[88] 16. Blitz und Donner

[88] Es war einmal ein Mädchen. –

Eines Tages rief ihr Vater es zu sich und sprach: »Mein liebes Kind, ich muß dir sagen, daß du vielleicht bald allein in der Welt stehn wirst. Ich bin alt und werde wohl bald sterben. Ich bin arm und kann dir nur ein Schwein hinterlassen. Vielleicht bringt es dir Glück. Weide es draußen im Walde!«

Und das Mädchen weidete das Schwein im Walde. Plötzlich erblickte es in der Ferne einen Baum, der wie die Sonne erstrahlte. Es ging darauf zu und wurde von seinem Glanze geblendet. Alle Zweige und Blätter schienen aus Sonnenlicht gewebt. Das glückliche Mädchen füllte damit seine Taschen und auch den Sack, in dem es Waldgras mitbringen sollte. Und das Schwein verschlang davon so viel, daß es beinahe geplatzt wäre. Und als sie heimkamen, fand der Vater, daß die glänzenden Zweige aus Gold waren.

Am folgenden Tage ging er mit der Tochter in den Wald und sah, daß auch der Stamm und die Wurzeln des Baumes aus Gold waren. Da nahm er die mitgebrachte Säge, fällte den Baum und legte das Holz auf einen Wagen, um es nach Hause zu schaffen. Beim Ausroden des Wurzelstocks gewahrten sie einen Kamin mit einer Treppe von 365 Stufen. Der Vater sagte: »Es ist gefährlich, hinabzusteigen. Wir wollen lieber heimkehren.« Aber die mutige Tochter entgegnete: »Ich möchte doch sehen, was das ist!«

Unten angelangt, betrat sie einen großen Vorraum und daran anschließend viele, viele Säle und Zimmer, alle leer. Im letzten Saale gewahrte sie einen Schatten, der ihr entgegenrief: »Wer bist du? Was willst du?« – »Ich heiße Rosinella und bin[89] bereit, dir zu dienen.« – »Gut! Gut!« brummte der Schatten. »Dann kannst du hier bleiben und sollst alles haben, was du nur willst! Du darfst überall herumgehen, bloß mein Zimmer dort darfst du niemals betreten, weder am Tage, noch in der Nacht!«

Ein Jahr lang befolgte sie diesen Befehl. Dann aber vermochte sie in einer Nacht ihre Neugierde nicht länger zu beherrschen. Sie öffnete leise die Tür, und vor ihr lag ein schlafender Jüngling, schön wie ein Engel. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, seine Wangen zu streicheln und ihm einen Kuß auf die Stirn zu drücken. –

Am Morgen fragte der Schatten: »Rosinella, was hast du in der Nacht in meinem Schlafzimmer getan?«

»Nichts, nichts!« stotterte sie ängstlich. – »Lüge nicht!« – Da gestand das schämige Mädchen den strafbaren Ungehorsam.

»Es tut mir sehr leid,« fuhr der Schatten fort, »nun kannst du nicht länger hier bleiben.« Und das betrübte Mädchen entfernte sich weinend.

»Komm her!« befahl der Schatten. »Ich schenke dir noch ein paar eiserne Schuhe. Solange sie halten, wirst du leben. Auch gebe ich dir einen Korb voll getrockneter Feigen. Wenn du in die Stadt kommst, wirst du auf der Terrasse über einem Bogen meine drei Schwestern sitzen sehen, die dort spinnen. Drehe dich aber weder links noch rechts um, und antworte nicht auf ihre Fragen. Sie würden dich fressen. Wenn dann aber ihre Spindeln herunterhängen, so knüpfe an jede eine Feige! Laß dich aber nicht erblicken! – Dann wirst du sehen, was weiter geschieht. Und wenn du ein Jahr, drei Monate und drei Tage alle dich erwartenden Prüfungen glücklich bestanden hast, werde ich, Donner und Blitz, dich heiraten.« –

Rosinella machte sich auf den Weg, und als sie an die Terrasse[90] kam und die drei Schwestern sitzen sah, tat sie alles genau so, wie es der Schatten ihr befohlen hatte. Zuletzt holten die drei Spinnerinnen sie aus Dankbarkeit zu sich hinauf.

Bald darauf kehrte Luisa, ihre Mutter, zurück. »Versteck dich!« riefen sie, als sie nahte. »Unsere Mutter ist eine Menschenfresserin. Sie darf dich nicht finden!« Und sie verbargen sie unter einer Tonne. –

Die Mutter erschien, und schnüffelnd schrie sie sogleich: »Oh, oh! Ich wittere Christenfleisch.« Aber die Schwestern entgegneten ihr: »Du bist wohl von Sinnen! Hier ist niemand.« Und die Alte suchte vergebens.

Wie sie wieder fort war, ließen die Schwestern das Mädchen heraus und sprachen: »Wenn unsere Mutter nachher heimkommt, versteckst du dich schnell unter die Matratze ihres Bettes! Und wenn sie dich findet und umbringen will, so fasse sie schnell an den Haaren und lasse sie nicht los, auch wenn sie bei ihrem Haupt oder Leben schwört, dich zu verschonen! Nur wenn sie bei ihrem Sohne Blitz und Donner schwört, kannst du sie loslassen.« –

Die Gefürchtete kehrte denn auch bald wieder und rief: »Oh, oh! Ich wittere Christenfleisch!« Und sie suchte, bis sie Rosinella gefunden, die die Schändliche geschwind bei den Haaren erfaßte und nicht lockerließ, bis sie beim Leben ihres Sohnes Blitz und Donner schwur. Dann war sie sicher vor ihr.

