IV. Nachwort und Anmerkungen


Aber Volksdichtungen aus Capri mich zu äußern und Proben davon in Vorträgen und Aufsätzen mitzuteilen, war mir oft schon vergönnt, durch den Druck erstmalig in zwei Dezembernummern der »Grenzboten«, 1911. Weitere Fortsetzungen sollten 1914 folgen, konnten aber, durch den Krieg zurückgedrängt, erst 1919 erscheinen. – Die eigenartigen Dichtungen fanden viel Anklang, namentlich auch in der Presse, was die Herausgabe in Buchform veranlaßte.

Die nun gesammelt hier vorliegenden volkskundlichen Beiträge verdanke ich meist zufälligen Begegnungen.

Bei der deutschen Wiedergabe habe ich mich möglichst genau an die oft mühsam erlauschte mündliche Überlieferung gehalten. Nur gelegentlich, wo Deutlichkeit und Vollständigkeit kleine Änderungen und Zusätze verlangten, habe ich mich dazu entschlossen. Dabei war ich jedoch ängstlich bemüht, das italienische Gesamtgepräge zu wahren, soweit eben von einem ausgesprochenen Sondercharakter die Rede sein kann; denn die meisten unserer Volksmärchen sind bekanntlich gemeinsames Wandergut aller Kulturvölker, dem aber jedes Land seine eigene Ausgestaltung verliehen hat. So spiegelt sich auch in den phantasievollen italienischen Märchengebilden, wie mehr oder weniger in den anderen Erzeugnissen der Volksdichtung, den Tarantellaliedern, Legenden, Schwänken und Sagen die italienische Volksseele. – Da es aber meine Aufgabe nicht sein kann, eingehende Erörterungen hierüber anzustellen, mögen die kurzen sachlichen Hinweise in den nachfolgenden Anmerkungen genügen. Aber auf einige Hauptquellen des italienischen Märchenstromes hinzudeuten, möchte ich doch nicht unterlassen.

Unzweifelhaft stammen viele Entlehnungen aus dem großen altindischen und arabischen Märchenschatz, besonders aus Tausend-und-einer Nacht. Ebenso verhält es sich mit griechisch-römischen Götter- und Heldensagen. – Deutlicher verraten dagegen einige Erzählungen ihre Herkunft aus einer dritten Hauptader, dem altfranzösischen Ritterroman. – Am zahlreichsten sind jedoch die Anklänge[215] an allerlei neugriechische Märchen, was schließlich auch von den fast ebenso häufigen Erinnerungen an deutsche, französische, englische und skandinavische Märchen gilt. – Die im allgemeinen zwanglose Anordnung der Märchen folgt diesen Gesichtspunkten.




I.

Als ausgesprochene Capridichtungen dürfen wir größtenteils die in unserer zweiten Abteilung mitgeteilten (den eigentlichen Märchen nur mehr oder weniger nahestehenden) volkstümlichen Erzählungen ansprechen.

Um die meist christlichem Aberglauben entsprossene Legende rankt sich, scheinbar unvereinbar und doch innerlich nahe verwandt, die in heidnischen Überlieferungen wurzelnde Sage, der blütenreichste Wildling der Volksdichtung, auch in Capri, freilich, wie alles Unkraut, nur im Verborgenen wuchernd. Aber auch an lehrhaften Geschichten und lustigen Schwänken, die als besonders wichtiges Zeugnis der Volksanschauung zu begrüßen sind, ist kein Mangel. Und schwankartig sind ja zum Teil auch die aus dem heidnischen Aberglauben hervorgegangenen Hexen-, Gespenster-, Geister- und Koboldgeschichten.

Der altheidnische Aberglaube ist äußerlich ganz in den Dienst der Kirche getreten. Die Heiligen und ihre Siegelbewahrer, die Geistlichen, bewahren die Gläubigen vor allem Übel. An sie allein braucht man sich ja nur zu wenden, zumal an die Schutzheiligen der Insel, San Costanzo und St. Antonio, die Fluren, Menschen und Tiere beschützen. Ihre Ehrentage wer den großartiger gefeiert als die drei höchsten Feste der Kirche, Weihnachten, Ostern und Pfingsten, ähnlich auch der 8. September, der Tag von St. Andrea und Pasquale, den Beschützern der Fischer und Schiffer. Die Andreaskapelle steht darum auch nahe dem Strande an der »kleinen Marine«. Das Bild von Pasquale mit den ihm geweihten Schiffsmodellen befindet sich hoch oben am Monte Solaro in der meist verschlossenen, malerischen kleinen Einsiedlerkirche Santa Citrella.

Am glänzendsten sind die Umzüge zu Ehren des heiligen Konstanz, der zu seinem Tage, am 14. Mai, aus seiner alten Kirche an der Marina grande in festlicher Prozession unter Gesang, Glockenläuten und Böllerschüssen nach der Hauptkirche, dann durch die Hauptstraßen Capris und schließlich wieder zurückgebracht wird. Wenn der[216] Heilige dabei lächelt – das tut er seltsamerweise nur, wenn die Sonne scheint –, darf man auf gut Wetter und gute Ernte hoffen. Sein jetziges Bild aus getriebenem Silber läßt ihn aber auch wirklich sehr stattlich erscheinen.

Der Schutzheilige von Anacapri ist der heilige Antonio. Sein Gedenktag, der 13. Juni, ist das größte Volksfest der Solaroortschaften, mit ähnlichen kirchlichen Umzügen wie die San Costanzos. Außerdem veranstaltet man mit St. Antonio an den ersten drei Maitagen große Bittgänge durch alle Straßen und Fluren, soweit man die mit Wein, Obst- und Ölbäumen und zugleich mit Getreide, Lupinen, Bohnen, Erbsen, Kohl und Kartoffeln bepflanzten kleinen, terrassenartigen Erdfleckchen Fluren nennen kann. Zuweilen wird aber der heilige Antonio auch bei besonderen Heimsuchungen als Nothelfer aus seiner kirchlichen Beschaulichkeit herausgerissen. Als zum Beispiel vor einigen Jahren im Herbst große Trockenheit herrschte, wurde er zur Anrufung in der Hauptkirche ausgestellt, und sofort fiel der erbetene Regen. Und ein ähnliches Wunder vollbrachte er, als ein bösartiges Fieber viele Kinder dahinraffte.

