[49] 64. Die Geschichte von der Fata Morgana.

Es war einmal ein mächtiger König, der hatte drei schöne Söhne, von denen war der Jüngste auch der schönste und klügste. Der König wohnte in einem herrlichen Schloß mit einem prächtigen Garten, in dem wuchsen viele Bäume mit seltenen Früchten und schönen Blumen, die gar lieblich dufteten.

Nun begab es sich eines Morgens, daß der König in den Garten[49] ging, um seine Früchte zu besehen, und fand, daß an einem Baume das Obst fehlte. »Das ist doch merkwürdig,« dachte er, »der Garten hat ja eine hohe Mauer; wie kann denn Jemand hineindringen?« Da rief er seine Söhne zusammen, und erzählte es ihnen, und der Aelteste sprach: »Lieber Vater, bekümmert euch nicht darum; diese Nacht will ich Wache halten, und den Dieb entdecken.«

Am Abend nahm der Königssohn sein Schwert, und setzte sich in den Garten. Gegen Mitternacht aber wurde er von einem tiefen Schlaf befallen, und als er aufwachte, war es heller Tag, und von einem andern Baume war wieder das Obst gestohlen. Der König und seine zwei jüngeren Söhne liefen herbei, der Aelteste aber sprach: »Was wollt ihr? Als es spät wurde, konnte ich mich des Schlafes nicht mehr erwehren, und unterdessen ist wieder Jemand gekommen, und hat noch mehr Früchte gestohlen.«

»Heute Abend will ich wachen,« rief der zweite Sohn, »vielleicht geht es mir besser.« Es ging ihm aber nicht besser; denn gegen Mitternacht überfiel ihn ein tiefer Schlaf, und als er aufwachte, war es heller Tag, und auf einem dritten Baum war wieder das Obst gestohlen worden. »Lieber Vater,« sprach der zweite Sohn zum König, »es ist nicht meine Schuld. Ich konnte mich des Schlafs nicht erwehren, und unterdessen ist der Dieb wiedergekommen, und hat noch einen Baum geplündert.«

»Heute Abend ist an mir die Reihe,« rief der Jüngste, »ich will doch sehen, ob ich mich des Schlafes nicht erwehren kann.« Am Abend nahm er sein Schwert, und ging in den Garten; er setzte sich aber nicht, sondern ging immer auf und ab. Um Mitternacht sah er auf einmal einen Riesenarm über die Mauer hereinreichen, und Obst pflücken. Da zog er behende sein Schwert, und hieb den Arm ab. Der Riese stieß einen Schrei aus, und lief fort; der Königssohn aber kletterte schnell über die Mauer, und verfolgte die Blutspuren, denn der Riese war schon längst verschwunden. Endlich, an einem tiefen Brunnen, hörten die Blutspuren auf. »Gut,« dachte der Königssohn, »morgen will ich dich schon wiederfinden,« kehrte in den Garten zurück, und legte sich ruhig[50] schlafen. Am Morgen kamen der König und die bei den Brüder in den Garten, um zu sehen, was der Jüngste gemacht hatte. Da zeigte er ihnen den Riesenarm, und sprach zu seinen Brüdern: »Nun, liebe Brüder, wollen wir uns aufmachen, und den Riesen noch weiter verfolgen.« Also nahmen sie einen langen Strick mit, und ein Glöckchen, und machten sich auf den Weg.

