[259] 90. Die Geschichte von San Japicu alla Lizia.

Von der diesem M. zum Grunde liegenden Legende habe ich in meinem Aufsatz »Die Legende von den beiden treuen Jacobsbrüdern« in Pfeiffer's Germania X, 447 ff. deutsche, französische und italienische Bearbeitungen nachgewiesen. Seitdem hat Pfeiffer in seinem altdeutschen Uebungsbuch S. 197 noch eine deutsche Prosaerzählung der Legende mitgetheilt. In allen diesen Fassungen der Legende nimmt der eine Freund die Leiche des andern, der unterwegs gestorben oder ermordet worden ist, mit sich nach Compostella, und dort in der Kirche – im deutschen Prosatext: in der Herberge – wird der Todte wieder lebendig. Als nachher jener, der den Todten nicht verlassen hatte, aussätzig wird, vergilt ihm der Wiederlebendiggewordene die Treue durch die Hinopferung seiner Kinder. Es beweisen also sich beide wechselseitig aufopfernde Freundschaft. In diesem Punkt ist das sicilian. M. als entstellt zu betrachten. Hier ist der Königssohn derjenige, der den Todten zu S. Jacob bringt, der Wiederbelebte wird später aussätzig und wird wieder vom Königssohn durch das Blut von dessen Kind geheilt.

Die Aepfelprobe kömmt ganz ähnlich in dem »Dit des trois pommes« (Germania X, 448) und in dem deutschen Prosatext vor. In letzterem gibt die Mutter, in ersterem der Vater dem Sohn drei Aepfel: wer den Apfel allein ißt, den soll er nicht zum Gefährten nehmen, wer ihm aber die eine Hälfte gibt, mit dem soll er Freundschaft schließen. Mit derselben Weisung erhält Engelhard in Konrad's von Würzburg gleichnamigem Gedichte (V. 336 ff.) von seinem Vater drei Aepfel. In den »Doctæ nugæ Gaudentii Jocosi,« Solisbaci 1713, welche Sammlung zum Theil aus alten Quellen geschöpft hat, findet sich folgende Erzählung (S. 269):


Amicitia in æqualitate consistit.

Sapienti feminæ filius erat unicus, apprime carus, cujus societatem in mercimoniis expetebant plurimi; mater itaque filio suo dedit poma tria, mandans, ut itinere esuriens ea amicis scindenda et distribuenda offerret,[259] amicitiam enim et fidem amicorum hac in distributione sese prodituram, non imprudenter existimabat. Paruit dictis filius pomaque amicis distribuenda porrexit, quorum primus in duas partes inæquales partiebatur, majore sibi parte reservata, minorem feminæ hujus filio reddidit. Alter amicus similiter in duas inæquales partes divisit discrimine hoc, quod majorem partem cesserit filio. Tertius amicorum in æquales plane partes scidit. Hoc ut inaudivit mater, filio postremum amicum eligendum suasit, eo quod primus alteri injustus, socundus sibi ipsi, ultimus æqualitatem servaverit.

Ganz so erzählt Joh. Quirsfeld in seinem »Historischen Rosen-Gebüsche,« Nürnberg 1686, S. 906, und gibt als seine Quelle die »Vitæ patrum« an, wo ich jedoch die Geschichte nicht gefunden habe. Nach Quirsfeld hat eigner Angabe zufolge J. Rud. Wyß »Idyllen, Volkssagen, Legenden und Erzählungen,« Bern 1815, S. 119 ff. (dazu die Anmerkung auf S. 321) seine Idylle »Die Apfelprobe« gedichtet.

Wie im sicilian. M. die kinderlose Königin sich an S. Jacob mit der Bitte um einen Sohn wendet und ihm verspricht, daß der Sohn, wenn er achtzehn Jahr alt sei, zu ihm wallfahren soll, so wendet sich auch im Gedicht Kunz Kistener's (Germania X, 447) der kinderlose Graf Adam mit Gebeten an S. Jacob, und als endlich seine Frau guter Hoffnung wird, gelobt er, falls ihm ein Knabe geboren werde, denselben, wenn er herangewachsen, die Fahrt nach Compostella machen zu lassen.

Es ist kaum nöthig zu bemerken, daß San Japicu alla Lizia soviel ist wie S. Jacopo (Giacomo) di Galizia.

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. 259-260.
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