So scheint die fromme Capresenschar von aller unchristlichen Furcht und Zauberei befreit zu sein. Und doch, und doch: Ganz im geheimen huldigt man zum Teil denselben alten Bräuchen wie unsere Landbevölkerung: Erbsen werden am Freitag gesät, aber ja nicht bei zunehmendem oder vollem Monde (prima luna), weil sie dann immerzu nur blühen. Freitags darf man nicht scheuern. Bei gewissen Krankheiten, besonders der Augen, Zähne und des Magens, streicht und drückt man die betreffenden Körperteile, indem man gewisse Worte dabei murmelt. Die Augen streicht man, um sie vor Erkrankung zu bewahren, gern mit frischgelegten, noch warmen Eiern. Ein gut Stück unausrottbares Heidentum wuchert also doch noch hier und da in der Seele des Volkes.

Allgemein fürchtet man, wie überall in Italien, den bösen Blick (malocchio), das heißt die manchen Menschen angeblich verliehene Kraft, vermöge übelwollender Blicke und gelegentlich noch dabei gesprochener Worte anderen Leuten zu schaden. In Süditalien nennt man eine solche Person »gettatore«, Blickwerfer, und die Behexung »gettatura«.

Die schon im Altertum als Schutzmittel gegen den bösen Blick,[217] Naturgewalten und Krankheiten gebrauchten Amulette, Formeln und Handlungen (Ausspucken und gewisse Gebärden) haben sich mit merkwürdiger Beharrlichkeit in der Hauptsache bis heute erhalten, besonders das vom Griechisch-Römischen (fascinum) abstammende Hörnchen, das in den verschiedensten Ausführungen (aus Korallen, Perlmutter, Silber, Gold) gleichzeitig als Schmuck an der Uhrkette oder Halskette getragen wird.

Sehr bezeichnend ist es doch, daß bei einigen Meistern der Malerschulen von Siena und Perugia sogar das Christuskind den schützenden Korallenzweig am Halse trägt.

Sogar zum Schütze für das Vieh verwendet man Hörner, natürlich viel größere, weithin sichtbare. Während man an den Stalltüren, wie auch hierzulande, oft Hufeisen bemerkt, so in Capri und Anacapri außerdem hier und da noch ein paar Ochsen- oder Kuhhörner, die der Fremde, der davon keine Ahnung hat, kaum wahrnimmt, zumal sie jetzt vielfach nur noch in den Häusern und Stuben angebracht werden.

Nicht weniger gefürchtet waren die eigentlichen Hexen, die oft in Abwesenheit der Eltern in die Häuser eindrangen und kleine Kinder zu Krüppeln machten. Daher wohl auch der italienische Name Strega (von griechisch-lateinisch striga, aus strix), bei den Alten ein sagenhafter Nachtvogel, der den Kindern, wie auch der Vampir, in der Wiege das Blut aussaugte und dafür Gift einflößte. Andererseits zeigten sich die Hexen dankbar, wenn man ihnen Gutes erwies, oder harmlos, wenn man sie in Ruhe ließ und namentlich in ihren nächtlichen Vergnügungsfahrten nicht störte; feindlich und rachsüchtig bloß, wenn man sie mißhandelte und verfolgte. Sie setzten sich gern auf Nußbäume, die darum gemieden werden. Früher hauste wohl manche Strega auch in Capri, jetzt – abgesehen von einem sogenannten feinen Likör – angeblich nur noch in den benachbarten Gegenden, besonders in Sizilien, von wo sie, durch die Luft fliegend (daher auch »Inaria« genannt), oft in großen Scharen nach den nördlichen Inseln Ischia und Procida zogen, mehr aber nach dem Festlande, besonders Benevento, dem ursprünglichen Maleventum, das für Italien eine Art Blocksberg zu bedeuten scheint, zumal seine fruchtbaren Berghänge reich an großen sagenberühmten Nußbäumen sind, deren im Lande sehr begehrte Früchte vielfach drei Nähte zeigen.[218]

Man kann die »Inaria« zum Herniedersteigen zwingen, wenn man laut ruft: »Verbbun cale fatt' mest«. Diese geheimnisvoll klingenden Worte sind offenbar nur verderbtes Meßlatein aus dem Anfang des Johannisevangeliums: »Verbum caro factum est«. Freilich büßen die Luftfahrenden beim Herniedersturz, der auch durch Glockengeläut beim Fliegen über eine Kirche verursacht werden kann, das Leben ein. Bekanntlich wurden die Glocken bei den deutschen Hexen »bellende Hunde« genannt.


Sopr' acqua e sopra viento,

sopra a noce di Beneviento

(oder richtiger capresisch: »Minuviengo«)


riefen sie, wenn sie sich eingesalbt hatten und die Luftreise antraten. Besonders in der Johannisnacht, die unsere auf Capri unbeachtete Walpurgisnacht vertritt, hört man sie schreien und heulen. –

Andere Stregen waren weniger reise- als tanzlustig. Sie versammelten sich bei Mondschein zu nächtlichen Reigen auf irgendeinem »circolo« oder »aro«, das ist eigentlich eine runde Zementtenne im Freien. Nur ein »aro« am Wege zum Tiberio befindet sich jetzt noch in brauchbarem Zustande. Die anderen sind entweder mit Rasen überwachsen oder ganz verschwunden, ein Beweis, daß der Getreidebau, als eine Zeitlang der Weinbau darniederlag, viel stärker betrieben wurde als jetzt.

Tanzfeste dauerten oft ganze Nächte hindurch, woraus die Sage von tanzenden »Hexen« entstanden sein mag. Getanzt wurde außer Tarantella auch vielfach Tarscone, ein Tanz zu Vieren, der jetzt kaum noch bekannt ist. Der Name ist offenbar mundartlich verderbt aus »trescone«, ein sehr bewegter ländlicher Reigentanz, ähnlich dem Schuhplattler.

Außer den somit in mannigfacher Gestalt auftretenden Hexen, die aber als Menschen ihre Verwandlungskünste nur dem Teufel, ihrem Oberherrn, verdanken, gibt oder gab es nun aber auch noch allerlei in Menschen- und Tiergestalt erscheinende Vertreter der eigentlichen Geisterwelt und zwischen beiden ein unglückliches männliches Wechselwesen: den Werwolf (lupo mannaro), der früher oft in Capri erschien und vielleicht noch vorkommt. –

Diese unheimlichen Gesellen liefen gewöhnlich in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag als vierbeinige Geschöpfe durch die besonders[219] engen und finsteren Straßen der Stadt, namentlich am alten Wege nach Anacapri und in den Seitengassen der Tiberiostraße. Dabei ängstigten sie die Vorübergehenden oder zerrissen ihnen die Kleider, aber nur, wenn die Betreffenden laut sprachen, nicht, wenn sie schweigend vorübergingen oder auf einem Sessel oder sonst erhöhtem Platze standen. Wollte man einen Werwolf wieder zum Menschen umwandeln, mußte man ihn mit einer langen, an einem Stabe befindlichen Nadel ins Rückgrat stechen. Offenbar führte aber der Glaube an den Werwolf auch zu allerlei nächtlichem Unfug, Betrug und Raub.

