[307] 46. Von der Schlange, die für ein Mädchen zeugte.

Es war einmal eine arme Frau, die war so arm, daß sie in einer ganz wilden einsamen Gegend leben mußte, und hatte eine einzige Tochter, die war schöner als die Sonne. Die Mutter sammelte Kräuter,[307] und brachte sie in die Stadt zum Verkauf, die Tochter aber blieb zu Hause, wusch und kochte.

Eines Tages war die Mutter wieder in die Stadt gegangen mit ihren Kräutern, die Tochter aber war allein geblieben. Da kam der Königssohn in die einsame Gegend. Er war auf die Jagd gegangen, und hatte sich von seinem Gefolge verirrt. Als er nun das Häuschen sah, stieg er ab vom Pferde, klopfte an und bat um ein Glas Wasser, denn er war sehr durstig. Das Mädchen aber öffnete nicht die Thüre, sondern nur das Fenster, und reichte ihm das Glas Wasser zum Fenster hinaus. Als er nun ihre große Schönheit sah, ward er von einer bösen Lust ergriffen, und verlangte mit Ungestüm, sie solle ihm die Thüre aufmachen. Sie aber wollte nicht. Da brach er in seiner wilden Begierde die Thüre auf, drang in das Häuschen, und that ihr Gewalt an. Sie rief und schrie, aber es hörte sie niemand. Wie sie sich nun so vergeblich nach Hilfe umsah, erblickte sie eine Schlange, die eben vorüberkroch. »Wenn mich denn niemand hört in meiner Noth,« sprach sie, »so rufe ich diese Schlange an, die soll für mich zeugen, daß du keine andre heirathen darfst, denn mich.« Als sie das gesagt hatte, that sie dem Königssohn den Willen; dann verließ er das Häuschen. Sie erzählte aber ihrer Mutter nichts davon.

Nicht lange nachher verbreitete sich das Gerücht, der Königssohn werde nun bald eine schöne Prinzessin heirathen. Als nun die Mutter eines Tages wieder in der Stadt gewesen war, frug die Tochter sie am Abend: »Nun, liebe Mutter, was gibt es Neues in der Stadt?« »O mein Kind,« sprach die Mutter, »man erzählt eine Geschichte, die ist so außergewöhnlich, daß sie niemand glauben kann. Denke dir, der Königssohn hat eine Schlange um den Hals, und niemand kann sie wegjagen, und wenn man sie wegreißen will, so schnürt sie sich nur fester um seinen Hals, und erwürgt ihn fast.« Da die Tochter das hörte, wußte sie wohl, welche Schlange das war, und machte sich am Morgen ganz früh auf den Weg, ohne ihrer Mutter etwas zu sagen, und ging auf das Schloß.[308]

Als nun die Wache frug, was sie begehre, antwortete sie: »Meldet mich dem König an, denn ich habe ein Mittel um den Königssohn von der Schlange zu befreien, die sich ihm um den Hals gehängt hat.« Die Leute fingen an zu lachen, und sagten: »Es haben es so viele Aerzte und weise Leute versucht, und keinem ist es gelungen, und nun wolltest du es unternehmen!« Sie aber sprach: »Meldet mich nur bei dem Könige an.« Als nun der König den Lärm hörte, frug er, was es gebe. Da sagten ihm seine Diener: »Unten ist ein Mädchen, das rühmt sich, es hätte ein Mittel, den Königssohn von seiner Schlange zu befreien.« »Nun, laßt sie heraufkommen,« sprach der König, »wenn ihr Mittel nichts nützt, so wird es auch nicht viel schaden.«

Also wurde das schöne Mädchen vor den König geführt, und der König führte sie in das Zimmer seines Sohnes, und ließ sie dort mit dem Königssohne allein. Da stellte sie sich vor ihn hin und sprach: »Sieh mich einmal an; erkennst du mich?« »Nein,« antwortete der Königssohn, aber alsobald schlang das Thier sich fester um seinen Hals. »Wie?« fuhr sie fort, »hast du denn vergessen, wie du in mein Haus mit Gewalt eingedrungen bist, und mich gezwungen hast, deinen Willen zu thun? Weißt du nicht mehr, wie ich die Schlange angerufen habe, als Zeugen, daß du keine andre heirathen dürfest, denn mich?« Er wollte gern wieder mit »nein« antworten, aber die Schlange zog sich so fest um seinen Hals, daß er endlich »ja« sagte. Da ließ auch die Schlange ein wenig nach mit ihrem Drucke. »Und nun willst du eine Königstochter heirathen und mich verlassen?« frug das Mädchen. »Ja,« antwortete er, aber alsobald wickelte sich die Schlange wieder fester um seinen Hals, also daß er endlich versprach, die Königstochter nicht zu heirathen. »So schwöre mir, daß du mich heirathen wirst,« sprach das Mädchen. Da schwur er es ihr zu, und alsobald fiel die Schlange von seinem Halse herab und verschwand. Der Königssohn aber eilte zum König und sprach: »Lieber Vater, schicket meine Braut nur wieder zu ihrem Vater zurück, denn dieses Mädchen hat mich von der bösen Schlange befreit, und soll nun meine Gemahlin werden.«[309]

Also heirathete der Königssohn das schöne Mädchen, und sie ließ auch ihre Mutter auf das Schloß kommen, und so lebten sie glücklich und zufrieden, wir aber sind leer ausgegangen.

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. CCCVII307-CCCX310.
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