Als sie nun zum Brunnen kamen, sprach der älteste Bruder: »Hu! was ist der tief, da will ich nicht hineinsteigen!« Der zweite schaute auch in den Brunnen, und sagte dasselbe; der jüngste aber sprach: »Ihr seid Helden! Bindet mir den Strick um den Leib, so will ich mich schon hinunterwagen.« Da banden sie ihn fest, und er nahm das Glöckchen mit, und ließ sich in den Brunnen hinab. Der Brunnen war sehr tief; endlich aber kam er doch auf den Grund, und fand sich in einem schönen Garten. Auf einmal standen drei wunderschöne Mädchen vor ihm, die frugen ihn: »Was willst du hier thun, du schöner Jüngling? Flieh, so lange es noch Zeit ist; wenn der böse Zauberer dich findet, so wird er dich fressen, denn weil ihm diese Nacht der Arm abgehauen worden ist, so ist er noch viel böser als sonst.« »Bekümmert euch nicht, schöne Mädchen,« antwortete der Königssohn, »ich bin ja eben deßhalb gekommen, um den Zauberer zu ermorden.« »Wenn du ihn ermorden willst, so mußt du dich eilen,« sprachen die Mädchen, »denn jetzt, so lange er schläft, kannst du ihn vielleicht bezwingen.« Da führten sie ihn in einen großen Saal, wo der Riese am Boden lag und schlief; der Königssohn schlich sich leise hinzu, und hieb ihm mit einem Streich den Kopf ab, daß er weit weg in die Ecke flog. Die schönen Mädchen aber dankten ihm voller Freude und sprachen: »Wir sind drei Königstöchter, und der böse Zauberer hielt uns hier gefangen. Du aber hast uns erlöst, und darum soll Eine von uns deine Gemahlin sein.« Da antwortete er und sprach: »Für jetzt wollen wir aus dieser Unterwelt wieder in die Oberwelt zurückkehren. Dann wollen wir weiter darüber sprechen.« Da band er zuerst die älteste Schwester am Stricke fest, gab das Zeichen mit dem Glöckchen, und die beiden ältesten Brüder zogen sie hinauf. Als nun der Aelteste[51] das schöne Mädchen erblickte, rief er: »Ei, welch ein schönes Gesicht! Die soll meine Frau werden!« Sie aber antwortete: »Zieht erst meine Schwester hinauf, dann wollen wir das Uebrige besprechen.« Als sie nun die zweite Königstochter herauszogen, war sie noch schöner als die erste, und der älteste Königssohn rief wieder: »Ei, welch ein schönes Gesicht! Dieses Mädchen soll meine Gemahlin werden!« Nun war noch die jüngste Königstochter unten. Als der Königssohn sie nun auch am Stricke festband, sprach er zu ihr: »Du mußt auf mich warten ein Jahr, einen Monat und einen Tag; wenn ich bis dahin nicht wiederkomme, darfst du dich verheirathen.« Dann gab er das Zeichen mit dem Glöckchen, und die Brüder zogen auch die jüngste Königstochter heraus. Als sie aber über den Rand des Brunnens erschien, war sie schöner als die Sonne und der Mond, und der älteste Königssohn rief: »Ei, welch schönes Gesicht! Dies Mädchen soll meine Gemahlin sein,« und böse Gedanken kamen in seine Seele. »Ach,« sagte die Königstochter, »werft doch eurem Bruder den Strick hinab; denn er wartet ja unten darauf.« Da warfen sie den Strick hinab; der Königssohn aber war klug, und weil er seinen beiden Brüdern nicht traute, so nahm er einen großen, schweren Stein, und band ihn an den Strick. Die Königssöhne aber meinten, sie zögen ihren Bruder heraus, und als sie dachten, jetzt sei er wohl halbwegs, schnitten sie den Strick ab, und der Stein fiel hinunter und zersprang in tausend Stücke.

Da sah der Königssohn, wie schlimm seine Brüder es mit ihm gemeint hatten, und mußte nun unten bleiben. »Ach,« dachte er, »wer wird mir wohl hier heraushelfen!« Da wanderte er durch das ganze Schloß und kam zuletzt auch an einen Stall, darin stand auch ein schönes Pferd. Wie er es nun so streichelte, that das Pferd seinen Mund auf, und sprach: »Du hast den Riesen ermordet, der mein Herr und Gebieter war, und nun sollst du mein Gebieter sein. Wenn du aber meinen Rath folgen willst, so bleibe hier bis ich es dir sage.« Also blieb der Königssohn in der Unterwelt, und fand in dem schönen Palaste Alles, was er brauchte.[52]

Unterdessen waren seine Brüder mit den drei schönen Mädchen zu ihrem Vater zurückgekehrt, hatten ihm Alles erzählt und gesagt, der Strick wäre gerissen, während sie ihren jüngsten Bruder hätten heraufziehen wollen, und der Unglückliche wäre in den Brunnen zurückgefallen, und todt geblieben. Da fing der alte König an laut zu weinen und zu jammern, und konnte sich gar nicht trösten.