Ebenfalls auf einer Mittelstufe des Geisterreichs stehen die als Gespenster auftretenden Seelen der Toten, namentlich der eines unnatürlichen Todes Verstorbenen, deren unheimlich nächtliches Erscheinen gefürchtet wird. Sogar von Geistermessen und Geisterprozessionen (II, 27 und 28) weiß man zu erzählen, wie ja schon im klassischen Altertum und bei den Juden der Glaube verbreitet war, daß die Seele Ermordeter ruhelos umherschweifen müsse, bis der Verbrecher bestraft sei und der Tote ein »ehrliches« Begräbnis in geweihter Erde erhalten habe. –

Wohl noch vom Altertum her hat sich in Capri die Sage von den Sirenen erhalten. Ursprünglich wohnten sie nicht an der kleinen Marine von Capri, sondern an der Punta di Campanella, der Landspitze von Sorrent, wo ihnen in Massa Lubrense sogar ein Tempel errichtet worden war. Sie sangen so schön und fein, daß die Schiffer, wenn sie vorbeifuhren, bezaubert wurden und in Schlaf versanken. Dann begaben sich die Sirenen auf die Schiffe, um den Schlafenden das Blut auszusaugen.

Um sie zu bezwingen, ließ man einen mächtigen Zauberer, Gigantone, kommen.

Er beschwor die Sirenen und ließ die eine nach Capri und die andere nach Messina bringen. Nach Ovid waren es drei Sirenen, von denen die dritte nach der ihren Namen tragenden griechischen Kolonie Parthenope, dem heutigen Neapel, versetzt wurde, woran noch jetzt ein Straßennamen erinnert. Die Punta di Campanella, sowie die ganze benachbarte Küste bis zu den Galli-Inseln wird noch heute von den Schiffern möglichst gemieden.

Von mythischen Tieren hat man außer einer sprechenden Schlange am Solaro besonders Hunde mit feurigen Augen, gelegentlich[220] aber, auf einer der ältesten treppenartigen Römerstraßen, auch ein gewaltiges Roß mit Reiter und an der antiken Treppe nach Anacapri eine Henne mit ihren Küchlein gesehen, die einen Mann, der sie verfolgte, beinahe in den tiefen Abgrund gelockt hätte. Auch hat man hier nachts allerlei spukhafte männliche und weibliche Gestalten mit Kisten, Körben, Säcken usw. die Treppe hinaufsteigen sehen. Wahrscheinlich Schmuggler, die sich die Geistersage zunutze machten. – – In der Nähe befindet sich die Blaue Grotte, deren Entdecker, der Dichter August Kopisch, von den Fischern und den Frauen der Familie Pagano – 1826 – gleichfalls vor bösen Geistern in der Höhle gewarnt wurde. Zum Glück ließ er sich aber als kühner Schwimmer nicht zurückschrecken und wurde so ihr erster neuzeitlicher Besucher.

Den sogenannten halbmythischen Wesen oder Elementar- und Erdgeistern gehören wohl die in den Kellergewölben des Tiberio und einigen Grotten hausenden, zum Hüten der dort verborgenen Schätze berufenen Schreckgestalten. Aber auch weiter unten in den angrenzenden Feldern und Gärten will man früher zahlreiche Geister (»spiriti«) gesehen haben. Besonders in finsteren und stürmischen Nächten vernahm man oft wildes Geschrei und Geheul. – Einmal traten sie so zahlreich und gefahrdrohend auf, daß die Geistlichkeit eine Prozession dagegen veranstaltet haben soll. Die jüngeren Geistlichen bestreiten es zwar, aber ältere Capresen behaupten es.

Dem Geschlechte der Zwerge und Hausgeister zugehörig, etwa unseren Heinzelmännchen vergleichbar, erscheint in Anacapri, Massa Lubrense und so weiter der gute Ambriano (Benambriano II, 36 und 37), einmal sogar auch eine Malambriana (II, 38), und neben beiden, mehr koboldartig, der drollige Monacello (II, 39).

Auch das Vorhandensein hilfreicher Wasser- und Brunnengeister wurde mir in Anacapri durch den freundlichen Laurowirt verraten. – Diese aber, wie auch manche Hausgeister, lassen sich meist gar nicht oder nur zum Teil sehen, wie zum Beispiel die über einem alten Küchenherd hervorgestreckte Hand (II, 40). –

Die Anmerkungen, zu denen ich schließlich übergehe, sollen hauptsächlich kurze Auskunft über die verwandtschaftlichen Beziehungen der mitgeteilten Märchen geben und zugleich auf ihre eigenartige Ausgestaltung hinweisen. Um bei der Niederschrift und Wiedergabe der[221] Märchen möglichst unbeeinflußt zu bleiben, habe ich die überreiche einschlägige Literatur erst nachträglich zu Rate gezogen. Nur den italienischen Quellen mußte ich natürlich schon während meines Aufenthaltes im Lande, besonders in den großen Büchereien zu Neapel, Rom, Florenz und Bologna, nachgehen, wobei ich erkannte, daß meine bescheidene Sammelarbeit wohl nicht so überflüssig war, wie ich manchmal im Stillen gefürchtet; denn auch hier gilt das Wort: die Ernte ist groß, und an Schnittern fehlt es noch immer, zumal in Italien selbst.

Die Herkunft erfordert wohl nur bei den wenigen nicht von der schon genannten Haupterzählerin mitgeteilten Beispielen besondere Angaben, sowie die gewählten Überschriften nur bei bemerkenswerten Abweichungen.

Die Bahnbrecher auf dem Gebiete vergleichender Märchenforschung waren bekanntlich die Brüder Grimm:


Grimm, Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. 7. Aufl. Göttingen 1837. – 3. Band: Anmerkungen zu den einzelnen Märchen. 3. Aufl. 1856.

Die umfassendste Übersicht enthält aber:

Bolte-Polivka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Drei starke Bände. Leipzig 1912–18. Dieterichsche Verlagsbuchhandlung.

