[155] 84. Die Geschichte vom Lignu di scupa.1

Es war einmal eine Frau, die hatte eine Tochter; die war so schön als die Sonne und der Mond. Die Frau war arm, darum schickte sie[155] ihr Töchterchen zu ihrer eigenen Mutter, die nahm es freundlich auf und behielt es bei sich. Nun hatte die Großmutter eine Pfanne, die pflegte sie ihren Nachbarinnen zu leihen, wenn diese etwas backen wollten, und dafür mußten ihr diese, wenn sie die Pfanne zurückbrachten, etwas von dem Gebackenen mitgeben.

Nun begab es sich eines Tages, daß die Alte ausgehen mußte und die Enkelin allein zu Hause ließ. Da kam eine Nachbarin und sprach: »Ich habe einige Fische bekommen und möchte sie backen; thu mir den Gefallen und gib mir die Pfanne.« Da gab das Mädchen ihr die Pfanne, und die Nachbarin buk die Fische, und als sie die Pfanne zurückbrachte, brachte sie auch vier gebackene Fische auf einem Teller. Da nun das Mädchen die schöngebackenen Fische sah, die so angenehm rochen, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen und aß ein kleines Stückchen davon, und da es ihr so gut schmeckte, so aß sie nach und nach alle vier Fische auf. Als die Großmutter nach Hause kam, frug sie gleich: »Hat die Nachbarin keine Fische gebracht?« »Ich habe ihr die Pfanne geliehen,« sprach das Mädchen, »sie hat aber keine Fische dafür gebracht.« Da ging die Großmutter zornig zur Nachbarin und rief: »Was soll das heißen? Ihr habt euch meine Pfanne geholt und habt mir nichts von eurem Gebackenen gebracht!« Die Nachbarin aber antwortete: »Was sagt ihr nur? Ich habe ja vier Fische bei Seite gelegt, und sie eurer Enkelin gegeben!« Da lief die Großmutter schnell nach Hause zurück und schalt und schlug ihre Enkelin, daß diese laut schrie und weinte.

Gerade in dem Augenblicke ritt der Königssohn vorbei, der auf die Jagd gegangen war. Als er nun den schrecklichen Lärm hörte, hielt er sein Pferd an und frug die alte Frau, warum sie das Mädchen so prügle. Die Großmutter aber schämte sich zu sagen, daß ihre Enkelin ihr die Fische aufgegessen hatte, darum antwortete sie: »Königliche Hoheit, meine Enkelin thut den ganzen Tag nichts als spinnen, und spinnt jeden Tag drei Rottoli Flachs. Zu ihrem eigenen Besten muß ich sie schlagen, damit sie nur einmal die Spindel weglegt.« Als der Königssohn das hörte und das schöne Mädchen ansah, sprach er: »Wenn eure[156] Enkelin so fleißig ist, so will ich sie auf mein Schloß mitnehmen, und sie soll meine Gemahlin werden.«

Da nahm er sie mit und brachte sie auf sein Schloß zu seinem Vater, dem alten König, und erzählte ihm Alles. »Gut,« sprach der König, »wenn sie jeden Tag drei Rottoli Flachs spinnen kann, so muß sie in einem Monat sechzig Rottoli zu spinnen im Stande sein. Und wenn sie das vollbracht hat, so soll sie deine Frau werden.« Da führte er das Mädchen in ein großes Zimmer, in dem sechzig Rottoli Flachs lagen, und darin wurde sie eingesperrt, und nur jeden Abend ließ der König sie holen, damit sie an der Abendunterhaltung2 Theil nehme.

Das arme Mädchen aber weinte Tag und Nacht, denn es konnte ja unmöglich all den Flachs spinnen.

Da sie nun eines Tages wieder so saß und weinte, stand auf einmal ein feiner Herr vor ihr, das war aber niemand anders als Meister Paul3. »Warum weinst du?« frug er sie. Da erzählte sie es ihm, und der Teufel antwortete: »Gut, ich will dir all diesen Flachs spinnen lassen, und am letzten Tag des Monats soll er fertig sein. Wenn ich ihn aber wiederbringe und du vermagst mir meinen Namen nicht zu sagen, so gehörst du mir und mußt mir folgen.« Das versprach das Mädchen, und Meister Paul nahm den Flachs mit und verschwand.