Als nun einige Zeit vergangen war, heirathete der älteste Königssohn die älteste Königstochter, und der Zweite nahm die Mittlere zur Frau; die Jüngste wollte sich aber nicht verheirathen. So lebten die beiden Brüder in Frieden und Ruhe, und dachten nicht an ihren jüngsten Bruder, den sie doch ermordet hatten. Der König aber konnte seinen armen Sohn nicht vergessen, und weinte Tag und Nacht um ihn, so daß er endlich über dem vielen Weinen das Gesicht verlor. Da wurden alle Aerzte des ganzen Landes berufen, aber Keiner konnte ihm helfen, und Alle sagten: »Hier gibt es nur ein Mittel, das ist das Wasser der Fata Morgana. Wer damit seine Augen wäscht, wird wieder sehend. Wer aber kann das Mittel finden!« Da sprach der König zu seinen Söhnen: »Hört ihr, was die Aerzte sagen, meine Söhne! Ziehet aus, und verschaffet mir das Wasser der Fata Morgana, daß ich wieder sehend werde.« Die beiden Brüder machten sich also auf und zogen durch die ganze Welt, aber umsonst; sie konnten die Fata Morgana nicht finden.

Nun lassen wir sie, und sehen wir, was aus dem jüngsten Bruder in der Unterwelt geworden ist.

Der lebte also ruhig in seinem unterirdischen Schloß und es mangelte ihm nichts. Da sprach eines Tages das Pferd zu ihm: »Soll ich dir etwas sagen? Dein Vater ist vom vielen Weinen um dich blind geworden, und die Aerzte haben ihm gesagt, ihm könne nichts helfen, als das Wasser der Fata Morgana. Darum sind deine Brüder ausgezogen es zu suchen, doch werden sie es nicht finden, denn wie könnten sie zur Fata Morgana gelangen! Ich aber weiß, wo die Fata Morgana wohnt, denn sie ist meine Schwester. So setze dich nun auf meinen Rücken, dann wollen wir ausziehen und das Wasser holen.« Da bestieg der[53] Königssohn das Pferd und sie zogen fort. Das Pferd aber sprach: »Um das Wasser zu holen, braucht es sehr viel, denn meine Schwester ist stark und mächtig, und wir können es nur durch List bekommen. Darum höre auf meine Worte und merke dir Alles genau. Zuerst wirst du an ein großes Thor kommen, das immer auf und zu schlägt, also daß man nicht hindurch kann. Nimm aber eine starke Eisenstange mit, und stecke sie zwischen die beiden Thorflügel, so wird ein Spalt bleiben, durch den wir uns hindurch zwängen können. Dann wirst du eine riesige Scheere sehen, die immer auf und zu geht, und Alles zerschneidet, was hindurch will. Nimm eine Rolle Papier mit, netze sie, und stecke sie zwischen die Scheere, so wird eine Oeffnung bleiben, durch die wir hindurch können. Sind wir aber der Scheere entkommen, so werden sich zwei Löwen auf uns stürzen um uns zu verschlingen, darum mußt du eine Ziege mitnehmen, und die eine Hälfte davon nach rechts, die andre nach links werfen, so werden sie sich damit beschäftigen und uns ziehen lassen. Dann kommen wir in einen schönen Garten, in dem ist ein Brunnen, daraus tropft eine Flüssigkeit, das ist der Schweiß meiner Schwester, den zu holen du gekommen bist. Stelle ein Fläschchen darunter, daß jeder Tropfen aufgefangen wird. Neben dem Brunnen steht ein Granatbaum, mit schönen Granatäpfeln; pflücke drei davon, sie werden dir nützen.«

