[290] 3. Von dem Schönen und vom Drakos.

Text (aus Kukuli.)

Variante I. Skandalos. (Aus Kukuli.) – Es waren einmal drei1 Brüder, die waren so arm, daß sie zur Erntezeit herumziehen und Arbeit suchen mußten. Auf ihrer Wanderung begegneten sie einer Alten und fragten sie, ob sie niemanden wisse, welcher Schnitter brauche. Diese antwortete: »O ja! hier in der Nähe wohnt ein Mann mit Namen Drakos, der braucht welche, der wird euch aber fragen, ob einer von euch lesen oder schreiben könne, und darauf müßt ihr nein antworten, denn er will keine gelehrten Arbeiter.«

Sie gingen also dahin, und fanden den Drakos auf dem Felde, wo er Korn schnitt, und traten bei ihm in Arbeit. Er stellte sie gleich an, und nachdem sie eine gute Weile geschnitten hatten, fragte er sie: »Wer von euch kann lesen und schreiben?« Sie antworteten, wie ihnen die Alte gesagt hatte: »Niemand.« Da schrieb der Drakos einen Brief, rief den jüngsten der drei Brüder herbei, welcher Skandalos hieß, gab ihm den Brief und sagte ihm, daß er ihn der Drakäna bringen solle. Als nun der Skandalos ein Stück Wegs gegangen war, da kam ihm dieser Auftrag nicht recht geheuer vor; er setzte sich also hin, um besser darüber nachzudenken, warum die Alte ihnen jenen Rat gegeben, und der Drakos den Brief erst dann geschrieben habe, als er erfahren hatte, daß keiner von ihnen lesen könne. Je mehr er alles dieses bedachte,[290] desto verdächtiger kam ihm die Sache vor, und da schien es ihm endlich am geratensten, den Brief zu öffnen, um zu sehen, was darin stehe. Darin stand aber: »Drakäna, der, welcher dir diesen Brief bringt, ist der Skandalos, den schlachte und koche, damit wir etwas zu essen haben, wenn wir nach Hause kommen.« Als das der Skandalos gelesen hatte, da besann er sich nicht lange, sondern schrieb einen andern Brief, in dem stand: »Drakäna, der, welcher dir diesen Brief bringt, ist der Skandalos, dem sollst du zu essen und zu trinken geben, so viel er will, und dann unsere älteste Tochter zu ihm legen.«

Als die Drakäna diesen Brief las, schüttelte sie freilich mit dem Kopfe, aber sie tat gleichwohl alles, was er ihr auftrug, denn der Drakos war ein so strenger Mann, daß sein ganzes Haus vor ihm zitterte.

Nachdem der Skandalos sich satt gegessen, getrunken und geschlafen hatte, ging er wieder auf den Acker. Der Drakos wunderte sich sehr darüber, aber er fragte ihn nur, ob er seinen Brief an die Drakäna richtig bestellt habe, und schrieb darauf einen neuen Brief, in welchem er der Drakäna auftrug, den Skandalos ohne Umstände zu schlachten und zu kochen, und gab ihn diesem zur Besorgung. Der aber machte es wie das erstemal, und als er gegessen, getrunken und bei der zweiten Tochter des Drakos geschlafen hatte, kam er wieder auf den Acker. Als ihn der Drakos erblickte, wurde er zornig und schrieb an seine Frau, daß sie bei Todesstrafe das tun solle, was er ihr aufgetragen habe. Der Skandalos verlangte aber in dem Briefe, den er der Drakäna übergab, ihre dritte Tochter, und nachdem alles geschehen war, wie der Brief vorschrieb, kam er wieder auf den Acker.

