[475] 70. Der Goldäpfelbaum und die Höllenfahrt.

[475] Text (aus Syra).

Variante. (Aus Tinos.) – An dem Äpfelbaume wächst jährlich nur ein Apfel. Auch die beiden älteren Königssöhne, welche den Apfel vor dem Drakos bewachen wollen, nehmen ein Buch mit, um sich durch Lesen den Schlaf zu vertreiben, schlafen aber doch ein.

Der in die Unterwelt hinabgestiegene jüngste findet die mit den goldenen Äpfeln spielenden drei Prinzessinnen in einem Gemach.

Der Drakos ist nicht todwund, sondern hat sich selbst die Heilmittel für seine Wunde geholt, und auf den Rat des Helden fragen ihm die drei Prinzessinnen den Sitz seiner Stärke ab. Er sagte ihnen aber zuerst, daß sie im Spiegel sitze; da fingen diese an, den Spiegel zu schmücken und zu reinigen. Als das der Drakos sah, lachte er und sie beklagten sich, daß er sie getäuscht habe; da sagte er, seine Stärke sitze in dem Besen; mit dem machten sie es ebenso, und endlich sagte er ihnen die Wahrheit, daß sie in drei Tauben sitze, die im Bauche einer Sau wären, welche auf dem und dem Berge lebte. Auf diesen Berg könne man aber nur auf dem Fohlen gelangen, welches die geflügelte Stute auf dem und dem Berge werfe, dieser aber sei von lauter hungrigen Ungeheuern bewohnt, die das Fohlen auffräßen, sobald es geboren sei. Da ging der Jüngling in das Dorf, das bei dem Berge lag, auf dem die geflügelte Stute lebte, und kaufte dort eine ganze Herde Ochsen. Diese gab er jenen Ungeheuern zu fressen, so daß sie satt waren, als das Fohlen zur Welt kam, und er es vom Berge mit sich nehmen konnte. Er zog es mit großer Sorgfalt auf, und als es[476] groß geworden, fragt es ihn, wie es ihm das Gute vergelten solle, das er ihm erwiesen habe; und als ihm der Jüngling sein Vorhaben erklärt hatte, sagte es, daß die Sau von ungeheurer Stärke sei und daß er sie nur fällen könne, wenn er ihr in den Leib steche. Der Prinz befolgte den Rat, tötete die Sau und zwei von den Tauben, und behielt nur die eine, so daß der Drakos nur noch atmete. Darauf ließ er das Fohlen frei, weil er es nun nicht mehr nötig hatte. Dieses gab ihm aber zum Abschied ein Haar seines Schweifes, das er anbrennen solle, wenn er seiner bedürfe. Im Palaste fand er den Drakos im Todeskampfe; dieser bat ihn, die eine Taube loszulassen, und er wolle ihm dafür alle seine Schätze schenken. Aber er erwürgte sie vor seinen Augen und damit starb auch der Drakos.

Darauf ging er zu seinem Vater und holte Lasttiere und großes Gefolge, um die Schätze des Drakos und die drei Prinzessinnen nach Hause zu bringen. Als er zuletzt die Stiege, die nach des Drakos Wohnung führt, hinaufsteigen will, lassen die ihm neidischen älteren Brüder die obere Tür schließen und er muß unten bleiben.

Hierauf durchsucht der Prinz das Haus des Drakos, findet eine Falltür und steigt auf dieser in eine neue Welt (νέον κόσμον) hinab.

Nun folgt die Andromedenformel wie im Texte.

Die Schlange, welche die Prinzessin fressen soll, ist nur siebenköpfig.

Um ihren verborgenen Befreier aufzufinden, läßt die Prinzessin durch ihren Vater ein großes Gastmahl veranstalten, bei welchem alles, was lebt, also nicht bloß die Menschen, sondern auch die Tiere, erscheinen sollen. Die Alte, bei welcher der Prinz abgestiegen, konnte ihn aber auf keine Weise bewegen, mit ihr zu gehen, doch um ihn[477] nicht hungrig zu lassen, steckte sie etwas von den Speisen für ihn ein. Der König bemerkte das, und sie redete sich damit aus, daß sie einen Hund zu Hause habe, den sie füttern wolle. Sie mußte also nach Hause gehen, um ihn zu holen.

Nachdem der Held den Mohren der Lüge überwiesen hatte, bot ihm der König zum Lohne für seine Tat die Hand seiner Tochter und seinen Thron an. Der Prinz aber erzählte ihm nun seine ganze Geschichte und verschwieg auch nicht, daß er schon verlobt sei, und darum sein Schwiegersohn nicht werden könne. Zuletzt bat er ihn, daß er ihn auf die Oberwelt zurückbringen lassen solle. Der König versprach ihm dies, weil seine Tochter die Königin der Vögel sei. Diese berief alle Vögel zusammen und befahl den größten von ihnen, den Prinzen auf die Oberwelt zu bringen.

Als die Vögel dort mit ihm ankamen und sahen, daß er nicht gehen könne, spie ein jeder wieder aus, was er von seinem Fuße gefressen hatte, und so wurde dieser wieder heil.

Der Schneider, welchen er als Grindköpfiger anspricht, ist ein blutarmer Mann, nimmt ihn aber doch aus Barmherzigkeit in seine Dienste.

Zur Arbeit begehrt er Haselnüsse, Kastanien, Mandeln, guten Wein und eine Frist von vierzig Tagen. Der Schneider sah von Zeit zu Zeit durch das Schlüsselloch, was der Grindige tue, und verlor alle Hoffnung, weil er ihn nur essen und trinken sah.