Ausgiebiges Material bietet auch Reinhold Köhler:

Köhler: Kleine Schriften zur Märchenforschung, herausgegeben von Johs Bolte. Weimar, Verlag von E. Felber. 1898.

Wichtige zu Rate gezogene Märchensammlungen:

v. Hahn: Griechische und albanesische Märchen, gesammelt, übersetzt und erläutert von I.G.v. Hahn. 2 Teile. Leipzig, Verlag von W. Engelmann, 1864.

Pitrè, Fiabe, Novelle e Racconti populari siziliani (da Giuseppe Pitrè). Palermo 1875.

Gonzenbach: Sizilianische Märchen. Mit Anmerkungen R. Köhlers. Leipzig 1870.

Kretschmer: Neugriechische Märchen. Herausgeg. von P. Kretschmer. Verlag Eugen Diederichs. Jena 1919.


Abkürzungen:

[222] M. = Märchen; Ms. = Märchensammlung; Üb. = Überschrift; Überl. = Überlieferung; Mot. = Motiv; germ. = germanisch; it. = italienisch; ngr. = neugriechisch; siz. = sizilianisch; pop. = populare; versch. = verschiedene.


1 Halb wie ein morgenländisches Zaubermärchen aus »Tausend-und-einer Nacht«, halb wie ein altfranzösischer Ritterroman, phantasie- und poesievoll, farbenprächtig und bilderreich, getragen von tiefer Symbolik und feinem Humor, erscheint uns die in Märchengewand gekleidete Heldensage von Meskino Guerrino, woraus besonders den Fehlern und Lastern der Feigheit, Eitelkeit, Völlerei und Wollust gegenüber die Tugenden der Tapferkeit, Würde, Enthaltsamkeit und Keuschheit hervorleuchten. – Vermutlich liegt, wie auch in den folgenden beiden Erzählungen, ein aus altfranzösischem Ritterroman (chanson degeste) hervorgegangenes Volksbuch zugrunde, wenigstens kommt der sonst in Märchen kaum bekannte Name Guerrino nur im wesensverwandten »Fioravanti« vor. – Guerrino ist übrigens der eigentliche Name des italienischen Lyrikers Lorenzo Stecchetti. – Meskino = it. meschino, armselig, unglücklich, arab. meskin. – Die zeitweilige Verwandlung schöner Frauen in reißende Tiere erinnert an die ähnlichen Verzauberungen im »Zauberwald« von Musäus. Vgl. Bolte II, S. 193: »Die drei Schwestern«. – Anderen Tierverwandlungen begegnet man im it. M. ziemlich häufig.

2 Den Stammbaum von »Fioravanti«, der in der mir bekannten Märchenliteratur sonst nicht vorkommt, entdeckte ich eines Tages zufällig bei einem Straßentrödler in Neapel im Volksbuch »Storia di Fioravanti, Rizieri ed altri paladini di Francla cominciando da Costantino imperatore sino ad Orlando Conte d'Anglate-Napoli, Gennaro Monte«, ohne Jahreszahl. – Im »Livro secondo« werden hier S. 47–127 ausführlich erzählt die Erlebnisse und Heldentaten des sagenhaften »re di Francia Fioravanti« (ursprünglich wohl Fleuravant), Enkel Kaiser Konstantins von Rom, »der durch Papst Silvester 322 getauft wurde«. – Die viel kürzere Märchenfassung schließt sich bis auf einige hinzugefügte Nebenmotive, wie das Auftreten des Waldbruders, eng an die Vorlage. Salardo war nach derselben Quelle Herzog der Bretagne. Unter Scandia (Scandinavia),[223] bei den Alten Name des südlichen Schwedens, dürfte hier die Nordküste Frankreichs gemeint sein. –

3 »Berta del gran pie« ist nur ein kleines Bruchstück derselben »storia, livro sesto«, S. 185–233. – Vgl. auch Grimm, Anm. zur »Gänsemagd«, S. 158. Hinweis auf den karolingischen Mythus von Bertha, »Pipins verlobter Gemahlin, die durch ihre Dienerin verdrängt wird«. –

4 Die verdeutschte Üb. für »Franceschiello« will gleich an Grimms bek. M. »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen« erinnern, wozu sich noch »Giovanni senza paura« von De Gubernatis und Gonzenbachs M., S. 57, »Von dem, der sich vor nichts fürchtete« gesellen und wahrscheinlich auch »Frangeschjelle« von Finamore in »Tradizioni populari, abruzzesi«. Vgl. Köhler S. 347 und 362 und Bolte-Polivka I, 22. – Auffallend ist in der Caprifassung der Einschlag aus der antiken Sagenwelt. Vorausgesetzt, daß die Volksüberlieferung nicht durch modernes Wissen beeinflußt ist, bietet sich uns hier ein merkwürdiger Fall frei weiterschaffender Sagenbildung in der Auflösung des Zyklopen in zwei getrennte Gestalten und in der eigentümlichen Augenoperation. – Übrigens begegnet man der Polyphemsage, an die ja auch der Polyphemfelsen in Capri erinnert, auch bei Finamore Nr. 38: »Lu fatte (Geschichte) del Uocchie-n-fronde« und anderen M. Das stückweise Herabfallen einer Riesengestalt aus einem Kamin kommt vielfach als Märchenspuk vor, zum Beispiel in der Gascogne, in Andalusien, Portugal, Sizilien, Italien und nach Rochholz ebenso in der Schweiz. Vgl. Köhler, S. 130. – Am Schluß der Caprifassung vermißt man das Heiratsmotiv, wie auch die namentlich im sizilianischen und neugriechischen M. beliebten formelhaften Schlüsse, die in den Capriüberlieferungen kaum vorkommen. Vgl. R. Petsch: »Formelhafte Schlüsse im Volksmärchen«, Berlin 1900. Vgl. auch Gonzenbach I, Nr. 41: »Vom tapferen Schuster«.

5 Die verwandtschaftliche Beziehung zur neun- oder mehrköpfigen lernäischen Schlange ist augenscheinlich. Im befreienden Helden könnte man halb Herkules, halb Theseus vermuten und in der Königstochter Ariadne oder Andromeda. Auch das Erscheinen des Räubers erinnert an die Theseussage. Verschieden ist nur die Zuhilfenahme des Hundes und die Vorsichtsmaßregel mit den abgeschnittenen Zungen, nach [224] Dr. E. Fischer ein der lombardischen, am Gardasee spielenden Wolfdietrichsage entlehntes Motiv, während Köhler S. 399 auf Peleus und auf Tristan von G.v. Straßburg verweist. Im walachischen M. ist das Ungeheuer ein Drache mit zwölf und im ungarischen mit sieben Köpfen, so auch bei C. Weber »I'animale dalle sette Teste«. (It. M. aus Toskana, Halle, M. Niemeyer, 1900.) – Erzählt wurde mir das M. mit großer Wichtigkeit vom 78 jährigen Fischer Costanzo. Vgl. auch Gonzenb. I, 40, wo eine Jungfrau von einem siebenköpfigen Lindwurm bedrängt und dann befreit wird, sowie Bolte, I, S. 528 ff., wo das M. mit anderen verquickt erscheint.