Da lief der Drakos in seinem Zorne nach Hause und fragte die Drakäna: warum sie nicht getan habe, was[291] er ihr befohlen. Da sagte diese: »Ich habe getan, was in den drei Briefen stand, so sehr ich mich auch darüber wunderte,« und zum Beweise gab sie ihm die drei Briefe. Als der Drakos las, was darin geschrieben war, wußte er nicht, was er sagen sollte, und rief: »Ach, dieser Hund hat mich angeführt! weißt du, was wir tun wollen; wenn wir heute abend schlafen gehen, so lege jedem von unsern Kindern einen Goldapfel auf den Kopf und dann stehe in der Nacht heimlich auf und schlachte alle die im Schlafe, die keinen Apfel auf dem Kopfe haben, und mache dich gleich daran und koche sie; denn mich gelüstet nach Menschenfleisch.«

Der Skandalos aber war dem Drakos heimlich nachgegangen, als er von dem Acker ging und hatte alles mit angehört, was jener mit der Drakäna sprach. Als sich nun die andern schlafen legten, hielt er sich munter, und sah, wie die Drakäna ihren drei Kindern goldene Äpfel auf den Kopf legte, nachdem sie eingeschlafen waren, und sich dann selber niederlegte. Sowie er nun merkte, daß sie schnarche, stand er auf, nahm die Äpfel von den Köpfen der jungen Draken und legte sich und jedem seiner Brüder einen davon auf den Kopf.

In der Nacht aber stand die Drakäna auf, tastete nach den Köpfen der Schlafenden und schlachtete alle, auf denen sie keine Goldäpfel fand. Dann legte sie sich wieder nieder, um noch ein wenig zu schlummern. Skandalos aber weckte seine Brüder und machte sich mit ihnen aus dem Staube, nachdem er die Goldäpfel zu sich gesteckt hatte.

Darauf kam er zu einem König und trat mit seinen Brüdern bei ihm in Dienst. Dort hatte er den Garten zu wässern, sein anderer Bruder die Pferde zu tränken und der dritte ihnen Futter zu geben. Als nun eines[292] Tages der Skandalos den Garten wässerte, kam die Tochter des Königs aus dem Schlosse und sah ihm zu, und während sie so dastand, zeigte ihr der Skandalos einen Goldapfel. Da rief die Prinzessin: »Ach, Skandalos, gib mir diesen Goldapfel;« er aber sagte: »Wenn ich dir einen Kuß geben darf, so sollst du ihn haben.« »So komm her,« sagte sie darauf; und da küßte er sie und gab ihr den Apfel.

Eines andern Tages zeigte er ihr einen andern Goldapfel, der noch größer war als der erste, und sie rief: »Ach, Skandalos, gib mir den Apfel.« Er erwiderte: »Wenn du mich an deine Äpfel greifen lässest, so sollst du ihn haben.« Da sagte sie: »So komm!« Er koste nun mit ihren Äpfeln und gab ihr dann den Goldapfel.

Endlich zeigte er ihr den dritten Goldapfel und das war der größte von allen. Da rief die Prinzessin: »Ach, Skandalos, du hast den größten für dich behalten und mir die kleinen gegeben, ich will den auch haben.« Er sagte: »Wenn du mich bei dir schlafen lässest, so sollst du ihn haben.« Da sagte sie: »So komm!« und nachdem er bei ihr gelegen, gab er ihr auch den dritten Apfel. Aber zu ihrem Unglück wurde die Prinzessin schwanger, und als dies der König erfuhr, ließ er den Skandalos vor sich rufen und sprach: »Wenn du imstande bist, mir das Flügelpferd des Drakos zu bringen, so will ich dir das Leben schenken, wenn du das aber nicht kannst, so lasse ich dich in Stücke hauen.« – Der weitere Verlauf genau wie im Texte.

Variante 2. Zenjos. (Aus Negades in Çagori. – Auszug.) – Zwölf Brüder, von denen der eine Zenjos hieß, gingen in die Fremde, um Arbeit zu suchen, und übernachteten zuerst in dem Hause der Lamia, die sie zu ihren zwölf Töchtern legte. Zenjos aber hörte, wie sie zu[293] diesen sagte, daß sie schwarze Decken nehmen sollten, damit sie sie von den Gästen unterscheiden könne, die sie in der Nacht mit siedendem Wasser töten wollte.2 Er verwechselt daher alle Decken und die Lamia brüht ihre Töchter.

Zenjos weckt hierauf seine Brüder und sie fliehen heimlich und treten bei einem König in Dienst. Zenjos wird aber, weil er verständiger und daher bei dem König beliebter ist als seine Brüder, von diesen beneidet. Um ihn zu verderben, bewegen sie den König, ihm gefährliche Aufgaben zu stellen.