Der Königssohn versprach Alles getreulich zu befolgen, und so ritt er auf seinem Pferdchen davon und kam endlich an das große Thor, das mit vielem Lärm auf und zu schlug, so daß Niemand hindurch konnte. Doch der Königssohn steckte eine starke Eisenstange zwischen die beiden Thorflügel, da beruhigte sich das Thor, und es blieb eine Spalte, durch die er sich mit seinem Pferde hindurch zwängen konnte. Dann kam er an eine riesige Scheere, die ging immer auf und zu, und war so scharf und groß, daß sie einen Menschen mitten durchschneiden konnte. Der Königssohn aber steckte die nasse Rolle Papier dazwischen, und während die Scheere sich damit beschäftigte, kam er glücklich hindurch. Kaum aber war er der Scheere glücklich entronnen, als zwei grimmige Löwen sich auf ihn stürzten, um ihn zu verschlingen. Da zerriß er die Ziege, und[54] warf die Hälfte nach rechts und die Hälfte nach links, und die Löwen stürzten sich auf das Fleisch, und ließen ihn mit seinem Pferde durch. So kam er denn endlich in den schönen Garten, in dem der Brunnen stand. Da stieg er ab, zog sein Fläschchen hervor, und stellte es unter den Brunnen, um die Tropfen des kostbaren Wassers aufzufangen. Dann pflückte er die drei Granatäpfel und verwahrte sie. Nun hätte er den Worten des Pferdes folgen sollen, und geduldig warten, bis das Fläschchen voll war. Weil aber das Wasser nur tropfenweise kam, ward ihm die Zeit zu lang, und er dachte: »Während das Fläschchen sich füllt, könnte ich wohl ein wenig das Schloß betrachten, und sehen, wie es darinnen aussieht.« Da ging er die Treppe hinauf, und trat in das Schloß, und sah so viele Schätze und Kostbarkeiten, daß kein Mensch es glauben kann, und je weiter er ging, desto herrlichere Sachen fand er. Endlich kam er auch in einen prächtigen Saal, in dem lag auf einem Ruhebette die Fata Morgana, und sie war so schön, daß sie mit sieben Schleiern bedeckt war, und ihre Schönheit doch durch alle sieben Schleier hindurch leuchtete. Da beugte sich der Königssohn über sie, und nahm ihr die sieben Schleier weg, und als er sah, wie schön sie war, entbrannte er in heftiger Liebe zu ihr, neigte sich und küßte sie. Kaum hatte er ihr aber den Kuß gegeben, so ergriff ihn eine furchtbare Angst, daß er mit den Schleiern in der Hand entfloh und aus dem Schlosse lief. Am Brunnen war unterdessen das Fläschchen voll geworden, er ergriff es, warf sich aufs Pferd und sprengte davon.

Die Fata Morgana aber war von dem Kusse aufgewacht, und als sie sich entblößt sah, sprang sie auf, um den Königssohn zu verfolgen. »O, Löwen,« rief sie, »warum habt ihr diesen Jüngling durchgelassen? Kommet und helfet mir, ihn zu verfolgen!« Da sprangen die Löwen auf, und setzten dem Königssohne nach. »Schau dich um,« sprach das Pferd, »und sieh, was es gibt.« »Ach, liebes Pferdchen, die schöne verfolgt uns mit zwei grimmigen Löwen!« »Sei nicht bang, und wirf einen Granatapfel hinter dich.« Da warf der Königssohn einen Granatapfel hinter sich, und alsobald entstand ein breiter Strom, der[55] floß von lauter Blut. Die Fata Morgana und die beiden Löwen wurden dadurch aufgehalten, und als sie endlich hinüber kamen, hatte der Königssohn einen tüchtigen Vorsprung. Die Fata Morgana war aber doch noch schneller, und holte ihn bald wieder ein. »Schau dich um,« sprach das Pferdchen, »und sieh, was es gibt.« »Ach, liebes Pferdchen, die Fata Morgana ist dicht hinter uns.« »Sei nicht bang, und wirf den zweiten Granatapfel hinter dich.« Da warf der Königssohn den zweiten Granatapfel hinter sich, und alsobald entstand ein Berg von lauter Dornen. Als nun die Fata Morgana und die Löwen über den Berg hinüber wollten, zerstachen sie sich jämmerlich an den Dornen. Mit vieler Mühe kamen sie aber endlich doch hinüber, und verfolgten den Flüchtling. »Schau dich um,« sprach das Pferd, »und sieh, was es gibt.« »Ach, liebes Pferdchen, die Fata Morgana ist dicht hinter uns.« »Sei nicht bang, und wirf auch den letzten Granatapfel hinter dich.« Da warf der Königssohn auch noch den letzten Granatapfel hinter sich, und alsobald entstand ein Feuerberg, und als die Löwen hinüber wollten, fielen sie in die Flammen und verbrannten. Die Fata Morgana aber gab die Verfolgung auf und kehrte in ihr Schloß zurück.