6 Am nächsten stehen der poetisch bes. wertvollen Caprifassung des in versch. it. Lesarten mit versch. Üb. überl. M. die von Pisa (Novellina pop. it. da D.Comparetti, 1875, vol. I): »L'uccellino che parla« und von Bologna (Rivista delle tradit. pop. it. 1893, vol. I, S. 757–61): »La Fata Alcina o I'uccello che parla«, – bes. aber die siz. Überl. von L. Gonzenbach, I, 5: »Die verstoßene Königin und ihre beiden ausgesetzten Kinder.« Vgl. Gonzenbach, II, S. 206. – An Stelle der Königin-Mutter wie im Caprim. sind die neidischen Schwestern die Unheilstifterinnen, wie auch in 1001 Nacht. Vgl. Köhler I, S. 62. – Das Mot. vom tanzenden Wasser, bzw. Wasser des Lebens, findet sich in zahlreichen M. – Vgl. Schnellers »M. aus Wälschtirol«: die drei Schönheiten der Welt: »das redende Vöglein, das tanzende Wässerlein und das musizierende Bäumlein«. So auch als eins der drei Rätsel in Schillers bzw. Gozzis »Turandot«. – Ähnlich das Mot. vom verzaubernden Vogel in 1001 N., XXIII, wo Menschen versteinert werden.

Eigenartig ist aber die beständig »prestissimo« sich öffnende und wieder schließende eiserne Flügeltür, die deutlich an die Symplegaden der Argonautenfahrt erinnert. Vgl. Köhler S. 572. – Im ngr. M. »Der Pilger« holt ein Adler das Wasser des Lebens aus einem Berge, der sich immerzu schnell öffnet und schließt. Vgl. Kretschmer S. 196. – In einem awarischen M. steht ein wunderbarer Apfelbaum hinter zwei solchen Felsen. Das Mot. vom vergifteten Fleisch und der bösen Königin findet sich auch in der »Geschichte vom Cacciaturino«, Gonzenb. II, 80.

7 »Il conciabrocche«, wie der Kesselflicker it. heißt, trägt unverkennbare Züge des guten Königs Drosselbart und Gonzenbachs M.[225] »Die gedemütigte Königstochter«; zeigt aber beim heimlichen Vollbringen der fast übermenschlichen Heldentaten große Ähnlichkeit mit Fioravanti und Meskino Guerrino. Vgl. auch Grimm, Anm. S. 87, den Hinweis auf eine ähnliche Lesart im Pentamerone und Bolte I, Nr. 52, S. 442 ff.

8 Die »Schwester« der zwölf Räuber (it. »La ragazza nella casa dei 12 rubatori«) ist unser in mancherlei Formen bei den verschiedensten Völkern erscheinendes »Schneewittchen«. – Vgl. Grimm 53, Anm. S. 90, und Bolte I, S. 450 ff., wo sehr sinnig sogar auf Schneefrid in der Haraldsaga hingewiesen wird. Vgl. Holger Drachmanns, von mir verdeutschtes Melodrama »Schneefrid«, das in Mannheim tiefe Wirkung erzielte. – Vgl. auch Gonzenbach II, S. 206. – Sehr verschieden sind die »Brüder« an Zahl und Gestalt. Statt der Grimmschen Zwerge sind es in unserer Überl. zwölf Räuber, und im alban. M. (v. Hahn, II, Nr. 103) sogar vierzig »Drachen«, d.h. Giganten, Menschenfresser. – Für den Sarg aus Glas oder Holz erblicken wir in der Caprifassung einen Marmorsarkophag, der ausgegraben wird, wodurch das Gepräge auch dieses M. etwas Antikes erhält.1

9 Die mir überl. Üb. »matrigna e figliastra« erschien mir zu allgemein. Auch im entsprechenden siz. und oberit. M., bei Gonzenbach und Nerucci ist der Name der Heldin Caterina in der Üb. angegeben, bei De Gubernatis aber nur: »La bella e la brutta«. Auch im »Pentamerone«, sowie in piemontesischer, katalanischer u.a. Überlieferung, ist das M. vorhanden. Vgl. Köhler I, S. 345. – Sehr eigentümlich ist das Mot. von der spinnenden Kuh, bzw. vom spinnenden Leithammel, wie im siz. M. Vgl. Gonzenbach H, S. 224. – Beachtenswert ist ferner das mehrfache Vorkommen der Zahlen 3 und 12, die, wie auch 7 und 4, eine große Rolle in diesen M. spielen. –

Das Herabfallen von Blumen beim Sprechen und von Perlen beim Kämmen erinnert an das von Kretschmer, Nr. 62, mitgeteilte ngr. M. vom Mädchen, das Rosen lacht und Perlen weint, kommt aber ähnlich auch in anderen südländischen wie nordischen M. vor. Vgl. Köhler I, S. 126. Gonzenbach, I, Nr. 34, »Von Quaddaruni[226] und seiner Schwester« und Grimm: »Die drei Männlein im Walde«. Vgl. Bolte, I, 13, S. 99 ff. – Von eigenartiger Schönheit ist besonders der von Versen unterbrochene Schlußteil unseres M. und die Erlösung der zur Meerjungfrau gewordenen, von der Sirene mit zwölf goldenen Ketten gefesselten Braut. Vgl. Köhler, S. 128, sowie Gonzenbach, II, S. 225, wo Katerina sich nicht dem Meer nähern darf, um nicht zur Seeschlange zu werden. Vgl. auch Gonzenbach, I, Nr. 33 und 34, besonders die letztere Fassung, die unserem M. am nächsten steht, besonders auch durch ähnliche Verse. – Veröffentlicht habe ich das M. bereits 1911 in den »Grenzboten«, Heft 49. –

10 Dieses anmutige, gleichfalls schon in den Grenzboten 1911 mitgeteilte, »Die gütige Fee«, überschriebene M. zeigt mancherlei vertrauliche Züge, deren vergleichende Betrachtung ich dem findigen Leser und Forscher überlassen möchte. –

