[405] 50. Von dem weiberscheuen Prinzen.

S. Formeln Nr. 17 und Nr. 3. –

Dieser kleine, aus Aïwali (Kydonia) in Klein-Asien stammende Roman mutet uns an, als ob er einem gedruckten Buche nacherzählt sei, denn die schwächliche Weichheit seiner Charaktere erinnert an die Romane der späteren byzantinischen Zeit, welche mit den Produkten der empfindsamen deutschen Literaturepoche große Ähnlichkeit zeigen. – Dennoch betrachten wir den Kern unserer Erzählung als mythisch, denn die Verkappung des Helden als Weichselzopf und sein freiwilliges Aschenbröteltum sind ja beliebte Züge des griechischen Märchens und fällt daher unter die Formel Nr. 36 (doch fehlt Zug b). Die von ihrem Gatten getrennte Prinzessin, welche ein Kloster[405] gründet, dort ihrem Schmerze lebt und endlich von ihrem Gatten wieder aufgefunden wird, klingt an die gute Frau im Märchen Nr. 16 an und bildet mit ihr eine Variantenklasse zur Penelopenformel Nr. 3.

Am beachtenswertesten aber scheinen uns die Anklänge zu sein, welche das Verhältnis zwischen Vater und Tochter zu dem des Alkmäon und der Tisiphone bietet, wie es uns von Apollodor III, Kap. 7, § 7 berichtet wird. Euripides sagt1: »Alkmäon zeugte zur Zeit seines Wahnsinns mit Manto, der Tochter des Tiresias, zwei Kinder, Amphilochos und Tisiphone. Er brachte die Kinder nach Korinth und übergab sie dem König der Korinther, Kreon, zur Erziehung. Die Tisiphone aber, welche sich durch ihre Schönheit auszeichnete, wurde von der Gattin des Kreon in die Sklaverei verkauft, weil diese fürchtete, daß sie Kreon zu seiner Frau machen könnte. Alkmäon kaufte sie und hatte sie zur Sklavin, ohne zu wissen, daß es seine Tochter sei. Als er darauf nach Korinth ging, um seine Kinder abzuholen, brachte er auch von dort seinen Sohn mit.«

Apollodors Erzählung bemerkt zwar nicht ausdrücklich, daß Tisiphone ihr Schicksal vor Alkmäon verheimlicht habe, dies muß jedoch vorausgesetzt werden, und somit gibt sich unser Märchen nur als eine Variante zu der von Euripides behandelten Sage. Da nun, wie wir in unseren »vergleichenden Blicken« gezeigt haben, die euripidische Sage und die nordische von Aslaug, Sigurds Tochter, viel Gemeinsames haben und Aslaug als Kind von einem Harfner in seiner Harfe geboren wird, so ergibt sich in dem Zitherspiele der jungen Heldin des griechischen Märchens ein neues Verbindungsglied zwischen Aslaug und Tisiphone.[406]

Aus dieser Ansicht folgt, daß wir Euripides von dem Verdachte willkürlicher Sagenerdichtung in diesem Falle ebenso freisprechen müssen, als in seinen Schutzflehenden. Da er die bekannteren Sagstoffe von seinen Vorgängern bereits bearbeitet fand, so mußte er sich, um neu zu sein, an weniger geläufige Sagen wenden. Die männlich gefaßte Tisiphoneformel findet sich sogar zahlreich in Indien vertreten. »Es gibt eine Menge Erzählungen von geraubten Prinzen, die als Sklaven zu ihren Eltern unerkannt zurückkommen und erst, wenn sie hingerichtet werden sollen, erkannt werden.« Benfey, Pantschatantra II, S. 201. Derselbe führt ein Märchen aus dem Anvar-i-Suhaili an, welches besonders an die vorerwähnten anklingt. Ein König wendet einem Schuhmacher seine Gunst zu und vertraut ihm sein Söhnchen an. Der Schuhmacher entführt den Knaben in seinem vierten Jahre, beraubt ihn seiner Kostbarkeiten und verkauft ihn als Sklaven. Der neue Herr verkauft ihn an seinen Vater, der ihm seine Gunst zuwendet; diese benutzt des Königs Juwelier, um ihn zu verführen, des Königs Siegel zu stehlen. Als ihn dieser dafür hinrichten lassen will und ihn entkleiden läßt, erkennt er in ihm an einem Male seinen verlorenen Sohn.

Fußnoten

1 In seinem zweiten Trauerspiel Alkmäon.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 405-407.
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