Die erste Aufgabe, die er vom König erhält, ist, die Bettdecke der Lamia zu bringen, die in der Nacht wie der Tag scheint. Zu dem Ende geht er heimlich in das Haus der Lamia, schüttet all ihr Wasser aus und versalzt ihr Essen. In der Nacht wird die Lamia so durstig, daß sie ihre Tochter3 zum Brunnen schickt und ihr die leuchtende Bettdecke mitgibt, die ihr der Zenjos raubt.

Dann soll er den Hengst der Lamia holen, dieser wiehert aber beim Abbinden und die herbeieilende Lamia ergreift und bindet den Zenjos. Am andern Morgen steckt er die Lamiopula, ihre Tochter, die ihn braten soll, statt seiner in den brennenden Backofen und flieht mit dem Pferde.

Endlich soll er die Lamia selbst bringen. Er steigt, mit einem Schellenkleide angetan, auf ihren Schornstein und ruft: »Ich bin der Chadschi Brulis und bin gekommen, dir das Leben zu nehmen, wenn du dich nicht in diesen Kasten stecken lässest.« Die erschrockene Lamia gehorcht. Der König läßt sie in dem Kasten verbrennen, gibt dem Zenjos seine Tochter und macht ihn zum Nachfolger.

[294] Variante 3. Zozos und die Lamia. (Aus Ziza bei Jannina. – Auszug.) – Der Brüder sind neun und davon ist Zozos4 der jüngste. Auf ihrer Wanderschaft begegnen sie einer Lamia, die ihnen Nachtherberge gibt und ihnen anträgt, sie mit ihren neun Töchtern zu verheiraten. In der Nacht deckte sie aber eine grüne Decke über die neun Brüder und eine blaue Decke über ihre neun Töchter. Darauf ging sie hinaus, um ihre Zähne zu wetzen und die Brüder zu fressen. Der Zozos aber verwechselt die Decken und so tötet die Lamia ihre eigenen Töchter. Die Brüder aber fliehen, und als am andern Morgen die Lamia das Unglück sah, was sie angerichtet, rief sie: »Das hat der Zozos angestiftet, wenn ich ihn treffe, soll er mir's bezahlen.«

Die erste Aufgabe, welche Zozos von dem König auf Anstiften der neidischen Brüder erhält, ist, das Pferd der Lamia zu holen, welches die Wolken trinkt. Als er in dessen Stall kam, sagte er: »Komm, laß dich zum König führen, denn hier hast du nur Knochen zu fressen, dort bekommst du süßes Gras.« Das Pferd aber wieherte so lange, bis die Lamia kam, und sagte ihr: »Der Zozos ist gekommen, um mich zu holen.« Wie dieser aber die Lamia sah, sagte er: »Ich wollte, ich wäre eine Erbse und stäke im Miste des Gaules.« Kaum hatte er das gesagt, so ward er zur Erbse und stak im Miste des Gaules. Erst beim dritten Male sagt ihm das Pferd: »Ich weiß nicht, wie ich aus dem Stalle kommen soll, ohne daß es die Lamia merkt, denn meine Hufeisen klappen auf den Steinen.« Da zog der Zozos seinen zottigen Überrock aus5 und legte ihn dem Pferde unter die Hufe, und so[295] kamen sie zum Stalle hinaus, ohne daß es die Lamia hörte.

Die zweite Aufgabe ist, das Ding von der Lamia zu holen, was aus dem Tage Nacht und aus der Nacht Tag macht. Darüber wurde er von der Lamia gefangen, die ihm die Hände auf den Rücken6 band und ihn ihrer Magd übergab, um ihn im Backofen zu braten, dieweil sie die andern Lamien zum Schmause lud. Der Zozos aber bat die Magd, ihn ein bißchen lockerer zu binden, weil er es nicht mehr aushalten könne, und als sie das tat, machte er sich los und steckte die Magd statt seiner in den Ofen.