Nun sann aber das arme Mädchen Tag und Nacht darüber nach, wie der Fremde wohl heißen möge, und da ihr nichts einfiel, so weinte sie in Einem fort, und wurde mit jedem Tage magerer und trauriger, und wenn sie am Abend zum König geführt wurde, so saß sie still da, sprach nicht und lachte nicht. Dem König aber that es leid als er sie so traurig sah, und er ließ im ganzen Land verkünden, wer die Braut seines Sohnes zum Lachen bringen könne, dem werde er ein königliches Geschenk machen.

Da kamen von allen Seiten Leute herbei, reiche und arme, und erzählten ihr jeden Abend spaßige Geschichten, aber sie lachte doch nicht,[157] sondern wurde immer stiller, denn es fehlten noch drei Tage bis zum Ende des Monats.

Da kam am letzten Abend noch ein altes Bäuerlein zum Schloß und wollte hinaufgehen. »Was willst du im Palaste des Königs?« frugen ihn die Schildwachen. »Ich weiß eine spaßige Geschichte, die will ich der Braut des Königssohnes erzählen, ob ich sie vielleicht zum Lachen bringe.« »Ach, geh doch, du dummer Bauer, nun ist es bald ein Monat, daß jeden Abend Leute kommen, um die junge Königin zum Lachen zu bringen, und es ist noch Keinem gelungen. Was soll deine einfältige Geschichte nutzen!« Der Bauer aber schrie immerfort: »Ich will hinaufgehen, vielleicht ist meine Geschichte doch nicht so einfältig.«

Als nun der König den Lärm hörte, frug er, was es gebe. Da sagten ihm seine Minister, unten sei ein Bauer, der wolle der jungen Königin eine Geschichte erzählen, und die Schildwachen wollten ihn nicht durchlassen. »Warum denn nicht?« sprach der König, »laßt ihn doch nur heraufkommen.« Da kam der Bauer herauf und trat vor das Mädchen und sprach: »Excellenz, hört wie es mir ergangen ist. Ich war heute in den Wald gegangen um Holz zu holen, als ich auf einmal einen sonderbaren Gesang hörte, der also lautete:


›Spinnet, spinnet, spinnen wir,

Die schöne Frau erwarten wir,

Spinnet, spinnet, spinnet fleißig,

Besenstiel, so heiß ich.‹4


Als das Mädchen das hörte, merkte sie gleich, wer da gesungen hatte, und fing in ihrer Freude an laut zu lachen, und wurde gleich munter und gesund. Da machte der König dem Bauer ein schönes Geschenk und entließ ihn voller Freude.«

Als nun die Jungfrau wieder in ihre Kammer geführt wurde,[158] sprach der König: »Morgen mußt du mit deinem Flachs fertig sein, und dann wollen wir auch gleich die Hochzeit feiern.« Da setzte sie sich in die Kammer und wartete auf den Meister Paul; um Mitternacht erschien er auch richtig und brachte den Flachs mit, der war wunderschön gesponnen und gehaspelt. »Hier ist der Flachs,« sprach Meister Paul, »weißt du nun, wie ich heiße?« »Besenstiel heißest du,« rief sie lustig. Da hatte er keine Macht mehr über sie, und verließ sie im großen Zorn. Das Mädchen aber schlief ruhig die ganze Nacht, und als am Morgen der König in die Kammer trat, und den schöngesponnenen Flachs sah, ward er sehr erfreut und sprach: »Nun sollst du auch die Frau meines Sohnes werden.«

Da hielten sie drei Tage Festlichkeiten, und der Königssohn heirathete das schöne Mädchen, und sie blieben glücklich und zufrieden, wir aber haben das Nachsehen.

2

Conversazione.

3

Mastru Paulu, der Teufel.

4

»Filati, filati, filamu,

Sta sira a Signura aspettamu,

Filati, filati, filamu,

Lignu di scupa iu mi chiamu.«

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. 155-159.
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