54. Die Bestrafung der Königin

[283] Es war einmal ein König, der war ehrenwert wie das Gold und kühn und stark wie Samson. Jeden Morgen nach der Messe gab er reiche Almosen und sprach den Armen wie den Reichen gleich gutes Recht. Leider glich ihm die Königin durchaus nicht. Niemals sah man ein herrschsüchtigeres und bösartigeres Weib, nie wird man ein solches wiedersehen. Der König und die Königin hatten nur einen[283] Sohn. Bis zu seinem einundzwanzigsten Jahre überwachte ihn sein Vater aus nächster Nähe. Beim geringsten Fehltritt rief er ihn zu sich: »Höre,« sagte er zu ihm, »wenn ich tot bin, wirst du an meiner Stelle herrschen. Dann wird niemand sein, der dich bestraft. Solange ich lebe, werde ich meine Pflicht tun.« Und der König nahm einen Stock und schlug ihn mit der ganzen Kraft seiner Arme. Darauf sperrte er seinen Sohn ins Gefängnis, ließ ihn auf der bloßen Erde liegen und gab ihm Wasser zu trinken und trocken Brot zu essen. So kam es, daß der junge Mann als bald so verständig und so tüchtig wurde, daß ein jeder sagte: »Der Sohn gleicht dem Vater und der Vater dem Sohn. Wenn der König tot ist, wissen wir, wer das Land in Recht und Frieden bewahren wird.«

Eines Abends nach dem Essen sagte der König zu seinem Sohne: »Höre! Ich liebe dich, weil du verständig, gerecht, kühn und stark bist. Morgen wirst du genau einundzwanzig Jahre alt. Ich bin alt, und bald werde ich dich an meiner Stelle zum Könige machen. Inzwischen nimm alle Rosse, alle Hunde und soviel Geld du willst. Geh auf die Jagd, besuche die Kirchenfeste und mach dir gute Tage! In sechs Monaten wünsche ich, daß du heiratest. Wähle ein braves Mädchen nach deinem Geschmack! Ich werde erst dann zufrieden sein, wenn ich sie als Gebieterin im Schloß walten sehe.« »Danke, Vater, ich werde Euch gehorchen.« Die Königin hörte zu und sagte nichts. Aber sie dachte: »Oh! In sechs Monaten werde ich nicht mehr Gebieterin im Schlosse sein. Wir wollen sehen!« Nach dem Essen nahm sie ihren Sohn beiseite: »Höre, mein Sohn! Geh auf die Jagd, besuche die Kirchenfeste und mach dir gute Tage. Aber zum Heiraten bist du noch zu jung. Halte dir eine Geliebte! Es ist kein Mangel an hübschen Mädchen.« Der junge Mann senkte den Kopf und antwortete nichts. Am andern Tage ging er vor Tagesanbruch auf die Jagd und kam erst in der Nacht zurück. Jeden Tag begann er dasselbe Leben von neuem. Der König war nicht zufrieden und sagte gar häufig:[284] »Mein Sohn, du kommst jeden Abend mit Hasen und Rebhühnern beladen heim. Wann wirst du uns eine lebendige brave und hübsche Schwiegertochter heimführen?« »Geduld, lieber Vater, das eilt nicht!«

Endlich konnte der König nicht mehr an sich halten: »Ah,« sagte er, »du willst keine Frau wählen. Gut, so will ich sie für dich aussuchen.« Wirklich kam eine Woche später der König des Nachbarlandes auf Besuch ins Schloß und brachte seine Tochter mit, eine Prinzessin, schön wie der Tag und züchtig wie eine Heilige. Die Prinzessin sang wie eine Sirene und kannte alle Arten von Liedern. Da vergaß der Königssohn das Jagen. Vom Morgen bis Abend saß er neben seiner Schönen. »Singe, Prinzessin, singe noch einmal!« Und das junge Mädchen sang so süß, so süß, daß der Bursch zu sich sagte, wenn er sie betrachtete: »Diese wird meine Frau. Wenn nicht, so geschieht ein großes Unglück.«