11 »La cenerentola« ist vielleicht das meist verbreitete M., dem man in romanischen, germanischen und slawischen Ländern begegnet, wie als Mot. bereits in der antiken Sage vom Schuh der Rhodope. Vgl. Dresden, Anzeiger vom 21. 5. 1924. Eigenartig ist aber doch die Capriprägung, namentlich das Aufhalten der Verfolger durch hingeworfene Kupfer-, Silber- und Goldstücke. Im ngr. M. ist Aschenbrödel der Sohn einer armen Frau. In Luthers Tischgesprächen wird Abel so genannt. Vgl. Grimm, Bolte, Köhler, Kretschmer und v. Hahn, I, 7. Eine sehr eigentümliche Fassung des M. ist das griech. »Aschenputtel« aus Epirus, vgl. v. Hahn, I, S. 70 ff. Latteri, mundartlich für dattero, Dattelbaum.

12 Das anscheinend etwas mangelhaft überl. und daher von mir zum Teil frei ausgeführte Lieblingsm. der 60 jährigen »Zia« Loise de Stefano »la bella infinita« ist wahrscheinlich aus mehreren, ursprünglich nicht zusammengehörigen Bestandteilen durch poetische Bearbeiter oder dichterisch begabte Erzähler ineinandergewirkt worden. Die Bearbeitung machte mir daher etwas zu schaffen, besonders die ziemlich unverständliche, kaum übersetzbare Üb. Um sie mit dem Inhalt möglichst in Einklang zu bringen, kam ich schließlich darauf, die unvergleichlich Schöne, die an »die Schöne der Erde oder der Welt« und unser »Tausendschön« erinnert, »Innocenza« zu nennen. Zu meiner Freude fand ich dann bei L. Gonzenbach den Namen[227] »Nzentola« (Diminutiv von Innocenzia) als Üb. des wohl einzig in Betracht kommenden Seitenstückes. – Nach Hahns wissenschaftlicher Einteilung entspricht unser M. im allgemeinen der sogenannten Jasonsformel: Glückliche Entführung mit folgender Heirat. Der Held verlobt sich heimlich, erhält von der Mutter scheinbar unerfüllbare Aufgaben, die er z.T. mit Hilfe der Geliebten löst. Hierauf Flucht, Verfolgung, Ankunft, Vergessen der Braut durch einen Kuß, schließlich Wiedervereinigung und Hochzeit. Zu vergleichen sind die hellenische Sage von Jason und Medea und die germ. Amelungensage. Zur wesentlich eingreifenden Verwendung des Mot. von den dankbaren Tieren (Löwe, Adler, Ameise), vgl. Köhler an vielen Stellen und Gonzenbach, I, Nr. 12, wo Ameisenbein, Adlerfeder und Löwenhaar noch wichtiger erscheinen. – Die Rettung durch Verwandlungen auf der Flucht ist ein beliebtes Mot., dem wir auch bei Grimm (»Fundevogel«, vgl. Bolte, I, S. 442 ff.) und in zahlreichen anderen M. antreffen. Auch die nach einem Kuß vergessene Braut trifft man vielfach in M. Vgl. Köhler u.a. – Das Mot. von sieben Schlössern kommt auch bei Kretschmer, Nr. 63, vor. – Beachtenswert ist auch die eigentümliche Wartezeit bis zur Verheiratung in einem Jahre, drei Monaten und drei Tagen, wie auch in Nr. 16, bzw. in einem Jahre, drei Monaten in Nr. 21.

– Vgl. hierzu Köhler: Über die märchenhaften Zeitbestimmungen in Sarnellis Posilecheata ed Imbriani, 1885, p. 163: ein Tag, eine Woche, ein Monat, ein Jahr, sowie bei Finamore, Carnoy, Sébillot, Gonzenbach auch sieben Jahre, sieben Monate, sieben Tage, sieben Stunden oder neun Monate, neun Tage, neun Stunden und neun Minuten; natürlich meist ungerade Zahlen. – Bei Nr. 14 sind es sechs Monate, sechs Tage, sechs Stunden. Überhaupt spielen die heiligen Zahlen 3, 4, 7 und 12 eine wichtige Rolle in den M. –

13 »Tredici« stimmt in den Hauptmotiven mit dem ngr. M. »Hauptmann Dreizehn« überein. Vgl. Kretschmer, S. 204. – Zum Teil wird man aber auch an Grimms »Meisterdieb« erinnert, zum Beispiel beim Raub der Bettdecke und der Überbringung des Zauberers. – Das Vertauschen der Nachtmützen erweist sich als eine in M. oft bewährte List.

14 »Per un uomo ed una donna.« Diesem Beispiel rührender Anhänglichkeit und Selbsterniedrigung wüßte ich kein deutsches M.[228] an die Seite zu stellen, wohl aber wird man lebhaft an Kätchen von Heilbronn erinnert. Doch begegnet man bei L. Gonzenbach im »Grünen Vogel« einem entsprechenden M., dessen zweite Hälfte ähnlich verläuft, während man in Nr. 60 »vom verschwenderischen Giovanninu« im Gegensatz eine gedemütigte Prinzessin erblickt. Vgl. R. Köhlers Anm. zu Gonzenbach, II, S. 222. – Die Caprifassung, die dem Pentamerone am meisten zu entsprechen scheint, ist aber einheitlicher und zeigt größere dichterische Anmut, besonders auch durch die eingestreuten Verse. – Majoran wird bei uns nur als Gewürzkraut verwandt.