Die dritte Aufgabe ist, die Lamia selbst zu holen, weil sie sonst kommen und den König selbst fressen werde. Der Zozos läßt sich aber erst einen Sack mit Schellen machen und setzt sich mit diesem auf die Dachfirste der Lamia, klingelt mit den Schellen und ruft in das Haus herunter: »Lamia, Lamia, krieche in deine Truhe und laß den Schlüssel außen stecken,« und als er dies dreimal gerufen hatte, wurde der Lamia so bange, daß sie in ihre Truhe kroch und den Schlüssel außen stecken ließ. Da stieg der Zozos vom Dach herunter, schloß die Truhe zu, trug sie in das Frankenland, ließ sie dort stehen und legte den Schlüssel darauf. Da kamen die Franken herbei und öffneten die Truhe, um zu sehen, was darin sei; die Lamia aber stürzte heraus und fraß die Franken auf und verfolgte darauf den Zozos, der zuerst seinen Kamm hinwarf, aus dem ein Wald wurde, dann warf er das Salz hin und dieses ward zum Meere, über das die Lamia nicht kommen konnte. (Wo Zozos diese Gegenstände her habe, wird nicht erwähnt.)

Variante 4. Kostanti. (Aus Tinos. – Auszug.)[296] – Kostanti, der jüngste von drei Brüdern, findet, als er mit diesen nach Arbeit sucht, einen ungeschnittenen Weizenacker. Sie machen sich daran, ihn zu schneiden, und über der Arbeit krachen die Berge und der Drakos, der Herr des Ackers, kommt daher und nachdem er sich mit ihnen verständigt, gibt er dem Kostanti einen Brief an die Drakäna; der verwechselt aber den Brief und bringt gute Speisen und Wein auf den Acker.

Als sie in der Nacht beim Drakos schlafen, nimmt der Kostanti der Drakäna den Ring vom Finger und flieht mit seinen Brüdern nach der Stadt; der Drakos verfolgt sie vergebens, denn sie waren schon im Bezirke der Stadt, bevor er sie erreichte. In der Stadt arbeitet Kostanti bei einem Schneider, und aus Neid wegen des Rings stiftet der Älteste den König an, daß dieser von ihm verlangt, ihm die Diamantdecke des Drakos zu bringen.

Unterwegs begegnet Kostanti einer Alten und die weist ihn an, von dem König ein Schilfrohrstück voll Läuse, ein zweites voll Flöhe und ein drittes voll Wanzen zu verlangen. Diese leert Kostanti durch ein in das Dach gemachtes Loch auf das Bett des Drakos, welcher die Decke vor das Fenster hängt, um sich von dem Ungeziefer zu befreien, und von da nimmt sie Kostanti und läuft, was er kann, zur Stadt.

Am andern Morgen trifft ihn der verfolgende Drakos im Bereiche der Stadt und ruft ihm zu: »He Kostanti, was sind das für Streiche? bringe mir meine Decke wieder.« Der aber antwortete: »Die Streiche, die ich dir gespielt habe, sind noch nichts gegen die Streiche, die ich dir noch spielen werde.« Als er die Decke dem König bringt, erhält er dafür einen neuen Anzug.

Nach zwanzig Tagen geht Kostantis ältester Bruder wieder zum König, und flüstert ihm die zweite Aufgabe[297] ein. Sie besteht darin, das Pferd und die Glocke des Drakos zu holen. Auf den Rat derselben Alten verstopft Kostanti die 41 Löcher der Glocke mit Werg, setzt sich auf das Pferd und flieht. Darauf folgt dieselbe Unterredung mit dem nachsetzenden Drakos und Kostanti erhält vom König zur Belohnung zwei neue Anzüge.

Nach zwanzig Tagen rät der Älteste dem König, den Kostanti nach dem Drakos selbst auszuschicken. Auf den Rat der Alten läßt sich dieser vom König zerlumpte Kleider, Schreinerhandwerkszeug, zwölf Nägel und vier Stricke geben, und beginnt den vor dem Tore des Drakos stehenden Platanenbaum zu fällen, um daraus einen Sarg für den verstorbenen Kostanti zu machen. Darüber freut sich der Drakos so sehr, daß er den Sarg selbst macht, und sich hineinlegt, um ihn zu probieren. Kostanti schlägt den Deckel zu, bringt den Drakos zum König, und bittet ihn die Kiste aufzuheben und dann durch seinen ältesten Bruder öffnen zu lassen.