Nachdem der Königssohn nun noch ein Weilchen geritten war, sprach das Pferdchen zu ihm: »Sieh, dort kommen deine Brüder, die suchen noch nach dem Wasser der Fata Morgana. Erzähle ihnen, daß du es hast, und wenn sie dich darum bitten, so überlasse ihnen das Fläschchen.« Da that der Königssohn, wie das Pferd ihn geheißen hatte, ging auf seine Brüder zu, und sprach: »Willkommen, liebe Brüder, wo zieht ihr hin?« »Wir sind ausgezogen, für unsern blinden Vater das Wasser der Fata Morgana zu suchen, damit er wieder sehend werde.« »Ach, liebe Brüder,« sprach der Königssohn, »das werdet ihr nimmer erlangen! Ich habe soeben mit Lebensgefahr ein Fläschchen voll geholt, und weiß, wie schwer es ist, hinzukommen.« Als die beiden Brüder das hörten, drohten sie, ihn zu ermorden, wenn er ihnen das Fläschchen nicht überließe. Da gab er ihnen das Wasser, und sie brachten es ihrem alten Vater, und als er sich die Augen damit gewaschen hatte, wurde er wieder[56] sehend. Da freute er sich über die Maßen, und gab jedem seiner Söhne die Hälfte von seinem Reiche.

Unterdessen hatte das Pferd den jüngsten Königssohn in die Unterwelt zurückgetragen, und da blieb er noch lange Zeit. Eines Tages sprach das Pferd zu ihm: »Deine Brüder sind bei deinem Vater angekommen, und haben ihn von seiner Blindheit geheilt. Nun ist es auch Zeit, daß du an die Oberwelt zurückkehrst.« Da legte der Königssohn königliche Kleider an und wünschte sich ein königliches Gefolge; dann bestieg er das Pferd und ritt, bis er in das Reich seines Vaters kam. Als er sich nun der Stadt näherte, war er so prächtig anzuschauen, daß man seinen Brüdern die Kunde brachte, ein mächtiger König komme mit großem Gefolge. Da gingen seine Brüder ihm entgegen, und als das Pferdchen sie kommen sah, sprach es: »Dort kommen deine Brüder; wenn sie dich gefangen nehmen wollen, so wehre dich nicht.« Als nun die Königssöhne ihren jüngsten Bruder erkannten, sprachen sie untereinander: »Ist das unser jüngster Bruder, der mit einem so großen Gefolge kommt? Wehe uns, jetzt wird er unserm Vater Alles erzählen, was wir ihm gethan haben. Darum wollen wir ihn lieber gleich gefangen nehmen, und unserm Vater sagen, ein fremder König habe uns den Krieg erklärt, und wir hätten ihn besiegt.« Und so thaten sie denn auch und stürzten sich auf ihren Bruder. Der ließ sich willig gefangen nehmen und sprach: »Erlaubet mir nur die Gnade, daß ich mein Pferdchen ins Gefängniß mitnehmen darf.« Da erlaubten sie es, und der Königssohn wurde mit seinem Pferdchen ins Gefängniß geführt; sein Gefolge aber verschwand, denn es war ja nur durch Zauberkunst1 entstanden.

