[364] 27. Allerleirauh.

Text (aus Ziza).

Variante 1. (Aus Witza.) – Der Vater ist nicht König, sondern Priester und wird von seiner Tochter an den Bischof verwiesen. Diesen fragt er: »Ich habe vor meiner Haustüre einen Apfelbaum stehn, wer soll die Früchte davon essen, ich oder ein Fremder?« – – –

Die Tochter verlangt von dem Vater schöne Kleider und einen καντλέας, d.i. eine hölzerne Kiste, welche die Form einer menschlichen Gestalt hat, mit dem Schlüssel dazu. In diese verschließt sie sich und flieht. Unterwegs fallen sie die Schäferhunde an, können sie aber nicht beißen, und die Hirten wundern sich über den wandelnden Holzmenschen.

[364] Variante 2. (Aus Smyrna.) – Der König verspricht seiner sterbenden Frau, diejenige zu heiraten, welcher ihr Ring passen würde. Er schickt in der ganzen Welt herum, kann aber keine Frau finden, welcher der Ring paßt. Als die Boten unverrichteter Dinge nach Hause kehren, legt der König betrübt den Ring auf den Tisch. Seine Tochter kommt ins Zimmer, nimmt den Ring, steckt ihn an und er paßt ihr. Nun verlangt sie der Vater zur Ehe1. Sie flüchtet auf ihr Zimmer und jammert: »O ihr Miren der Miren!2 warum habt ihr mir ein solches Schicksal beschieden?« Darauf erscheint ihre Mira, tröstet sie und heißt sie zuerst ein silbernes, dann ein goldenes, endlich ein Perlenkleid ohne Naht, ohne Schnitt3 von ihrem Vater verlangen. Da die Schneider des Reiches solche Kleider nicht zu liefern imstande sind, so reitet der König betrübt auf die Jagd und begegnet einem Manne, welcher der Teufel selbst ist, und ihm die Kleider nach der Angabe der Heldin liefert. Zuletzt verlangt diese auf den Rat der Mira ein langhaariges Gewand, durch das weder ihre Augen noch ihre Brauen, noch ihr Gesicht, noch ihre Hände und Füße zu erkennen sein sollten. Nachdem der Teufel auch dies geliefert, erklärt sie sich zur Hochzeit bereit, verlangt aber vorher ungesehen ins Bad zu gehen; der König solle daher bei Todesstrafe seinen Untertanen verbieten, ihre Kaufläden und Werkstätten zu öffnen und sich auf der Straße zu zeigen.[365]

Auf diese Weise wird sie von der Mira ungesehen aus der Stadt in eine auf einem hohen Berge gelegene Höhle geführt, wo sie sechs Jahre lang nur von Wasser und Brot lebt, das ihr die Mira jeden zweiten Tag bringt.

Endlich schlägt ein Prinz sein Jagdlager in der Nähe der Höhle auf. Der Geruch der kochenden Speisen lockt die Heldin hervor; bei ihrem Anblicke fliehen die Köche; sie nimmt sich von allen Speisen in ihre Höhle mit und versalzt den Rest4. Beim dritten Male belauscht sie der Prinz, dringt in ihre Höhle und nimmt sie mit sich in seinen Palast. Dort erhält sie von ihrem Haargewande den Namen der Haarigen5; sie bleibt stumm und antwortet nur durch Kopfnicken; der Prinz hat sie so lieb, daß seine Mutter eifersüchtig wird.

Bei einer großen Hochzeit, welche der Prinz und seine Mutter besuchen, erscheint sie dreimal in ihren drei Gewändern. Der Prinz verliebt sich in sie, verlangt von seiner Mutter beim ersten Male einen Ring, beim zweiten Male eine Uhr und endlich ein Perlenband und schenkt sie ihr. Sie entschlüpft jedesmal dadurch, daß sie Geld unter die Menge vor dem Hause wirft.

Darauf wird der Prinz vor Liebe krank, und die Mutter bäckt für ihn verschiedenes Gebäck. Die Haarige drängt sich herzu und verlangt von dem Teige; man versucht sie stets abzuwehren, aber der Prinz hört den Streit und befiehlt, ihr den Willen zu tun. Sie versteckt in ihr Stück zuerst den Ring, dann die Uhr, endlich das Perlenband. Da stets nur ihr Gebäck gerät und alles andere verbrennt, so findet der Prinz die drei Wahrzeichen, er läßt sich also[366] eine Schere kaufen, die Eisen und Stahl schneidet und schneidet damit das Haargewand auf6.

Anmerkungen. – Das Märchen folgt der Verkappungsformel Nr. 36 und entspricht dem Allerleirauh bei Grimm Nr. 657. Doch entbehrt die Textform des deutschen Zuges, daß der Vater seiner sterbenden Frau verspricht, nur eine solche zu heiraten, die ihr vollkommen ähnlich sähe, wodurch das Verlangen des Vaters nach der Tochter erklärt und gemildert wird.

An die Stelle der an die ägyptischen Mumienkästen erinnernden Holzkiste der ersten Variante tritt in Deutschland der Mantel aus allerlei Rauhwerk, der im Texte durch den Pelzmantel angedeutet ist. In Variante 2 erhält sie, wie im deutschen, von diesem Haarmantel den Namen der »Haarigen«.

