[285] 1. Vom Asterinos und der Pulja.

Aus Kukuli in Çagori1.

Das Märchen gehört zu der Phryxosformel Nr. 15, doch mit der Abweichung, daß die rechte Mutter ihren eigenen Kindern nachstellt und der verwandelte Knabe nicht wieder erlöst wird.

Diese griechische Form des »Brüderchen und Schwesterchen« mutet uns weit ursprünglicher an als die deutsche bei Grimm Nr. 11.

Die Anwendung, die der Vater von der Erzählung der Mutter im Eingange macht, ist höchst überraschend und wahrhaft märchenhaft. Keine Spur von Verwunderung, daß er die abgeschnittene Brust seiner Frau gegessen, das Gehörte erweckt nur den Wunsch nach mehr Menschenfleisch und er spricht: wie gut schmeckt doch das Menschenfleisch (ebenso die Hexe bei Grimm III, S. 269: das Kinderfleisch schmeckt so zart).

Das Hündchen, welches im deutschen Eingang nur durch die Worte angedeutet wird: »dem Hündchen unter dem Tisch gehts besser,« greift in die griechische Erzählung tätig ein, doch ist es auch hier in der zweiten Hälfte vergessen. (In der schwedischen Form bei Grimm III, S. 323 taucht es am Schlusse wieder auf.)

Dagegen fehlt in dem griechischen Märchen der deutsche Zug, daß die Stiefmutter die Brunnen des Waldes verzaubert hat, welcher die Verzauberung des Asterinos motivieren würde.[285]

Auch in Nr. 19 weist der Hundskopf die durstigen Mädchen an, aus der Tierfußspur zu trinken.

Der Zug, daß der aus der Tränke strahlende Widerschein eines auf dem Baume befindlichen Gegenstandes die Pferde am Saufen hindert, wiederholt sich auch im albanesischen Schneewittchen Nr. 103. Die Jungfrau auf dem Baume, von der Alten herabgelockt, findet sich auch in Nr. 49; vergl. auch Nr. 41.

Der goldene Apfel, den nur die Pulja brechen kann und mit dem sie abgeht, stellt sie zur Goldschmiedin in Nr. 29.

Der Schluß des Märchens ist höchst eigentümlich. Er ist der einzige der ganzen Sammlung, welcher den Knoten nicht vollständig im Sinne der sittlichen Weltordnung löst; er mutet uns daher wie ein Bruchstück an. Trotzdem erkennen wir in diesem Märchen die Perle der ganzen Sammlung. Sonderbarerweise war es auch das erste, was uns zukam, und erregte Erwartungen, welche die folgenden nicht bestätigten.

Das deutsche Märchen ist von der Heirat an eine Variante zu der Bertaformel Nr. 21.

Dagegen findet sich in Grimm Nr. 130 das Gegenstück zu dem griechischen Schluß. Dort schlachtet die böse Stiefmutter aus Haß gegen Zweiäuglein, ihre Stieftochter, die von dieser gehütete Ziege; Zweiäuglein begräbt deren Därme vor der Haustür, und daraus erwächst ein prächtiger Baum mit silbernen Blättern und goldenen Äpfeln, welche vor jedem, der sie pflücken will, in die Höhe schnellen und sich von selbst in Zweiäugleins Hand herablassen.

Auch der Zug, daß eine der Geschwister, welches geschlachtet werden soll, dem andern sein Leid klagt, findet sich bei Grimm Nr. 141. Die böse Stiefmutter verwandelt[286] Brüderchen und Schwesterchen, während sie spielen, in ein Fischchen und Lämmchen, und als Gäste kommen, befiehlt sie dem Koch, das Lämmchen zu schlachten. Da kam das Fischchen an den Gossenstein geschwommen, und dem klagte das Lämmchen, als es dem Koch das Messer wetzen hörte:


Ach Brüderchen im tiefen See,

wie tut mir doch mein Herz so weh!

Der Koch der wetzt das Messer,

will mir mein Herz durchstechen.


Das Fischchen antwortete:


Ach Schwesterchen in der Höh',

wie tut mir doch mein Herz so weh

in dieser tiefen See!


Selbst in dem entsprechenden neapolitanischen Märchen (Pentamerone Nr. 48) hat sich dieser Zug, wiewohl in verwischter Bedeutung erhalten, denn dort ruft die von einem Zauberfische verschluckte Schwester dem Bruder zu, welcher Vorschneider des Königs geworden war und einige Messer am Meeresufer schliff2: »Mein Brüderlein, mein Brüderlein, die Messer sind geschliffen fein, der Tisch gedeckt nett und fein, doch schmerzt es mich gar bitterlich, in diesem Fisch zu sein ohne dich!« –

Beachtenswert ist, daß in allen Formen dieses Zwiegespräches der Geschwister das eine in der Tiefe oder im Wasser, das andere in der Höhe steht.

Fußnoten

1 Siehe die Provinzen der einzelnen Orte in dem Inhaltsverzeichnis.


2 Anklang an Wieland in der Vilcinasaga Kap. 23. Denn auch er ist ein Fremder von unbekannter Herkunft an Nidungs Hof.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 285-287.
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