Am anderen Tage gab sie dem Mädchen zwei leere Bettüberzüge und befahl ihm: »Fülle diese Überzüge mit den Federn, die auf dem Fußboden liegen! Wenn heute abend die Kissen nicht gefüllt sind, wirst du geschlachtet!«

Die Ärmste erkannte bald, daß mit diesen wenigen Federn nicht viel anzufangen war und sie mit dieser Arbeit nicht zustande kommen würde. Und sie fing an zu weinen. Da vernahm sie[91] plötzlich ein leises Donnergrollen und gewahrte vor dem Fenster eine leuchtende Erscheinung, die ihr zurief: »Weine nicht, Rosinella! Ich helfe dir.«

Und siehe, auf seinen gellenden Pfiff kam eine Unzahl von Vögeln in die Stube geflogen und schüttelten ihr weiches Gefieder auf das Bett. Bald waren die Kissen gefüllt und bereit, lange bevor die Gebieterin erschien.

Als diese hereintrat und die strotzend vollen Kissen erblickte, murmelte sie: »Aha! Ich weiß, wer dir geholfen. Morgen werde ich dir etwas ganz anderes zu tun geben.«

Frühzeitig sperrte sie Rosinella in eine Kammer, in der sich ein gewaltiger Haufen von allerlei Körnern und trockenen Gemüsen befand: Getreide, Lupinen, Bohnen, Erbsen, Wicken, Kürbiskernen usw., alles durcheinander. »Sortiere das ganze Gemenge und lege jede Art für sich in kleine Haufen! Und wenn du am Abend nicht fertig bist, wirst du morgen gebraten.«

Die Unglückliche begann laut zu weinen. Im Nu erschien Blitz am Fenster und sprach: »Weine nicht, Rosinella!« Dann rief er mit Donnerstimme: »Herbei mit deinen Heerscharen, König der Ameisen!« Und auf der Stelle schwirrten Millionen fliegender Ameisen summend zum Fenster herein und sonderten die verschiedenen Korn- und Kernsorten in lauter kleine Haufen. Und als die lüsterne Hexe am Abend zurückkehrte und die Arbeit vollbracht fand, konnte sie Rosinella nichts anhaben.

Am nächsten Morgen schickte sie das arme Mädchen zu ihrer Schwester, um ein schönes Kästchen von der Kommode im Besuchszimmer zu holen, zugleich aber auch einen Brief abzugeben, worin die Schwester gebeten wurde, die Überbringerin zu verschmausen und ihr ein Stück vom Braten übrig zu lassen.

Unterwegs traf die Jungfrau einen schönen Jüngling, der ihr den Rat gab, auf ihrer Hut zu sein. »Wenn die Schwester die[92] Tür öffnet und sagt: ›Warte ein wenig!‹ Tu's nicht! Denn sie würde dir die Tür vor der Nase zuschlagen, und du könntest deinen Auftrag nicht ausrichten. Und wenn sie dann im Saal dir abermals zuruft: ›Warte einen Augenblick!‹ Laß dich nicht aufhalten! Nimm schnell das Kästchen und laufe davon! Denn sie würde nur geschwind noch das Messer wetzen und ihre Zähne prüfen, um dich zu verspeisen. – Dann wirst du an der Treppe ein Pferd und einen Papagei antreffen, die dich totbeißen wollen. Gib diesen Sack Hafer dem Pferde und diesen Zwieback dem Papagei! Und sie werden dich verschonen.«

Rosinella befolgte alles, was der Jüngling ihr befohlen hatte, und wollte das Haus ihrer Herrin schon wieder betreten, als ihre Neugierde sie verführte, das Kästchen zu öffnen, um zu sehen, was für Kostbarkeiten darin lagen.

Brrrr! schwirrten zahllose Vögel heraus, und das erschrockene Mädchen vergoß heiße Tränen. »O weh! Ich habe auch immer Pech! Wenn ich jetzt mit der leeren Schachtel heimkomme, bin ich verloren!«

Da ließ der Jüngling, der sie beobachtet hatte, seine Pfeife ertönen, und die Vögel eilten alle wieder herbei. Rosinella überbrachte sie der Wütenden, die außer sich war, daß alle ihre Arglist und Zauberkraft versagte.

Nun wollte sie ihren Sohn zwingen, das häßliche Weibsbild zu heiraten, das sie ihm zugedacht hatte. Aber ehe er mit ihr zum Traualtar schritt, sprach er zu Rosinella: »Gib mir einen Kuß!«

Sie schämte sich aber und sagte: »So vor allen Leuten? Nicht um die Welt!«

»Oho! Sie will nur die Spröde spielen«, rief die Häßliche. »Was ist denn dabei, einem jungen Burschen einen Kuß zu[93] geben? Ich habe neulich einem Schweinehirten drei Küsse für drei Kastanien gegeben.«

Durch diese Rede erregte sie jedoch seinen Abscheu dermaßen, daß er ihr hohnlachend zurief: »Dann kannst du auch den Sauhirten heiraten! Ich aber heirate die keusche Rosinella, die mir in meinem unterirdischen Palaste gedient, dann ein Jahr, drei Monate und drei Tage auf mich gewartet und im Hause meiner Mutter viele Gefahren und Verfolgungen erduldet hat.« –

Und als die Hexe nun sah, daß ihre Macht verloren gegangen, stürzte sie sich in den Brunnen.

Quelle:
Zschalig, Heinrich: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen von Capri. Dresden: Verlag Deutsche Buchwerkstätten, 1925, S. 88-94.
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