15 Dieses mir vom zwölfjährigen M. Pagano erzählte, echt süditalienische M. dürfte auf einem nahe liegenden Naturmythus beruhen: Der jahrelang schlafende Riese, der dann plötzlich erwacht und brüllend Menschen und Tiere verschlingt, scheint auf den Vesuv oder Ätna hinzudeuten. Zugleich wird man aber auch an den Geist des Riesengebirges, Rübezahl, erinnert, der »auf dem Gipfel der Schneekoppe sitzend, seine Füße in die Täler herunterbaumeln läßt, wobei er ein gewaltiges eintöniges Geschrei ausstößt.« Vgl. »Das Rätsel vom Rübezahl«, Dresdner Anzeiger vom 8. Februar 1924. – Daß ein Adler sich für eine erfahrene Wohltat dankbar erweist, kommt u.a. auch in unserem M. von der geraubten Prinzessin (Nr. 21) vor; wozu Köhler, S. 397, noch weitere Beispiele anführt. Vgl. auch Gonzenbach, I, S. 203. –

16 Zu »il lampo (ed il) tuono«, dem vielleicht auch eine Natursage, woran das blitzartige Erscheinen des Retters erinnert, zugrunde liegt, habe ich kein annähernd übereinstimmendes M. gefunden, wohl aber lassen sich mancherlei verwandte Mot. vergleichen, z.B. einen großen Haufen Körner mit Hilfe von Ameisen zu sortieren. Vgl. Köhler, I, S. 397. – Das Mot. der aus Neugier geöffneten, verbotenen Tür findet man in vielen M. – Vgl. Köhler, Sachregister, S. 607 und S. 129. –

17 In der entsprechenden, aber ziemlich trocken erzählten Geschichte von den zwölf Räubern bei Gonzenbach, II, Nr. 79, fehlen alle komischen Nebenmotive: Esel, Goldwage, habgierige Köchin, die in Ziegenfelle eingenähten Räuber, der verhängnisvolle Zuruf: »Es ist Zeit.« – Vgl. auch Kretschmer, Nr. 4: »Die vierzig Drachen« (in Schläuchen verborgen) und die Geschichte von Ali Baba und den[229] vierzig Räubern in »1001 Nacht«, XXI, S. 59 ff. Ferner Grimm, Nr. 142, »Simeliberg«, Bolte, III, S. 137 ff. und Köhler zu Gonzenbach, Nr. 79: »Die Geschichte von den zwölf Räubern«, wo auch Simrock, Nr. 62, Pröhle, M., Nr. 30, Otmar, S. 225, als Parallelen genannt werden. Das M. ist kulturgeschichtlich wichtig und weist auf höheres Alter hin, wo das Geld noch gewogen und Öl und Wein noch in Schläuche gefüllt wurde.

18 Das M. enthält einige wesentliche Mot. vom ngr. M. »Die goldenen Eier«. Eine andere Parallele steht bei Hahn, Nr. 36, nebst Anm., S. 242, und Grimm, Nr. 60. Das Mot. vom Zaubervogel, der goldene Eier legt, ist nach Kretschmer, S. 325, in dem großen Kreise der M. von zwei Brüdern vertreten, die von Bolte, I, 528 ff. untersucht werden. In Capri sind es allerdings drei Brüder. Im »goldenen Huhn« (v. Hahn, I, Nr. 36) stimmen nur die Hauptmotive mit unserem M. überein. Verschieden ist besonders das Schicksal der Brüder, von denen zwei ohne vorherige Dienstzeit zum Ziele gelangen, aber keiner erblindet. Cecilio bedeutet der Blinde, von lat. caecilius. – Der Verführer der Mutter ist hier ein Jude. – Das M. erinnert an »1001 Nacht«.

19 Ein ähnliches M. kenne ich nicht, nur zahlreiche Einzelmot., die der Leser selbst bemerken wird.

20 Die mir überl. Üb. »il padre con tre ragazzi« verrät zu wenig vom Inhalt des M., zu dem ich kein vollständiges Seitenstück gefunden habe, nur mehrfache Anklänge (Wunderbörse und Wunderhorn) in der siz. Geschichte vom »Ciccu«, Gonzenbach, Nr. 30 und 31. – Bezüglich der wunderbaren Pfeife vgl. Köhler, S. 608, Stichwort »Wunderpfeife«. – Das Mot. von den schwarzen und weißen Feigen, die Hörner erzeugen und entfernen, findet sich in verschiedenen M.; mit ähnlicher Verwendung im ngr. M. aus Epirus, Gonzenbach, Nr. 65. Vgl. auch Köhler, Lit. zu Gonzenbach, Nr. 31, S. 223. – Teilweise Übereinstimmung, bzw. am Schluß, zeigt Gonzenbach Nr. 31.

21 Hier bieten sich mehrere bekannte M. zum Vergleich. Am nächsten steht: »Der Goldäpfelbaum und die Höllenfahrt«, Hahn, II, Nr. 70, das sich auch bei Kretschmer, Nr. 59, unter gleichlautender Üb. findet. – Vgl. ferner Köhler, S. 292: »Die drei Bäumchen und die drei befreiten Jungfrauen«. Die Caprifassung enthält die[230] ausführlichsten und lebhaftesten Schilderungen, besonders von der geheimnisvollen Entführung und Rettung der Prinzessin, vom Aufenthalt in den unterirdischen Gefilden, vom Aufstieg auf dem dankbaren Adler, der abwechselnd mit irreführender Bezeichnung Wasser und Fleisch verlangt und dem der Prinz zuletzt eine Wade opfert, die der Adler dann wieder anwachsen läßt, wie es in verschiedenen ähnlichen M. geschieht, z.B. auch in einem gälischen und slawonischen vom Vogel Einja. Das Mot. erinnert auch an buddhistische Legenden. Vgl. Köhler, I, S. 63 und 194. – Das Mot. vom Erzählen einer das Wiedererkennen bewirkenden Geschichte findet sich in vielen M. Eine beachtenswerte Lesart zeigt bei Hahn, I, Nr. 26, das griech. M. »Vom jüngsten Bruder«, der seine geraubte Schwester vom Drakenberge (statt aus dem unterirdischen Raum) holt und damit »der Formel vom besten Jüngsten« folgt. Vgl. Hahn, I, S. 51, und Gonzenbach, II, Nr. 85, die Geschichte von der Fata (Fee) Morgana, worin sich eigentlich zwei M. und verschiedene Nebenmotive vereinigt finden: 1. vom bestraften Äpfelräuber, einem Riesen, dessen über die Mauer greifender Arm vom jüngsten Königsohn abgehauen wird. Die sich anschließende Verfolgung bis ins unterirdische Riesenreich führt zur Befreiung dreier Königstöchter und zum Verrat der beiden älteren Brüder; 2. vom erblindeten König und der Fee Morgana, wo drei ausgeworfene Granatäpfel zu rettenden Hindernissen für den Verfolgten werden. Die Heilung wird durch das Wasser der F.M. bewirkt, zu dem man nur durch ein rasch auf und zu schlagendes Eisentor gelangt, ähnlich wie im M. vom redenden Vogel, Nr. 6 unserer Sammlung. – Die Fee Morgana ist offenbar die aus dem bretonischen Sagenkreise stammende Stiefschwester des Königs Artur und Schülerin Merlins, die ihre Macht namentlich in Luftspiegelungen zeigte. Daher auch die Übertragung auf diese selbst, wie sie besonders zauberhaft in der Meerenge von Messina erscheinen. Die mittelhochdeutsche Namensform ist feimorgân, fâmorgân. Es dürfte sich lohnen, diesen Sagenspuren weiter nachzugehen. –

22 Die zu allgem. überl. Üb. lautet: »Il negoziante colle tre figliuole«. Lokalisiert und in einigen Nebenmot. verändert begegnen wir dem M. in drei oberital. Überlieferungen: 1. einem aus Montale, wo »Bellinda« ( = Herminia) die jüngste Tochter eines Kaufmanns ist, erz. von Gh. Nerucci, Pistoia, 1880; 2. »Belinda e er mostro«[231] (Zanazzo: Novelle, favole, leggende in der Bibliothek zu Bologna); 3. Zelinda e il Mostro (Gh. Nerucci, Firenze 1880).