Als nun der König die Prinzessin nach Erfüllung ihrer Wünsche abermals drängt, sich einen Mann zu wählen, da verlangt sie, daß er ein Gastmahl anstellen solle, bei dem alle Welt erscheinen müsse, und als die Gäste bei Tische saßen, ritt der Prinz auf dem herbeigerufenen[478] Fohlen in goldener Kleidung durch den Saal. Darauf erklärte die Prinzessin, daß sie diesen und keinen anderen zum Manne haben wolle. Der König fragte, wie sie es anfangen sollten, ihn zu finden, und sie antwortete, daß der, welcher die drei Kleider gemacht habe, auch imstande sei, diesen Jüngling herbeizuschaffen. Als nun der Schneider herbeigerufen wurde, gestand er, daß diese Kleider sein grindköpfiger Diener gemacht habe. Dieser aber wollte sich nicht dazu verstehen, ins Schloß zu kommen, und daher bequemt sich endlich der König, mit der Prinzessin in die Schneiderwerkstatt zu gehen, wo die Erkennung stattfindet. Die beiden bösen Brüder werden in die Verbannung geschickt.

Anmerkungen. – Diese Erzählung besteht aus einer Märchenkette, in welcher die Formel vom besten jüngsten den Rahmen bildet, und dieser entspricht dem deutschen bei Grimm Nr. 57.

In diesen Rahmen sind eine der deutschen (in Grimm Nr. 60) entsprechende Andromedaversion, eine Höllenfahrt und ein Kampf des Starken mit dem Drakos eingeschoben.

Der Hauptheld ist daher hier wie dort der jüngste von drei Brüdern, doch ist er in der griechischen Form kein Dümmling, sondern mit ungeheurer Stärke begabt. In seiner Verkappung als grindiger Diener des Schneiders zeigt er sich aber als männlicher Aschenpuddel, und dieser Zug verbunden mit seiner großen Stärke stellt ihn zu dem Dietlieb der Amelungensage.

Im deutschen Märchen tritt an die Stelle des Drachen der Goldvogel als Apfeldieb.

Die mit den Goldäpfeln spielenden Prinzessinnen stellen sich zur Goldschmiedin Nr. 29 und ihren Gefährtinnen.[479]

Daß der König aus Kummer sein Schloß schwarz anstreichen läßt, findet sich auch in Nr. 102.

Eine Parodie auf den Zug des Herablassens in die Unterwelt findet sich in Nr. 74.

Das Verwechseln der Fläschchen an dem Bette des Drachen erinnert an das Verwechseln des Standes des Todes bei Grimm Nr. 44. Sie erscheinen auch in dem entsprechenden Märchen bei Wolf, D.M.u.S., Nr. 21, sind aber dort mit Stärketränken, die die Jungfrauen dem Helden, und mit Schlaftränken gefüllt, die sie den Riesen geben.

Der Zug, daß die Erde erzittert, wenn den Helden seine Stärke überkommt, findet sich auch in Nr. 64, Variante 3.

Die Verlobte des Helden begegnet sich mit unserer deutschen Gudrun darin, daß sie, weil sie die Heirat verweigert, Magddienste verrichten muß.

Die Befreiung der Jungfrau durch Tötung des über das Quellwasser gebietenden Drachen unterscheidet sich von er deutschen Erzählung im wesentlichen nur dadurch, daß der Held die Befreite nicht heiratet und das Ganze in der zweiten Unterwelt spielt. Diese zweite Unterwelt findet sich auch in Wolf, D.M.u.S., Nr. 21, S. 103 angedeutet, wo sich der Held von dem unterweltlichen alten Weibchen tief tief ins König reich der Zwerge hinabläßt.

Der Baum, auf dessen Gipfel Adler wohnen, welche von unten durch eine achtzehnköpfige Schlange angegriffen werden, erinnert lebhaft an die Esche Yggdrasil, auf deren Gipfel ein Adler sitzt und deren Wurzeln von der Schlange Nidhöggr benagt werden, während ein Eichhorn Scheltworte zwischen beiden hin und her trägt. Eine Variante dazu in Nr. 61.[480]

Das Herauftragen aus der Unterwelt durch Vögel wiederholt sich in dem albanesischen Märchen Nr. 97 und in dem deutschen bei Wolf, D. M u.S., Nr. 21, wo die hundert Spatzen der Zwerge dazu zu schwach erscheinen; diese verweisen ihn daher an den Vogel Greif der unterirdischen Alten, zu dessen Futter er aber, um von ihm nicht selbst gefressen zu werden, hundert Pfund Fleisch mitnehmen muß.

Über den Schaden, den der unbekannte Prinz im Königsschlosse mit seinem Pferde anstiftet, s. Nr. 6.

Die entsprechenden deutschen Formen für die Höllenfahrt, die Erlösung der dort gefangenen Jungfrauen und die Treulosigkeit der beiden Gefährten des Helden sind Grimm Nr. 91 und Varianten und Nr. 166, Wolf, D.M.u.S., Nr. 21. Die walachische Form ist Schott Nr. 10. Doch sind hier die treulosen Gefährten nirgends die Brüder des Helden.

Das vorliegende Märchen enthält die volle Formel für die Wunderkleider. In der Variante 2 zu Nr. 27 heißt es bloß, daß sie ohne Naht noch Schnitt sein sollten; in den übrigen Märchen stecken sie nur in Nuß, Haselnuß, Mandel oder Feige.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 475-481.
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