Schließlich kehrten die Besucher in ihr Schloß zurück. Da wurde der junge Mann gar traurig. Aber der alte König war noch nie so zufrieden gewesen. »Nun sind sie abgereist«, sagte er abends beim Essen. »Gott behüte sie und füge, daß sie nicht so bald wiederkommen.« Der junge Mann wurde blaß wie der Tod. »Bitte, Vater, redet nicht so! Ich liebe die Prinzessin mehr, als ich es Euch sagen kann. Wenn Ihr sie mir nicht zur Frau geben wollt, so geschieht ein großes Unglück.« »Du Tor! Die Verlobungsverträge sind abgeschlossen. Du hast also nichts begriffen? Morgen abend reisen wir alle in das Schloß deiner Liebsten. In acht Tagen will ich sie hier gebieten sehen.« »Danke, Vater, Gott segne Euch!« Die Königin hörte zu und sagte nichts. Sie ging und kehrte einen Augenblick später zurück. Vater und Sohn zechten und lachten. »Komm, mein Freund, auf das Wohl deiner Liebsten!« »König,« sagte die Königin, »warum trinkt Ihr nicht auf mein Wohl?« »Dein Wohl, Frau!« »Auf dein Wohl, Mutter!« »Danke, laßt uns anstoßen!« Alle drei leerten ihre Gläser. Fünf Minuten später wurde der König grün wie das Gras. »Was ist Euch, Vater?«[285] Der König fiel unter den Tisch. Er war tot. Man bestattete ihn Tags darauf. Sein Sohn gab viel Gold und Silber für Almosen und Gebete aus. Nach der Rückkehr vom Friedhof sagte er zu seinen Dienern: »Diener, richtet mir mein Bett in der Kammer meines armen Vaters!« »König, wir gehorchen Euch!« Der neue König schloß sich in die Kammer seines armen Vaters ein. Er fiel auf die Knie und betete lange zu Gott. Dann warf er sich ganz bekleidet aufs Bett und schlief ein.

Beim ersten Schlage der Mitternachtsstunde wachte er auf. Ein Gespenst sah ihn an und sagte nichts. Der Tote nahm seinen Sohn bei der Hand und führte ihn durch die Nacht in den andern Flügel des Schlosses. Dort öffnete er ein Versteck und wies mit dem Finger auf eine halb gefüllte Fiole. »Deine Mutter hat mich vergiftet. Du bist König. Schaff mir mein Recht!« Der Tote schloß das Versteck wieder und ging. Der König schwitzte vor Angst. Doch er war ein tapferer und kühner Mann. Leise, ganz leise ging er in den Stall, sattelte sein bestes Roß und sprengte im Galopp in die schwarze Nacht hinaus.

Als der Morgen den Himmel rötete, klopfte er insgeheim an die Türe seines besten Freundes: »Höre! Das Unglück ist über mir. Ich gehe, und ich weiß nicht, wohin. Suche morgen meine Liebste im Schlosse ihres Vaters auf und sage zu ihr: ›Das Unglück ist über deinem Freund. Er ist fortgegangen, ich weiß nicht, wohin. Seine Frau, Ihr werdet es niemals, niemals. Nie wird er wieder mit Jungfrauen reden, und doch wird er Euch nie vergessen. Geht in ein Kloster! Nehmt den schwarzen Schleier und betet für Euren Freund, bis daß man Euch zum Kirchhof trägt!‹« »König, ich gehorche Euch!«

Der König sprengte weiter im Galopp in die schwarze Nacht hinaus. Am andern Morgen war er in einer Stadt, die war siebenmal so groß wie Toulouse. Dort verkaufte er sein Schwert, seine guten Gewänder und sein Roß, gab sein Geld den Armen und ging wie ein Bettler, den Stab in der[286] Hand und den Sack auf dem Rücken, davon. Endlich kam er auf einen Berg, der war so hoch, so hoch, daß nur die Adler dorthin fliegen konnten. Auf diesem Berge baute sich der König eine Hütte. Wenn ihn dürstete, so trank er aus den Quellen, wenn ihn hungerte, so mangelte es ihm nicht an Kräutern und wilden Früchten.

Eines Abends betete der König in seiner Hütte zu Gott. Er betete lange, lange, und schlief dann ein. Als er erwachte, kündeten die Sterne die Mitternachtsstunde. Ein Gespenst blickte ihn an. »Deine Mutter hat mich vergiftet. Du bist König. Schaff mir mein Recht!« Der Tote ging. Der König schwitzte vor Angst. Dann floh er in die schwarze Nacht hinaus.

Als der Tag aufdämmerte, stand er am Fuße eines Berges. Ein ganzes Jahr lang wanderte der arme Mann und wanderte immer geradeaus, ohne jemals nach dem Wege zu fragen. Schließlich kam er wieder in sein Land und klopfte eines Abends insgeheim an die Türe seines besten Freundes. »Guten Abend, mein Freund! Erkennst du mich nicht?« »Ihr seid der König.« »Ja, ich bin der König. Gib mir Nachricht von meiner Liebsten!« »Eure Liebste ging ins Kloster und starb.« »Gib mir Nachricht von meiner Mutter!« »Eure Mutter ist noch immer in ihrem Schloß, sie hat sich zum Unheil des Landes zur Gebieterin gemacht.« »Ich weiß genug. Führe mich in eine Kammer. Ich bin müde und will schlafen. Morgen, ehe der Tag dämmert, wecke mich!« »König, ich gehorche Euch!« Der König legte sich nieder und schlief ein.

Beim ersten Schlag der Mitternachtsglocke wachte er auf. Ein Gespenst blickte ihn an. »Deine Mutter hat mich vergiftet. Du bist König. Schaff mir mein Recht!« »Vater, ich gehorche Euch!« Der Tote ging. Der König schwitzte vor Angst. Doch er war ein tapferer und kühner Mann.

Ehe der Tag anbrach, trat er ins Zimmer seines besten Freundes. »Höre! Heute abend werde ich das Land verlassen, und niemals, niemals komme ich wieder. Hier ist[287] ein Schreiben, in dem ich verfügt habe, daß du mein Nachfolger wirst. Und jetzt gib mir ein Schwert und schöne Gewänder und laß mir im Stall ein gutes Roß mit Zügel und Sattel aufzäunen!« »König, ich gehorche Euch!« Der König ritt im Galopp davon.

Als die Sonne unterging, klopfte er an die Türe seines Schlosses. »Guten Abend, Mutter, meine arme Mutter!« »Guten Abend, mein Sohn, wo kommst du her? Ich wünsche es zu wissen.« »Mutter, meine arme Mutter, ich sage es Euch bei Tisch. Ich sage es Euch, wenn wir allein sind. Zu Tisch! Mich hungert.« Sie setzten sich beide zu Tisch. Als sie allein waren, sagte der König: »Mutter, meine arme Mutter, Ihr wollt wissen, woher ich komme. Ich habe viele Länder gesehen. Ich habe meine Liebste geheiratet. Morgen führe ich sie Euch zu.« Die Königin hörte zu und sagte nichts. Sie ging und kam einen Augenblick später zurück. »Deine Frau kommt morgen? Um so besser. Trinken wir auf ihr Wohl!« Da zog der König sein Schwert und legte es auf den Tisch. »Hört, Mutter, meine arme Mutter! Ihr wollt mich vergiften. Ich vergebe es Euch! Aber mein Vater, der vergibt Euch nicht. Dreimal ist er aus jener Welt zurückgekehrt und hat zu mir gesagt: ›Deine Mutter hat mich vergiftet. Du bist König. Schaff mir mein Recht!‹ Gestern habe ich geantwortet: ›Vater, ich gehorche Euch‹. Mutter, meine arme Mutter, betet zu Gott, daß er Eurer Seele gnädig sei! Schaut dieses Schwert an! Betrachtet es Euch genau! Noch habt Ihr Zeit zu einem ›Vaterunser‹, dann erschlage ich Euch, wenn Ihr nicht das Gift trinkt, das Ihr mir eingegossen habt. Trinkt, Mutter, meine arme Mutter, trinkt bis zur Neige!« Die Königin leerte das Glas bis zur Neige. Fünf Minuten später war sie grün wie das Gras. »Vergebt mir, Mutter, meine arme Mutter!« »Nein!« Die Königin fiel unter den Tisch. Sie war tot. Da warf sich der König auf die Knie und betete zu Gott. Dann ging er leise, ganz leise in den Stall, sprang auf sein Roß und sprengte im Galopp in die schwarze Nacht hinaus. Niemals, niemals sah man ihn wieder.

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CCLXXXIII283-CCLXXXVIII288.
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