Als nun der Königssohn mit seinem Pferdchen im Gefängniß war, sprach das Pferd: »Nun merke wohl auf meine Rede und thu, was ich dir sage. Nimm diesen schweren Stock, und prügle mich damit so lange, bis ich todt hinfalle. Dann nimm ein Messer und schneide mir den Leib auf, so wird es dein und mein Glück sein.« »Ach, liebes Pferdchen, ich[57] habe nicht das Herz dazu! du hast mir so viel Gutes gethan, wie kann ich dir nun auf diese Weise lohnen? Nein, nein, das thu ich nicht.« »Du mußt es aber doch thun,« sagte das Pferd, »denn nur so kannst du mich erlösen.« Da nahm der Königssohn einen schweren Prügel, und schlug das Pferd, und bei jedem Schlage rief er: »Ach! liebes Pferdchen! verzeih, daß ich dir weh thu! ich befolge ja nur dein Gebot.« Das Pferd aber sprach: »Mache dich stark, und schlage nur zu; sonst kann ich nicht sterben, und dann ist es mein und dein Unglück.« Da schlug der Königssohn immer stärker zu, bis das Pferd todt umfiel. Dann nahm er ein Messer und schnitt ihm den Leib ganz vorsichtig auf. Auf einmal sprang ein schöner Jüngling heraus, der sprach: »Ich bin der Bruder der Fata Morgana, und war in den Leib des Pferdes verzaubert, du aber hast mich erlöst, und nun will ich dir auch helfen.« Da wünschte er sich und den Königssohn aus dem Gefängniß heraus, und alsobald sprangen die Thüren auf, und die Beiden gingen hinaus vor die Stadt. Als sie aber vor dem Thore waren, wünschten sie sich königliche Kleider und ein mächtiges Heer, und alsbald stand hinter ihnen ein Heer, wie es nicht einmal der König hatte; das fing an zu schießen, daß die ganze Stadt davor erschrak. Der Königssohn aber schickte zu seinen Brüdern, und ließ ihnen sagen: »Ich bin euer jüngster Bruder, und bin mit einem großen Heere gekommen euch zu bestrafen für alles das, was ihr mir gethan habt.« Als seine Brüder das hörten, erschraken sie sehr, und ihr Herz wurde so dünn wie ein Haar.2 Da sprachen sie: »Wir wollen unserm jüngsten Bruder entgegen gehen, und uns ihm zu Füßen werfen, damit er uns verzeihe.« Da gingen sie hinaus, fielen auf die Knie und baten ihn um Verzeihung; er aber sprach: »Was ihr mir Böses gethan habt, will ich euch verzeihen; aber Könige könnt ihr nicht mehr sein, sondern das Reich meines Vaters muß mir allein gehören. Nun führet mich aber auch zu meinem lieben Vater.«

Da führten sie ihn zum alten König, und der Königssohn erzählte[58] Alles, wie es ihm ergangen war; und der alte König freute sich sehr, als er seinen lieben Sohn wiedersah, und umarmte und küßte ihn.

Während sie nun so voller Freude bei einander waren, ging auf einmal die Thür auf, und eine wunderschöne große Frau in prächtigen Gewändern und mit einem großen Gefolge trat herein, und das war die Fata Morgana, die sprach: »Ich bin die Fata Morgana. Dieser Jüngling aber hat mir meine Schleier geraubt, und hat mich geküßt, als ich schlief. Darum muß er mein Gemahl werden, und ich will ihn zu einem mächtigen König machen. Die jüngste Königstochter aber, die noch ledig ist, soll meinem Bruder angehören.«

Und so geschah es; sie hielten drei Tage lang Festlichkeiten, und der Königssohn heirathete die schöne Fata Morgana, und zog mit ihr in ihr Land. Das Reich seines Vaters aber schenkte er seinem Schwager, der die jüngste Königstochter heirathete. Und so blieben sie glücklich und zufrieden, wir aber sind leer ausgegangen.

1

Fatasciume.

2

U soi cori si fici quantu un filu di capiddu.

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. 49-59.
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