm das kochende Wasser über den Schädel. Der Wolf biß die Zähne zusammen und fuhr zurück: »Reinhart!« schrie er, »ich bin hin. Das war ein schlechter Streich, Ihr habt mir eine zu große Platte geschoren.« Reinhart streckte die Zunge einen halben Fuß weit aus dem Maul: »Herr, so ist es im Kloster der Brauch,« sagte er, dann fuhr er fort: »Der heilige Orden erheischt es, daß wir in der ersten Nacht eine Probe bestehen. Wir wollen fischen gehen.« Ysengrin entgegnete: »Gern werde ich alles tun, was die Regel verlangt.« Reinhart schlüpfte durch einen Spalt und trat zu Ysengrin, der noch immer über seine Platte klagte, auf der keine Haut und kein Fell mehr geblieben war. Beide gingen von dannen, Reinhart voraus und der andere hinterher, bis sie zu einem Weiher gelangten.

Es war wenig vor Weihnacht, um die Zeit, da man die Schinken in Salz legt. Der Himmel war klar und sternenhell, und der Teich, in welchem Ysengrin fischen sollte, war fest zugefroren. Nur ein Loch war offen geblieben, welches die Bauern geschlagen hatten, um ihr Vieh zu tränken, und neben dem Loch war ein Eimer stehen geblieben. Reinhart ging vergnügt auf den Eimer zu, sah seinen Gevatter an und sprach: »Herr, diesen nehmt! Hier gibt es eine Menge Fische,[76] und auf diese Weise pflegen wir sie zu fangen.« »Bruder Reinhart!« erwiderte Ysengrin, »bindet mir diesen Eimer fest an den Schwanz!« Der andere nahm ihn und band ihn so fest er konnte. »Bruder,« sagte er dann »jetzt haltet Euch ruhig, damit die Fische kommen.« Dann drückte er sich unter ein Gebüsch und steckte die Schnauze zwischen die Füße, um zu beobachten, was jener anstellen würde. Das Wasser begann zu gefrieren und der Eimer an Ysengrins Schwanze fror mit ein, so daß der Schwanz fest an das Eis geheftet wurde. Nach einer Weile glaubte der Wolf, es sei nun genug, und er versuchte, den Eimer herauszuziehen. Lange zerrte er vergebens, dann rief er nach Reinhart, denn der Tag begann schon zu dämmern. Reinhart erhob den Kopf, öffnete die Augen und blickte sich um: »Bruder,« sprach er, »laßt Eure Arbeit stehen, gehen wir heim, lieber Freund! Wir haben genug Fische gefangen.« »Reinhart, es sind zuviel!« rief ihm Ysengrin zu. »Ich habe so viel gefangen, daß ich den Eimer gar nicht wieder herausziehen kann!« Reinhart antwortete lachend: »Wer zuviel begehrt, verliert alles.«

Die Nacht war vorüber, der Tag brach an, und die Sonne erhob sich im Osten. Alle Wege waren weiß vom Schnee. Herr Constant von Granches, ein behäbiger Ritter, hatte in der Nähe des Teiches genächtigt und sich nun samt seinem Jagdgefolge zufriedenen Gemütes erhoben. Er nahm sein Horn, rief den Hunden und ließ sich seinen Sattel bringen, während der Jagdtroß lärmte und schrie. Reinhart hörte es und floh, bis er seinen Bau erreicht hatte. Ysengrin hingegen mußte bleiben, er zog und zerrte mit solcher Wut, daß ihm fast die Haut barst. Während der Wolf sich so abquälte, kam ein Bursche des Weges, der zwei Hunde an der Leine führte. Er erblickte Ysengrin, der mitsamt seinem Glatzkopf auf dem Eise angefroren war und schrie: »Hoho! Der Wolf! Herbei, herbei!« Die Jäger sprangen samt den Hunden aus dem Hause. Herr Constant sprengte auf seinem Rosse hinterdrein und rief: »Laßt los, laßt die Hunde los!« Die Hundeführer koppelten die Hunde ab, und diese stürzten sich auf den Wolf,[77] der sich nach Kräften wehrte. Herr Constant zog sein Schwert und schickte sich an, den Wolf gut zu treffen. Dieserhalb stieg er vom Pferde und ging über das Eis hinüber auf ihn los. Von hinten wollte er ihn treffen, aber er verfehlte ihn, kam durch den Schwung ins Gleiten und fiel so heftig hin, daß ihm der Kopf blutete. Mit Mühe erhob er sich und ging zornig wieder auf den Wolf los. Er gedachte ihn auf den Kopf zu treffen, aber der Schlag ging daneben: das Schwert traf nur den Schweif und schnitt ihn da, wo er angewachsen war, ratzibutz ab. Ysengrin fühlte sich frei, er sprang davon, von den Hunden verfolgt und gebissen, den Schwanz jedoch mußte er zu seinem Schmerz als Pfand zurücklassen. Er floh einen Abhang hinauf, und als er droben war, blieben die Hunde ermüdet stehen und kehrten um. Ysengrin aber eilte weiter, bis er den schützenden Wald erreicht hatte. Dort hielt er inne und schwur, er wolle sich an Reinhart blutig rächen.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Französische Volksmärchen. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs, 1923, S. 72-78.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gellert, Christian Fürchtegott

Die Betschwester. Lustspiel

Die Betschwester. Lustspiel

Simon lernt Lorchen kennen als er um ihre Freundin Christianchen wirbt, deren Mutter - eine heuchlerische Frömmlerin - sie zu einem weltfremden Einfaltspinsel erzogen hat. Simon schwankt zwischen den Freundinnen bis schließlich alles doch ganz anders kommt.

52 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon