27. Der Arzt von Fougeray

[111] Die Einwohner von Fougeray sind nicht sehr gastfreundlich und sie lieben die Beamten der Regierung nicht sehr, noch weniger aber jene Leute, die sie die »Draußigen«1 nennen, das heißt die Landfremden, welche sich dort ansiedeln. Das ist jederzeit so gewesen.

Einstmals ließ sich ein junger Mann, den man gar nicht kannte, in Fougeray als Arzt nieder. Er war ein großer blonder Bursch mit einem ausländischen Akzent, lebte sehr zurückgezogen und wollte mit keinem Menschen Bekanntschaft[111] schließen. Er hatte in diesem Ort ein Häuschen gemietet, das aus zwei Zimmern im Erdgeschoß und zwei Kammern im ersten Stock bestand. Im Winter sah man ihn fast nie, aber man bemerkte die ganze Nacht Licht in seiner Kammer. Im Sommer saß er vor seiner Türe auf einer Holzbank, rauchte aus einer großen deutschen Pfeife und schaute den Schwalben zu, die um den Kirchturm segelten. Niemals verließen seine Augen die Vögel, welche in ihm Erinnerungen an seine ferne Heimat wachzurufen schienen. Wenn ihn jemand zufällig anredete, so antwortete er kaum und ließ sich niemals in ein Gespräch ein. Wie sollte man sich erklären, daß er einen im hintersten Winkel des Erdbodens versteckten Flecken statt eines Durchgangsortes gewählt hatte? Man wußte es nicht und niemand hätte es gewagt, ihn darum zu fragen. Er hatte keinen Empfehlungsbrief mitgebracht und war keinem Menschen vorgestellt worden.

Ein Diener, der ebenso eisig war wie sein Herr, besorgte den Haushalt, die Küche und das Pferd, das der Arzt geglaubt hatte kaufen zu müssen, um seine Gänge zu machen. Ach! er brauchte keine Gänge zu machen, denn nur höchst selten wurde er zu den Kranken gerufen. Und trotzdem hielt man ihn für gelehrt und geschickt.

Es gab um diese Zeit in Fougeray auch einen alten Kurpfuscher, welcher zwar nur den Titel eines Wundarztes hatte, aber nichtsdestoweniger das Gewerbe eines Arztes ausübte. Er machte allerdings nur Aderlässe und verschrieb nichts als Klystiere. Dies genügte jedoch, um eine Menge Kranker wieder auf die Beine zu bringen, die, von einem Studierten behandelt, sicher umgekommen wären. Er behauptete, die Tiere seien weniger dumm als wir. »Schaut den Hund an,« sagte er, »wenn er sich krank fühlt, so hört er zu fressen auf und legt sich hin. Wenn der Mensch es ebenso machen würde, so könnte er den Arzt entbehren.«