23 »Giovanno lo stupido«, von der 20 jährigen Signorina Marghareta Pagano erzählt, hat viele Namensvettern in der M.-Literatur. – Das hilfreiche Pferd erscheint gleichfalls in zahlreichen M., besonders auch in Rud. Vogels »Frau Märe«, S. 89: »Wie Hänslein auf Reisen ging«. –

24 »Lo stupido sposa la figlia del re« – Die viel verkannte Gottesgabe der Dummheit, die sich schließlich als überlegene Schlauheit entpuppt, ist ein beliebtes internationales M.-motiv. Ein besonders typisches Gepräge zeigt neben dem vorliegenden M. auch Gonzenbachs »Giufa« (I, 37), der seine Mutter durch allerlei tolle Streiche in Verlegenheit setzt, ihr aber schließlich viel Geld und Gut heimbringt. – Das im M. vorkommende Gänsespiel, wie man es auf einem großen Tische aus dem 18. Jahrhundert im Dresdner Altertumsmuseum bildlich dargestellt findet, scheint dazumal sehr beliebt gewesen zu sein. In einem Aufsatz im »Dresdner Anzeiger« über den »Schieber« im »Spiegel der Sprache« wird auf bekannte Redensarten, wie z.B. »Jemand etwas in die Schuhe schieben« hingewiesen und dazu bemerkt, daß man diese Wendung aus dem alten M. erklären will, in dem eine Königstochter ihrem Vater einen goldenen Löffel in den Stiefel zaubert, um ihm zu beweisen, daß der, bei dem ein Wertgegenstand im Schuh gefunden wird, ihn nicht gestohlen zu haben braucht. Im Caprimärchen wird dem König heimlich ein Hühnchen in die Tasche gezaubert, Vgl. Dresdner Anzeiger vom 5. Oktober 1923. Das M. wurde mir von einer Frau Margharita erzählt, die es »von einem alten Manne« hatte. –

25 »La bella tortora selvaggio« Dem wohl aus mehreren nicht zusammengehörigen Stücken bestehenden M. entspricht bei L. Gonzenbach die zweite Hälfte des in ähnlicher Weise behandelten M. »Die Schöne mit den sieben Schleiern«, die in eine weiße Taube verwandelt wird und auch mit der schönen »Innocenza« verwandt ist. Die schwarze Sklavin, die sich zuletzt selbst das Urteil spricht, wird hier zur Strafe in einen Kessel mit siedendem Öl geworfen und nachher an einen Pferdeschwanz gebunden durch die Stadt geschleift. – Vgl. Köhler, Anm. zu Gonzenbach, S. 211 ff. – Vgl. auch Kretschmer, Nr. 3, M. aus Lesbos.

[232] 26 »La pietra luccente.« Ein vollständiges Seitenstück ist mir nicht vorgekommen, nur allbekannte Teilmotive. Ein Marengo ist ein Zwanzigfrankstück, das Napoleon I. zur Erinnerung an die Schlacht von Marengo prägen ließ. –

27 Erklärlich und bezeichnend ist es, daß der Kater ungestiefelt erscheint, da Stiefel bei der größtenteils armen Bevölkerung der Stiefelhalbinsel ein unbekannter Luxus sind. Sein ritterliches Auftreten und seine literarische Berühmtheit verdankt der Gestiefelte erst Charles Perreault und Ludw. Tieck. Vgl. Bolte, I, 33 a, S. 325 ff. Auch F. Avenarius hat ihn verherrlicht, und schließlich hat das bekannte Weihnachtsmärchen ihm Bühnenbeliebtheit verschafft. Das Grundmot. des M. hat Spielarten in ganz Europa gezeitigt, wovon Köhler zahlreiche Belege in seinen Anm. zu Gonzenbach, Nr. 65, »Vom Conte Piro« (Graf Birnbaum) zusammengestellt hat. An Stelle des Katers tritt im siz., finnischen, russ. und sibir. M. ein Fuchs, in einer norweg. und in zwei schwedischen Überlieferungen ein Hund und bei den von Arabern abstammenden Küstenbewohnern von Suaheli, vormals Deutsch-Afrika, eine Gazelle.

28 Erzählt von Signorina M. Pagano.

29 »Niccolino e la rana« erinnert an Grimms »Froschkönig«, eins der ältesten deutschen Hausmärchen, das schon Rollenhagen unter den alten Hausm. erwähnt. Näher aber steht Grimms M. Nr. 63, »Die drei Federn«, wozu Bolte II eine umfangreiche Literatur aus Hessen, Österreich, Kärnten, Ungarn, Dänemark, Schweden, Norwegen, Rußland, Polen usw. anführt. – Vgl. besonders die »Froschprinzessin« bei Zingerles »Kinder- und Hausmärchen aus Tirol«. –

30 Das persönliche Auftreten der zwölf Monate zeigt auch eine märchenartige neugriechische Erzählung aus Korfu. Aber auch in diesem Falle ist die Personendichtung in der Caprifassung ansprechender durchgeführt. Kretschmer verweist noch auf mehrere ngr. und it. Varianten wie Pitrès »Dodeci mesi«. – Nach Bolte I, 207 ff. entspricht die Geschichte dem Typus von »Frau Holle« und »Goldmaria und Pechmaria« mit der Moral, daß die Gute belohnt und die Schlechte bestraft wird, worauf wohl die meisten M. hinauslaufen – oder hinauslaufen sollten, wenigstens in einer Sammlung wie der vorliegenden.

Quelle:
Zschalig, Heinrich: Die Märcheninsel. Märchen, Legenden und andere Volksdichtungen von Capri. Dresden: Verlag Deutsche Buchwerkstätten, 1925, S. 213-233.
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