Vorher muß er aber auf dessen Einflüsterung noch den Diamantring der Drakäna holen. Auf den Rat der Alten schreibt er einen Brief an die Drakäna, daß sie ihn braten und für den Drakos herrichten solle, und bringt ihn derselben. Als der Ofen angesteckt, weist ihn diese an, auf die Einschiebschaufel zu steigen, um zu sehen, ob das Feuer brenne. Er fällt immer wieder hinunter, und als die Drakäna ihm zeigt, wie er es machen soll, schiebt er sie selbst hinein, schneidet ihr dann die Brüste aus, und nagelt sie an die Türe.

Bei seiner Rückkehr versammelt sich alles Volk, um die Kiste öffnen zu sehn. Dies muß Kostantis ältester Bruder tun. Der Drakos verschlingt ihn, läuft nach Hause und findet dort das von Kostanti angestellte Unheil.

[298] Anmerkungen. – Das Märchen, welches, wie die Masse seiner Varianten zeigt, zu den allerbeliebtesten gehört, veranlaßte die Aufstellung der Formel Nr. 33.

In den dem Helden gestellten Aufgaben entsprechen sämtliche griechische Formen dem deutschen Meisterdiebe (Grimm Nr. 192).

Im Textmärchen klingt das Verhältnis des Helden zum König an das des Meisterdiebes zum Grafen.

Auch die Überlistung des Schäfers findet in der Überlistung des fahrenden Schülers (Grimm Nr. 146) ihr deutsches Gegenstück.

In sämtlichen Varianten ist die Erzählung in die Formel des besten Jüngsten, Nr. 16, eingekleidet, und die Art und Weise, wie der Jüngste durch Täuschung der Drakäna oder Lamia seine Brüder aus dem Riesenhause befreit und die Tötung der Riesenkinder bewirkt, entspricht dem deutschen Däumling.

In der zweiten Variante ist die Formel b der weiblichen Käuflichkeit eingewebt und sehr geschickt zur Begründung der dem Helden gestellten Aufgaben benutzt.

Die Vergleichung der verschiedenen Formen dieses Märchens mit dem deutschen vom Meisterdieb ist höchst lehrreich für die Abschleifung der Märchenformen, in bezug auf welche die deutsche Form sich am vorgeschrittensten ergibt. Wer diese letztere allein prüft, der findet dieselbe so frei von märchenhaften Anklängen, daß er sie aus der Klasse der Märchen in die der wunderbaren Erzählung schlechthin zu verweisen versucht wird.

Sobald man sie aber mit den verwandten griechischen Märchenformen vergleicht, ändert sich die Sache wenigstens in bezug auf die dem Meisterdieb gestellten Aufgaben, und es geben sich selbst in den verschiedenen griechischen Formen bereits Abschleifungsstufen kund. Denn in[299] der dritten und wohl ältesten Variante holt der Held das Roß der Lamia, welches die Wolken trinkt, wobei er sich in eine Erbse verwandelt, das der Lamia gehörige Ding, das aus dem Tag Nacht und aus der Nacht Tag macht, und endlich die Lamia selbst, nachdem er sie durch einen mit Schellen behangenen Sack, den er auf ihrem Dache schüttelt, so geschreckt hat, daß sie seinem Zuruf gehorcht und sich in ihre Truhe steckt.

In der zweiten Variante holt er den Hengst der Lamia, ihre Bettdecke, die in der Nacht leuchtet, und endlich sie selbst, indem er, in einem Schellenkleide auf ihrem Schornstein sitzend, sie in ihre Truhe scheucht.

In der ersten Variante und im Texte holt er das Flügelpferd des Drakos, dessen mit Schellen behangene Bettdecke und den Drakos selbst in die Kiste, die dieser für ihn selber gezimmert hat.

In der vierten, sehr rohen Variante erscheinen die Diamantdecke, das Pferd und die Glocke mit 41 Löchern, und der Diamantring der Drakäna (die vor des Drakos Haus stehende Platane, aus der der Drakos selbst den Sarg gezimmert, scheint hier bedeutsam).