In dem hierhergehörigen walachischen Märchen, Schott Nr. 3, ist dieser Mantel aus Laus- und Flohfellen gemacht und wird zwei Jahre daran gearbeitet.

Dagegen findet sich jene Holzkiste bei Schott Nr. 48 als ein hölzerner Mantel über zwölf prächtige Kleider (die zwölf Monate), mit dem die Kaiserstochter in die Einöde verstoßen wird.

Die Mumienkiste, der Schacht und das Bett, auf welchem die Heldin in die Erde einfährt, erscheinen uns[367] als Hinweisung auf den Tod; verbindet man damit das Verlangen des Vaters nach der Tochter, deren auf ihrer Flucht in die Erde erfolgende Verkappung, zweimaliges neckendes Erscheinen und endliche Entpuppung, so ergibt sich die Mutter als hinsterbende Sommergöttin und ihre Tochter als die des folgenden Jahres, welche den Winter in der Unterwelt zubringt, sich in den einzelnen schönen Tagen des anfangenden Frühlings zeigt, aber dem Winter wieder Platz machen muß, bis sie endlich zur herrschenden Königin wird. Der Pelz zeigt, daß das Märchen der nordischen Naturanschauung folgt, denn im Süden bringt die Naturgöttin die heiße Zeit in der Unterwelt zu und steigt mit den ersten Herbstregen auf die Erdoberfläche, um ein neues Herrscherjahr zu beginnen.

In der litauischen Form dieses Märchens bei Schleicher S. 10 treten dessen Naturbezüge noch klar hervor; denn dort heißt es von der Heldin Mutter: »Es war einmal ein König, der hatte eine sehr schöne Gemahlin, die hatte um die Stirn herum die Sterne, oben auf dem Kopfe die Sonne und am Hinterhaupte den Mond; aber sie starb bald.« – Statt aus Rauchwerk, besteht, wie im walachischen, der Mantel der Heldin aus Läusefellen. Besonders belehrend scheint uns, daß hier an der Stelle der Fahrt in die Unterwelt eine Fahrt in die Außenwelt, d.h. der Übergang über den Ozeanfluß, steht, denn es heißt von der Flucht der Heldin: Sie kam zu einem Fluß und da sollte sie ins Schiff steigen, der Ferge aber wollte sie nicht fahren9 und sagte: »Wenn du nicht versprichst, mich zu nehmen, so ertränke ich dich zur Stelle.« Aber sie wollte den auch nicht. Da warf er sie aus dem Schiffe[368] und sie sprang ans (jenseitige) Ufer des Wassers. Da kam sie zu Steinen und sagte: »Ach, lieber Gott, wenn sich doch hier eine Stube auftäte!« was denn auch geschah. Dieser letztere Zug entspricht dem Gebete des griechischen Aschenputtels in Nr. 2 – Ganz eigentümlich ist, daß die Heldin als Aschenputtel von ihrem Bruder erkannt wird und mit diesem den Hof verläßt, in dem beide gedient haben.

In der neapolitanischen Form Pentamerone Nr. 16 verwandelt sich die Heldin in eine Bärin (Kallisto) durch ein Holzspänchen, das sie in den Mund steckt und das sie von einer Alten erhalten hat. Der Prinz, welcher sie aus dem Walde in sein Schloß genommen, erblickt sie einst in ihrer wahren Gestalt, als sie sich unbelauscht glaubte (s. unser Nr. 14 u. 57), und erkrankt aus Liebe; die Bärin pflegt ihn, und er küßt sie aus Dankbarkeit, wobei ihr das Spänchen aus dem Munde fällt.

Fußnoten

1 Ebenso in dem serbischen Märchen bei Wuk Nr. 28. Siehe weiter zu Nr. 42. Endlich wird die Heldin in ein schwarzes Lamm verwandelt und damit schließt das Märchen.


2 Die Mira deutet auf albanesischen Ursprung dieser Form. Die Erzählerin hatte das Märchen von ihrer Amme, welche aus Morea war, ob Albanesin? wußte sie nicht anzugeben.


3 Unser Märchen Nr. 70 hat die volle Formel für solche Kleider.


4 Über dieses Versalzen der Speisen s. Nr. 21.


5 Μαλλιαρή.


6 Variante zu dem eddischen Ausschneiden Brunhilds aus ihrem Panzer durch Sigurd. – Diese Schere deuten wir auf den, die erste Frühlingsgewitterwolke spaltenden Blitz.


7 Zingerle Nr. 16 gehört hierher.


8 Wie hier die Stiefmutter der Stieftochter eine kleine Schlange ins Wasser gibt und diese in ihrem Leibe wächst, so läßt sich im Pantschatantra Benfey I, S. 369 der Vater einer getöteten Schlange von deren Mörder in der Milch trinken. Auch zu dem Zuge, daß der Prinz die Schlange erblickt und verscheucht, während die Heldin schläft, findet sich ebendaselbst S. 254 ein indisches Gegenbild.


9 Über die sich den Überfahrten über den Orkeanos entgegenstellenden Schwierigkeiten finden sich die Nachweise in des Verfassers »vergleichenden Blicken«.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 364-369.
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