[483] 73. Filek-Zelebi.

Aus Kreta. –

Dem ersten Teil des Märchens liegt derselbe Gedanke wie dem vom Hundskopf Nr. 19 zugrunde, daß die jüngste Schwester die tüchtigste ist.

Der zweite Teil ist eine sehr liebliche Version der Frejaformel Nr. 1.

Das Verbindungsglied zwischen beiden, das Öffnen der Brust des Geliebten mit dem goldenen Schlüsselchen, ist nicht nur höchst eigentümlich, sondern verdient auch deswegen besondere Beachtung, weil es ein Gegenstück zu dem Hauptzug des Schneiders im Himmel bei Grimm Nr. 35 liefert, der sich auf Gottes Sessel setzt. »Von da sah er alles, was auf Erden geschah, und bemerkte[483] eine alte häßliche Frau, die an dem Bach stand und wusch und zwei Schleier heimlich beiseite tat. Der Schneider erzürnte sich bei diesem Anblick so sehr, daß er den goldenen Fußschemel ergriff und durch den Himmel auf die Erde hinab nach der alten Diebin warf.« Beide Figuren müssen ihre Tat büßen.

Diese Übereinstimmung möchte ein Beweis mehr dafür ein, daß der Kern des deutschen Märchens vorchristlich ist.

Das Fensterchen in Filek-Zelebis Brust, durch das die Heldin auf die Erde herabsieht, läßt sich wohl nur auf ein Sonnenfensterchen deuten, das sie öffnet, und hiernach ergäbe sich Filek-Zelebi als die verkörperte Sonne. In diesem Zusammenhange verbreitet der Zug Licht über das Himmelsfenster, aus dem Odin und Frigg bei der bekannten Namengebung der Longobarden heruntersehen, und wir erkennen darin ein ähnliches Sonnenfenster.

Ist aber Filek-Zelebi die Sonne, so dürfte die Hand, die er der Heldin zu essen gibt, wohl auf die Mondsichel des letzten Viertels zu deuten sein, wenn man damit den finnischen Sprachgebrauch verknüpft, nach welchem der abnehmende Mond gegessen wird, und zwar von den Kapeet genannten Dämonen. Siehe Vorlesungen über die finnische Mythologie von Castrén, S. 65. –

Das Verständnis dieses Zuges beruht auf dem unübersetzbaren Doppelsinn der griechischen Proposition εἰς, nach welchem die Antwort der Hand ebensogut: an oder auf als in dem Leibe des Mädchens verstanden werden kann.

Da nun der Mond der Zeitmesser ist, so scheint uns der Zug ausdrücken zu wollen, daß mit der Vermählung des Filek-Zelebi ein neuer Zeitabschnitt beginne.

Bei Grimm Nr. 31 werden dem Mädchen ihre vom Vater abgehauenen Hände auf den Rücken gebunden.[484]

Bei Schleicher S. 22 trägt der eine Knabe die abgehauene Hand der verstoßenen Mutter immer auf der Schulter.

Die eisernen Schuhe finden sich auch in Nr. 102 und im Pentamerone Nr. 44 sieben Paare.

Wolf, S. 213, hat statt ihrer ein Paar eiserne Schuhe, die der Held zerreißen muß.

Das neapolitanische Gegenstück unseres Märchens findet sich in Pentamerone Nr. 19. Die Heldin, von einem Mohrensklaven in ein prächtiges Schloß gebracht, vermeidet auch hier auf den Rat ihrer Schwestern den Schlaftrunk und öffnet ein nicht näher bezeichnetes Vorhängeschloß, sieht durch die Öffnung und ruft: »Jungfer, hebt euer herabgefallenes Garn auf!« – Die wandernde Verstoßene gebiert einen wunderschönen Knaben in einem Königsschlosse, zu welchem allnächtlich der Vater kommt, der aber beim ersten Hahnschrei verschwindet. Die Königin erkennt in ihm ihren Sohn und läßt alle Hähne schlachten, wodurch der an ihm haftende Zauber gebrochen wird.

Der hier erscheinende Hahnschrei, mit dem der Held aufbrechen muß, bestätigt die oben versuchte Deutung. Auch Pentamerone Nr. 44 gehört hierher.

Quelle:
Hahn, J[ohann] G[eorg] v[on]: Griechische und Albanesische Märchen 1-2. München/Berlin: Georg Müller, 1918, S. 483-485.
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