In dem deutschen Meisterdieb endlich stiehlt dieser das Leibroß des Grafen, indem er wie im griechischen Texte dafür sorgt, daß der Schall seiner Hufe nicht auf dem Pflaster des Schloßhofes gehört werde, das Leintuch des Ehebettes, in dem der Graf schläft, und den Ehering der Gräfin, und endlich den Pfarrer und den Küster, die er auf der Kanzel, also wie in den griechischen Formen hochstehend, in einen Sack steigen läßt.

Die Zusammenstellung der drei Aufgaben ist zu eigentümlich, als daß deren Übereinstimmung zufällig sein könnte; s. Grimm in der Vorrede S. LXII.

Doch auch der erste Teil des Meisterdiebes ist keine[300] neue Zutat, indem er eine ebenso eigentümliche Ähnlichkeit mit dem 24. Buche der Odyssee zeigt; denn hier wie dort ist es ein durch seine Schlauheit ausgezeichneter Sohn, welcher nach langer Abwesenheit unerkannt zu seinem alten Vater zurückkehrt, und hier wie dort gibt sich der Sohn dem Vater im Baumgarten bei einem Gespräche über Fruchtbäume zu erkennen.

Das Versalzen der Speisen, Ausschütten des Wassers und der Raub der Bettdecke bei der Quelle in Var. 2 erinnert an das Versalzen der Speisen und Segurds Tod, als er über der Quelle liegt, in der Vilcinasaga Kap. 345 und 346 und dem farörischen Brinhildlied V. 194. Auch hier scheint uns daher Gudruns blaue Bettdecke, auf der Siegfrieds Blut liegt, sehr bedeutsam und den Schlüssel zu den verschiedenen Drakendecken zu geben, welche ursprünglich ein Bild des wolkenfreien Sternengewölbes gewesen zu sein scheinen, welches der Held, stets nach dem Wolkenpferd des Drakos, zu holen hat. Wir betrachten diese Decke daher als ein Gegenbild zu dem Asenbraukessel, welchen Tor im Spätsommer von Hymir herbeiholt.

Schimmel und Schellendecke des Drakos erscheinen in der fränkischen Sage vom wütenden Heere verbunden. Ihr zufolge reitet Hulda als Anführerin des wütenden Heeres gleich Wuotan auf einem Schimmel, »der Rollegaul« genannt, dessen Satteldecke und Gezäum mit silbernen Glöckchen besetzt sind, die ein wunderbar schönes Geläute geben. Der Schimmel berührt dabei nicht die Erde, sondern schwebt einige Fuß über ihr, oder fährt hoch in der Luft von Berg zu Berg über weite Täler; Mannhardt German. Mythen S. 262 und 712 erklärt ihn für ein Wind- und Wolkenbild, und diese Erklärung läßt sich mit unserm Pferd der Lamia, das die Wolken trinkt, belegen.[301]

Den Mantel, den der Held vor dem Gaule ausbreitet, damit seine Tritte nicht gehört werden, deuten wir gleichfalls auf die Wolke, über die der Sturm hineilend gedacht wird.

Dieser Roßraub ist uns nur eine andere Form für den in der hellenischen Götterlehre so häufigen Rinderraub, des Hermes, Herakles usw.

Der Zug, daß der Held die Lamia statt seiner in den Backofen steckt, wiederholt sich, jedoch weiblich, in dem albanesischen Märchen Nr. 95 und dem deutschen von Hänsel und Gretel bei Grimm Nr. 15. –

Auch Wolf d.M. und S. Nr. 5 enthält eine sehr abgeflachte Form dieses Märchens.

Ebenso der Pentamerone in Nr. 27. Die dem König von den den Helden beneidenden Höflingen eingeflüsterten Aufgaben sind hier das redende Roß des wilden Mannes und dessen Zimmertapeten (nebst Bettdecke) zu holen und dem König dessen Palast zu verschaffen.

Fußnoten

1 Nach einer Variante aus dem Dorfe Çagori sechs Brüder.


2 νὰ τοὺς ζεμάτιον.


3 τὴν λαμιοπούλαν.


4 Zozos ist ein Gemeinwort und heißt der Kleine.


5 φλοκάτα.


6 πισταγκώνησι.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 290-302.
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