Der arme Doktor kam um vor Langeweile und begann schon den Mut zu verlieren, als er eines Abends sehr spät[112] von einem Besuch bei einem Arbeiter zurückkam, der sich beim Einsturz eines Steinbruches das Bein verletzt hatte. Er durchquerte die ungeheure Heide von Morelles, die heute urbar gemacht ist. Inmitten dieser Heide, die zur Gemeinde St.-Anne-sur-Villaine gehörte, bemerkte er auf einmal tausende von kleinen brennenden Lampen, die voneinander getrennte Gruppen bildeten. Er hielt sein Pferd an, um dieses seltsame Schauspiel genauer zu betrachten. Ohne daß er das geringste Geräusch gehört hatte, war plötzlich ein Reiter an seiner Seite und sprach zu ihm: »Das ist etwas, das dich in Staunen setzt, junger Mann, und wenn ich dir erkläre, was das bedeutet, wird deine Überraschung noch größer sein.« »Wer seid Ihr?« »Das geht dich nichts an. Alle diese Lichter sind die Seelen der Bewohner dieses Landes und sind nur meinen Augen sichtbar und den deinigen. Sie sind auf der Heide nach Maßgabe der Städte und Dörfer in den Gemeinden, die uns umgeben, verteilt. Der Name der Personen ist auf der Lampe eingeschrieben und der Grad der Intensität des Lichtes deutet die Lebenskraft eines jeden von ihnen an. Ferner lassen sich genaue Angaben über die Zahl der Jahre, Monate, Tage und Stunden erkennen, die sie noch zu leben haben.« »Nochmals,« erwiderte der Doktor, »wer seid Ihr?« »Ich kann dir nicht darauf antworten, denn ich frage dich auch nicht, aus welchem Grunde du deine Heimat verlassen hast;« und er heftete auf den jungen Mann einen durchdringenden Blick, der diesen erbeben machte. »Schließlich, da du so innig wünschest, mich kennenzulernen, ich bin Satan, aber Satan als guter Teufel, der deine Verzweiflung sieht, mit dir Mitleid hat und dir seine Dienste anbietet. Da du vermittelst meiner Lampen die Lebensdauer aller Einwohner der Gegend erkennst, so wirst du alsbald dein Glück machen. Denke nur: du kannst die Kranken am Rande des Grabes versichern, daß du für ihr Leben einstehst, und kannst deinem Konkurrenten die armen Teufel überlassen, deren Tage gezählt sind. Du wirst Tag und Nacht keine Ruhe haben. Da! Schau dort unten, weit unten das[113] flackernde Licht: das ist der Wirt von Bréherais, der gerade sein Leben aushaucht.« Plötzlich verschwand das Licht in der Ferne: die Seele des Greises hatte die Erde verlassen. Eine Schar von Nachtvögeln erhob sich mitten aus der Ebene und stieß grauenvolle Schreie aus. Es gab Lampen, die in einem gewaltigen Glanze strahlten: das waren die Seelen der Jugend, die stark und kräftig waren und noch lange Jahre zu leben hatten. Der junge Doktor sprach zum Satan: »Ich suche vergeblich meine eigene Lampe bei denen meiner Nachbarn. Ich bemerke sie nicht.« »Du kannst sie nicht sehen. Es steht nicht in meiner Macht, dich die Dauer deines Lebens erkennen zu lassen. Ich kann dir die der anderen angeben, aber deine eigene nicht. Jene Lampen werden dir jede Nacht auf dieser Heide sichtbar sein, und du kannst hierherkommen, um sie zu befragen.« »Und was fordert Ihr als Entgelt?« fragte der Doktor. »Nichts oder so gut wie nichts. Du brauchst nur, um mich zufriedenzustellen, zu notieren – aber sehr genau –, welche Fehler und Laster die Leute haben, zu deren Behandlung du gerufen wirst.« »Das ist ein trauriges Amt, das Ihr mir da aufbürdet«, erwiderte der junge Mann. »Es steht dir frei, es auszuschlagen.« »Nein, ich nehme es auf mich, denn ich muß bald mein Glück machen!« »Sehr gut! Aber erfülle gewissenhaft diese Verpflichtungen, oder es geschieht dir ein Unglück!« »Ich werde meine Pflicht tun.«

Als der Doktor bedürftige Sterbende ins Leben zurückgerufen hatte und sich geweigert hatte, reiche Leute zu behandeln, betrachtete man ihn allgemein als einen großen Gelehrten. Es gab keine Kriecherei, die man nicht vor ihm beging, nachdem man ihn zuvor solange verachtet hatte. Sogar sein Diener wurde zum Gegenstand der Aufmerksamkeit und der Zuvorkommenheit seitens der Würdenträger des Landes. Die Geschenke strömten zum Überfluß in das Haus des Arztes, der trotz seiner Erfolge verdrießlicher aussah als je. Er wurde geizig und häufte Gold und Silber auf, um möglichst bald dieses Land verlassen zu können, das ihm verhaßt geworden war. Die nächtlichen Ritte auf die Heide von[114] Morelles ließen ihn erschauern, wenn er daran dachte, und seine Begegnung mit dem Teufel machte ihn starr vor Grauen. Sein bekümmerter Sinn ließ es ihn vergessen, seine Notizen so genau zu machen, wie er es versprochen hatte, oder hatte seine Lampe wohl ihr Öl aufgezehrt? Kurz, eines Morgens kam er nicht nach Hause. Es war im Winter und es hatte die ganze Nacht geschneit. Als es taute, wurde seine Leiche von Hirten auf einer Ginsterstaude gefunden. Der unglückliche Doktor hielt in der Hand eine Lampe von höchst eigenartiger Form und von einem unbekannten Metall. Der Diener des Arztes verschwand ohne Zweifel mit den Schätzen seines Herrn, denn nie wieder erblickte man ihn in Fougeray, und in dem verlassenen Hause fand man nichts.

1

les hors-venus.

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. CXI111-CXV115.
Lizenz:
Kategorien: