[378] 32. Der Sohn des Schulterblattes.

[378] Text (aus Wisiani).

Variante. (Aus dem Dorfe Çagori.) – Es war einmal ein König, der tötete alle Söhne, die ihm geboren wurden, denn er fürchtete, daß sie sein Königreich erben könnten, und glaubte, daß er somit ewig leben werde. Einst wurde ihm aber ein Knabe geboren, der war so schön, daß sich alles Volk erhob, und ihn bat, er möge ihn nur zehn Jahre leben lassen. Der König gewährte ihre Bitte und ließ den Knaben für so lange leben. Als nun die zehn Jahre um waren, da bat das Volk abermals, ihn noch weitere zehn Jahre leben zu lassen, und unterstützte diese Bitte mit so vielen Geschenken, daß er sie gewährte und den Knaben noch zehn Jahre leben ließ. Als aber auch diese Frist zu Ende ging, begannen die Mutter und die Schwester des Prinzen um ihn zu trauern, und jede setzte sich in ein besonderes Zimmer und klagte. Da ging der Prinz zu seiner Schwester und fragte sie, warum sie so traurig sei, und diese erzählte ihm nun, wie es um ihn stehe, und riet ihm, aus dem Vaterhause zu fliehen. Der Prinz bestieg also seine gute Stute, nahm seine Schwester hinter sich und ritt in die Welt. Nachdem sie eine Weile geritten waren, kamen sie in eine Wüste und stiegen auf einen Marmorfels, um Kräuter zu suchen. Dort fanden sie eine Treppe, und als sie diese hinuntergestiegen waren, erblickten sie herrliche Gebäude, die zwölf Schwarzen gehörten, von denen jeder täglich einen Esel verzehrte und ein großes Faß Wasser trank.

Der Prinz tötete elf mit einem Flintenschusse; der zwölfte entkommt und spinnt mit der Schwester des Prinzen einen Liebeshandel an.[379]

Um den Prinzen aus dem Wege zu räumen, stellt sich die Schwester krank und bittet ihn, ihr das Wasser des Lebens zu holen.

Der Prinz stieg also zu Pferde, ritt zu der Lamia, welche das Wasser des Lebens in Verwahrung hatte und klopfte an deren Türe. Da rief die Lamia: »Wer klopft an meiner Türe, an der seit vierzig Jahren niemand zu klopfen wagte?«, Und als sie ihm aufgemacht, begrüßte sie der Prinz und sprach: »Guten Tag, Frau Tante,« und sie erwiderte: »Schön' Dank, junger Held! Hättest du mich nicht Frau Tante genannt, so wärest du des Todes gewesen!« Und er sagte darauf: »Und hättest du mich nicht junger Held genannt, so hätte ich dich totgeschlagen!«

Darauf versprach ihm die Lamia, von dem Wasser des Lebens zu geben, wenn er mit einer Hand einen vier Zentner schweren Stein aufzuheben imstande sei, und als er das getan und den Stein weit weggeworfen hatte, schlug sie mit einem Hammer an den Felsen, bis dieser sich öffnete und sie das Wasser des Lebens schöpfen konnte. In der Nacht aber goß sie es in ein anderes Gefäß und pißte statt dessen in den Krug.

Als der Prinz zu den Marmorhäusern zurückkam, wieherte die Stute nach ihrer Gewohnheit, und da versteckte sich der Schwarze. Die Schwester aber stellte sich krank, und nachdem sie aus dem Kruge getrunken, stellte sie sich gesund und der Prinz ging wieder auf die Jagd.

Am andern Tage aber machte sie auf den Rat des Schwarzen wieder die Kranke und sprach zu ihrem Bruder, daß sie nicht eher gesunden werde, als bis er ihr anvertraut habe, wo seine Stärke sitze. Er sagte ihr darauf: »Sie sitzt in diesen zwei Fingern.« Da wickelte sie[380] ihm ein Kraut1 um dieselben, das ihr der Schwarze gegeben hatte, preßte sie zusammen und rief den Schwarzen herbei; der schlug ihn tot, zerhieb ihn in vier Viertel, steckte ihn in einen Sack und warf ihn in eine Grube. Dort fand ihn die treue Stute und trug ihn zu der Lamia, die ihn wieder zusammensetzte und mit dem Lebenswasser bestrich. Da stand der Prinz wieder auf, rieb sich die Augen und rief: »Ei, wie lange habe ich geschlafen2!« Die Lamia aber erzählte ihm nun, wie seine Schwester und der Schwarze an ihm gehandelt hätten. Darauf erbat er sich von der Lamia zwei Löwen und ließ von ihnen jene beiden mit den Nägeln zerfleischen.

Anmerkungen. – Beide Formen gehören nebst Nr. 24 zur Formel von dem Schwesterverrate Nr. 31, unterscheiden sich aber wesentlich durch ihre Eingänge. In Nr. 24 und Variante zu Nr. 32 ist die Stärke des Helden wenig betont, in dem Texte namentlich seine frühe Entwicklung hervorgehoben.

Der Eingang der Variante bietet auffallende Anklänge an die nordische Sage von König Ön und seinen Söhnen in der Heimskringla I, Kap. 29. Als dieser sechzig Jahre alt war, stellte er ein großes Opfer an und flehte um ein langes Leben, und gab seinen Sohn an Odin und er wurde geopfert. König Ön bekam zur Antwort von Odin, er würde noch sechzig Jahre leben. – – – (Als diese zu Ende gingen, dürfte zuzufügen sein), da stellte er ein großes Opfer an, bat um ein langes Leben und opferte den zweiten seiner Söhne. Odin gab zur Antwort, er soll so lange leben, als er jedwedes zehnte[381] Jahr einen seiner Söhne dem Odin opfere. – – Aber als er den siebenten seiner Söhne geopfert hatte, da lebte er zehn Winter so, daß er nicht gehen konnte; da wurde er auf einem Stuhle getragen. Da opferte er den achten seiner Söhne und lebte wieder zehn Winter; da lag er im Bette. Da opferte er den neunten seiner Söhne und trank aus dem Horne wie ein kleines Kind. Einen Sohn hatte er noch, auch den wollte er nun opfern. – – Aber die Schweden verboten ihm das und das Opfer unterblieb. Darauf starb König Ön.

Hier wie dort ein zu seiner eigenen Erhaltung seine Söhne opfernder König und Rettung des letzten durch Vermittelung der Untertanen; sogar die Zehnzahl in den Fristen trifft zu, wenn auch diese in ihrer Bedeutung voneinander abweichen. –

Ein deutsches Gegenbild dieses Märchens findet sich im Harzmärchenbuch von Ey, S. 154. Der Vater verläßt hier Frau und Sohn und diese ziehen in die Welt, um etwas zu verdienen. Der Sohn findet ein Bändchen an einem Baume, bindet es um den Arm und wird davon riesenstark. Ein Riese heiratet die Mutter und überredet sie, um den Stiefsohn zu verderben, sich krank zu stellen und von diesem Heidelbeeren zu verlangen, von denen er selbst drei essen müsse. Unterwegs zieht er einem Löwen einen Dorn aus der Tatze, und dafür dankbar, schützt ihn der Löwe, als er von dem Genuß der drei Beeren eingeschlafen war, einmal vor Räubern, dann vor Wölfen und endlich vor einer Schlange. Darauf blendet ihn der Stiefvater mit einem Doppelspieße, eine verwünschte Prinzessin führt ihn und den Löwen an einen See, von dessen Wasser er sein Gesicht wieder erhält; er tötet den Riesen und heiratet die Prinzessin, deren verwünschter Vater der Löwe ist.[382]

Bei Wolf d. Hausm., S. 145 entführt die in schändlicher Liebe zu ihrem eigenen Sohne entbrannte Mutter denselben. Sie kommen zu dem Schlosse des schläfrigen, bösartigen Greises, der eine Prinzessin in unterirdischem Verliese gefangen hält (s. griechische Märchen Nr. 6) Der Prinz zieht das weiße Hemd an und erhält davon große Stärke. Er vermählt sich mit der Gefangenen. Auf den Rat des Greises stellt sich die eifersüchtige Mutter krank und schickt ihn in die Löwengrube, um zu ihrer Genesung ein Junges zu holen. Dann ziehen ihm beide das weiße Hemd im Schlafe aus und blenden ihn. Er erhält durch Waschen mit dem in einer gewissen Mitternacht fallenden Tau sein Gesicht wieder.

Noch näher an die griechischen Formen schließt sich Wolfs Märchen vom Kaisersohn und seinem Paten S. 253 an, wo die in den von dem Helden verschonten dritten Riesen verliebte Mutter desselben sich krank stellt und auf des Riesen Anstiften von ihrem Sohne zu ihrer Genesung die Zauberrose aus dem von zwölf Riesen bewohnten Schlosse verlangt, und als sie diese erhalten, dem Helden den Sitz seiner Stärke, ein auf seiner Brust liegendes Zauberbuch, abfragt. Nachdem ihm dieses, während er schlief, entwendet war, blendet ihn der Riese, haut ihm die Hände ab und stößt ihn in die Wildnis. Er erhält sein Gesicht durch das Wasser eines Baches wieder, mit dem er sich wäscht, heiratet die Prinzessin, die er in dem Schlosse der zwölf Riesen gefunden, und bestraft seine Mutter und deren Buhlen.

In der litauischen Form dieses Märchens, Schleicher S. 54, sind die Draken zu zwölf Räubern verflacht; der Held erlegt elf davon, nachdem er sie durch das Erheben des aus dem Vaterhause mitgenommenen Stabes starr gemacht, erschlägt aber den zwölften nur halb. Dieser[383] knüpft mit der Schwester eine Liebschaft an; sie heilt ihn mit Kräutern, die auf dem Boden des Räuberhauses liegen, und stärkt ihn mit Hasen-, Wolfs-, Bären- und Löwenmilch, die sie sich unter dem Vorwande eigner Krankheit von ihrem Bruder verschafft. Dieser verschont alle jene Tiere auf ihre Bitten und erhält dafür von jedem ein Pfeifchen. Als der genesene Räuber ihn töten will, pfeift er die Tiere herbei und läßt ihn und seine Schwester von denselben zerreißen. Hierauf geht das Märchen in die Andromedenformel über.

Das der Textform entsprechende walachische Märchen von Florianu dem Blumensohne bei Schott Nr. 27 stimmt auch in bezug auf die vaterlose Geburt des starken Sohnes überein, s. hierüber die Anmerkung zu Nr. 8. – Doch fehlt dort der Zug des Abfragens der Stärke. Der Held findet seinen Tod bei der Aufgabe, zur Heilung seiner Mutter das Lebenswasser zu holen, das auf dem schwarzen Berge neben dem weißen See vom Tode selbst gehütet wird. An der Quelle ergreift ihn ein Wirbelwind, zerreißt ihn in tausend Stücke und zerstreut sie an dem Ufer des weißen Sees, dessen Wassermädchen ihn wieder zusammensetzen und mit Lebenswasser beleben und ihm die Wahrheit sagen. Er tötet den Drachen, läßt seine Mutter einsam im Drachenschlosse und zieht auf weitere Abenteuer in die Welt.

Fußnoten

1 κικλίδια.


2 Ebenso der wiederbelebte starke Hans Nr. 64 und die Entsteinerten in Wolf, D.M.u.S., Nr. 27, S. 140.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 378-384.
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