19. Die Spinnstube im Brunnen

[79] Es war einmal eine Witwe, die lebte mit ihrer kleinen Tochter zusammen. Sie heiratete in zweiter Ehe einen verwitweten Mann, welcher gleichfalls eine Tochter aus erster Ehe hatte. Dieses Kind mochte die Frau nicht leiden, sie war eifersüchtig auf dieses, denn es war ebenso sanft und gut, wie das ihrige zänkisch und bösartig war. Sie hielt es, so gut sie konnte, vom Hause fern. Eines Abends sagte sie zu ihm: »Du garstiges Ding, warum spinnst du nicht draußen?« Die Kleine nahm betrübt ihren Spinnrocken und ihre Spindel und ging davon, aber sie wußte nicht, wohin sie sich wenden solle. Als sie am Brunnen vorüberging, beugte sie sich über den Rand und war sehr überrascht, als sie eine große Helle und eine Menge Fräulein am Grunde des Brunnens sah. Sie war so überrascht, daß ihr die Spindel entglitt und in den Brunnen fiel. »Gott nehme mich in seine Hut!« sagte sie, »ich will hinter dir her!« Sie sprang über den Brunnenrand und war mit einem Male bei den Fräulein, von denen eines sagte: »Mama, Mama, da ist ein kleines Mädchen, welches mit uns spinnen will. Was sollen wir ihm geben?« »Was wünschest du von ihr?« antwortete die Mutter, welche eine schöne Frau war. »Sie soll mich lausen.«[79] Und das junge Mädchen machte sich gutwillig daran, das Haar des Fräuleins zu durchsuchen. »Was findest du, mein Liebling?« fragte die Mutter. »Nicht Laus noch Niß, der Kopf ist ganz sauber.« »Dich soll nicht Laus noch Niß bedrängen, mein Liebling!« Als die Spinnstube aus war, wollte das Kind den Brunnen verlassen; da sagte das Fräulein zu seiner Mutter: »Was wünscht ihr dem Kinde?« »Ich wünsche, daß ihr bei jedem Wort, welches sie spricht, ein Taler aus dem Munde fällt.« Das kleine Mädchen kam heim, und die Stiefmutter rief ihm schlechtgelaunt entgegen: »Wo bist du so lange gewesen, garstiges Ding?« »Im Brunnen!« Und bei jedem Wort fiel ein Taler von ihren Lippen. »Ah!« sagte die Stiefmutter ganz entzückt, »du sollst nicht wieder hinein! Morgen wirst du hingehen, mein Töchterchen!« Und am folgenden Abend führte sie das böse Kind an den Rand des Brunnens; auch dieses erblickte die Helle auf dem Grunde und warf seine Spindel hinunter mit den Worten: »Der Teufel hole mich, ich will hinter dir her!« »Mama!« rief das Fräulein, »da ist ein kleines Mädchen, welches mit uns spinnen will; was sollen wir ihm geben?« »Was wünschest du von ihr?« fragte die Mutter. »Sie soll mich lausen.« Mürrisch und widerwillig berührte jene mit den Fingerspitzen das Haar des Fräuleins. »Was findest du, mein Liebling?« fragte die Frau. »Läuse und Krätze, Frau!« »Läuse und Krätze sollen dich bedrängen, mein Liebling!« Und sogleich war ihr Kopf mit Ungeziefer bedeckt. Nachdem die Spinnstube zu Ende war, sagte das Fräulein: »Was wünschest du ihr, Mama?« »Ich wünsche, daß sie bei jedem Wort, welches sie spricht, einen Wind lassen muß.« Als sie heimkam, fragte sie die Mutter geschwind nach den Neuigkeiten aus ihrer Spinnstube. Aber als das geschah, was ihr angewünscht war, geriet jene in einen solchen Zorn, daß sie daran starb, und ihre Tochter tat alsbald aus Wut und Scham das gleiche, so daß die andern bis an das Ende ihrer Tage in Ruhe leben konnten.

Quelle:
FR-Märchen Bd.2, S. LXXIX79-LXXX80.
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