Vom König, der den Sohn seines Seneschalls verbrennen wollte

[106] Ein König von Ägypten hatte einen Seneschall, der ihm lange gedient und dafür reichen Lohn verdient hatte. Diesem Seneschall war ein Sohn erwachsen, der das Alter von fünfzehn Jahren erreicht hatte. Der Knabe war verständig für sein Alter, und all sein Sinnen war auf die Liebe zu Gott und der hl. Jungfrau gerichtet. Es geschah aber, daß sein Vater krank wurde und zu sterben kam. Der König erfuhr davon, suchte den Kranken auf und setzte sich an sein Lager. »Herr,« sprach der Seneschall, »von Eurer Kindheit an habe ich Euch treu gedient, mehr als fünfunddreißig Jahre lang war ich Euer Knecht. Ich fühle, daß mein Ende naht, aber zuvor möchte ich Euch, lieber Herr, um eine Gnade bitten, die ihr mir um Gottes Willen gewähren mögt. Wenn ich tot bin, so nehmt Euch meines Sohnes an und wollet an ihm meine treuen Dienste vergelten!« Der König versprach dem Sterbenden, er wolle seinen Sohn stets um sich halten und ihm Land und Lehen geben. Darauf hauchte jener seine Seele aus.

Der König hielt sein Versprechen. Er bestellte dem Jüngling einen Lehrmeister und zog ihn zusammen mit seinem eigenen Sohne auf. Täglich kam er, die Knaben zu sehen und ihnen Geschenke zu bringen; er hatte beide sehr lieb, und auch die jungen Leute waren einander in inniger Freundschaft zugetan. Der Lehrmeister aber war voll Zorn und Neid darüber, daß der König den Fremdling so schätzte, und er sagte[106] in seinem treulosen Herzen: »Der König ist nicht weise, daß er einen hergelaufenen Burschen so wert hält wie seinen eigenen Sohn. Mir sollte er wohltun und mich achten, denn ich bin an mancherlei Künsten reich, statt dessen verschwendet er seine Liebe an einen, der sie nicht verdient. Aber ich will ihn auslöschen aus der Liebe des Königs.«

Eines Tages wandte er sich an den Knaben und sprach tadelnd zu ihm: »Mein Sohn, wenn der König wieder herkommt und dich in seine Arme nimmt, so wende dein Haupt ab, denn dein Atem ist ihm nicht angenehm.« Bald darauf kam der König, die Knaben zu besuchen, und schloß beide in seine Arme; da wandte der Sohn des Seneschalls, welcher an nichts Arges dachte, sein Gesicht ab, um den König nicht zu belästigen. Dies tat er fünf oder sechsmal, bis der König es merkte und den Lehrmeister fragte, was das bedeuten solle. Der Treulose antwortete: »Herr, ich möchte Euch die Wahrheit sagen, wenn ich nicht fürchten müßte, Euch zu erzürnen. So wißt denn: der Knabe hat mir gestanden, daß er Euern Atem nicht ertragen kann.« Der König erschrak über diese Rede; er haßte von nun an den Knaben und schwur, ihm nicht mehr wohltun zu wollen, ja, er wollte ihn überhaupt nicht mehr sehen und beschloß, sich seiner zu entledigen. Der Verräter aber freute sich in seinem Herzen.

Der König ließ einen Förster kommen und befahl ihm, daß er im Walde ein großes Feuer entzünde; welchen er, der König, aber als ersten dorthin senden werde, den solle er ergreifen und in das Feuer werfen. So lieb ihm sein Leben sei, solle er diesen Befehl vollziehen und die Ausführung geheim halten. Der Förster versprach zu tun, wie ihm befohlen sei, er kehrte heim und zündete das Feuer mit eigener Hand an. Darauf ließ der König den Burschen rufen und gebot ihm, sogleich sein Pferd zu besteigen, um eine Botschaft zu überbringen. Dabei trug er ihm auf, wohin er reiten und was er dem Förster sagen solle. Der Jüngling stieg sogleich zu Roß und ritt eilends davon. Auf dem Wege empfahl er sich Gott und der heiligen Jungfrau und betete, sie möchten[107] ihm vor Gefahr bewahren. Während er so in frommen Gedanken befangen war, hörte er das Glöcklein eines Einsiedlers läuten und sprach: »Ich will in die Kapelle gehen, um meine gewohnten Gebete zu sprechen und wenn möglich eine Messe zu hören. Mein Geschäft ist nicht so dringend, und bald wird der Gottesdienst beendet sein.« Er wandte sein Pferd nach rechts, ritt den Hügel, auf welchem die Klause des Eremiten stand, hinauf und betrat die Kapelle, während der heilige Mann die Messe sang. Als aber die Wandlung vollzogen wurde und der Jüngling unter Tränen an seine Brust schlug, siehe, da schwebte eine weiße Taube hernieder, welche einen Brief in ihrem Schnabel trug. Diesen ließ sie auf den Altar niederfallen. Nachdem der Einsiedler den Gottesdienst beendet hatte, küßte er das Schreiben dreimal und öffnete es sodann. Der Brief gebot dem Eremiten, er solle den Jüngling zurückhalten, bis die Mittagsstunde vorüber sei, denn Gott und die heilige Jungfrau, welche ihn in ihrer Hut hätten, wollten ihn aus Gefahr retten. Der Einsiedler trat auf den Jüngling, der schon sein Roß wieder besteigen wollte zu und bat ihn, bis Mittag bei ihm zu verweilen. Nach längerem Zögern willigte dieser ein und ließ sein Roß grasen; der heilige Mann jedoch hielt ihn mit freundlichen Worten so lange fest, bis die Sonne im Mittag stand.

Der Lehrmeister, welcher nicht wußte, was aus dem Knaben geworden sei, begab sich unterdessen zum König, und dieser befahl ihm, unverzüglich in den Wald zu reiten und den Förster zu fragen, ob er des Königs Gebot erfüllt habe. Der Meister ritt in den Wald und sprach zum Förster: »Der König wünscht zu wissen, ob sein Wille geschehen ist.« »Nein,« versetzte jener, »noch nicht, aber gleich soll er geschehen.« Mit diesen Worten packte der Förster den Schurken und warf ihn ins Feuer, wo er alsbald zu Asche verbrannte.

Alsbald kam der Knabe zu dem Feuer; diesem rief der Förster von weitem entgegen: »Ich weiß wohl, was Ihr wollt! Geht, und sagt dem König, daß ich seinem Befehle nachgekommen bin.« Sogleich wandte der junge Mann sein[108] Roß, um dem König diese Botschaft zu überbringen. Als dieser die Wahrheit erfahren hatte, liebte er den Knaben noch inniger als früher und ließ ihn zu großen Ehren gelangen.

Quelle:
Tegethoff, Ernst: Französische Volksmärchen. 2 Bände. Jena: Eugen Diederichs, 1923, S. 106-109.
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