89. Die Geschichte von Tobià und Tobiòla.

[176] Es war einmal ein Mann, der hieß Tobià, seine Frau hieß Sara, und sein Sohn Tobiòla. Tobià war ein frommer, gottesfürchtiger Mann, der all sein Gut dazu verwandte, den Armen viel Gutes zu thun. Alle Todten, die arm gestorben waren, ließ er in sein Haus bringen, trug sie dann selbst auf seinem Rücken aus der Stadt, und beerdigte sie auf seine Kosten. Dies that er zur Buße und um der armen Seelen willen. Seine Frau machte ihm oft Vorwürfe: »Ach, Tobià, wie wird es uns noch gehen, wenn du all dein Gut den Armen gibst; du wirst sehen, es wird noch die Zeit kommen, wo wir selber betteln gehen müssen.« »Laß es gut sein, liebe Sara,« antwortete er, »wer Gutes thut, wird Gutes finden.«1

Nun begab es sich eines Tages, daß Tobià hörte, in der Stadt sei ein armer Mann gestorben. »Bringet ihn her zu mir,« sprach er, »ich will ihn heute Abend beerdigen.« Da brachten sie ihm den Todten und er legte ihn unter das Bett; am Abend aber nahm er ihn auf seinen Rücken und trug ihn zur Stadt hinaus. Als er den Todten beerdigt hatte, ward er so müde, daß er sich unter einen Baum legte, um zu schlafen. In dem Baume aber hatte eine Schwalbe ihr Nest. Als nun Tobià unter dem Baume schlief, fiel etwas von dem Unrath der Schwalbe ihm in die Augen, also daß er erblindete. Da erwachte er, aber er konnte nichts mehr sehen, und nur mit vieler Mühe fand er den Weg nach Hause zurück. Als seine Frau ihn so kommen sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: »Ach, Tobià, was ist dir denn geschehen?« »Ja, was kann ich dafür,« sagte Tobià, »ich hatte mich unter einen Baum gelegt, um ein wenig zu ruhen. In dem Baume aber hatte eine Schwalbe ihr Nest, da fiel mir etwas von ihrem Unrath in die Augen, und ich erblindete.« »Ach, wir Unglücklichen! was soll nun aus uns werden, wenn du nicht mehr arbeiten kannst, und alle[177] unsere Habe und Gut hast du ja den Armen gegeben!« »Sei nur ruhig,« sagte Tobià, »wer Gutes thut, wird Gutes empfangen, und Gott verläßt den Gerechten nicht.«

Nun kam für den armen Tobià eine schwere Zeit, denn blind wie er war, konnte er nicht arbeiten, also daß ihm bald das Geld ausging. Da sprach er eines Tages zu seiner Frau: »Liebe Frau, unser Geld ist zu Ende; in der und der Stadt wohnt aber ein Bekannter von mir, dem habe ich einst Geld geliehen. Wir wollen unsern Sohn Tobiòla hinschicken, daß er sich das Geld wiedergeben lasse.« Also rief Tobià seinen Sohn Tobiòla und sprach zu ihm: »Mein Sohn, du mußt nun nach der und der Stadt gehen, und das Geld holen, das ich dort angelegt habe. Ich will aber nicht, daß du allein reisest, gehe auf den Markt, und sieh, ob du einen Reisegefährten findest.«

Da ging Tobiòla auf den Marktplatz, und sah einen schönen, schlanken Jüngling stehen, der frug ihn: »Tobiòla, wohin willst du reisen?« »In die und die Stadt.« »Dahin muß ich ja auch gehen, wir können also zusammen reisen.« Da ward Tobiòla hoch erfreut, und führte den Jüngling zu seinen Eltern und sprach: »Lieber Vater und liebe Mutter, ich habe nun einen Reisegefährten gefunden, gebt mir euren heiligen Segen, und laßt mich ziehen.« Da segneten Tobià und seine Frau ihren lieben Sohn und umarmten und küßten ihn, und Tobiòla zog mit dem Jüngling von dannen. Die Stadt aber, wohin sie reisen wollten, war viele Tagereisen weit entfernt.

Eines Tages nun kamen sie an einen Strom, darin schwamm ein Fisch herum, der kam immer dicht ans Ufer. »Tobiòla,« sprach der Jüngling, »greife den Fisch, und schneide ihm die Galle und die Leber aus; es wird dir nützen.« Tobiòla that, wie der Jüngling ihn thun hieß, griff den Fisch, schnitt ihm Galle und Leber aus, und verwahrte sie in einem Büchschen.

Nachdem sie die Reise vollbracht hatten, kamen sie endlich in die Stadt, in der Tobiòla das Geld holen sollte. »Wo willst du hier Herberge nehmen?« frug ihn der Jüngling. »Mein Vater hat hier einen[178] Bekannten, der ist sein Gevatter, bei dem soll ich wohnen,« sprach Tobiòla. Dieser Gevatter aber hatte eine Tochter, die war wunderschön, und hatte schon sieben Männer gehabt, die waren aber alle sieben in der Brautnacht gestorben.

Als nun Tobiòla und der Jüngling zu dem Manne kamen, sprach Tobiòla: »Gevatter, ich bin der Sohn eures Gevatters Tobià und seiner Frau Sara.« »O, Gevatter, welche Freude,« rief der Mann, »kommt doch in mein Haus, und bleibt bei mir, ihr und euer Begleiter.« Tobiòla und der Jüngling traten ein, und die schöne Tochter des Gevatters brachte ihnen zu essen und zu trinken. »Weißt du, was ich mir ausgedacht habe, Tobiòla?« sprach der Jüngling, »ich will dich mit diesem schönen Mädchen verheirathen.« »O, Bruder mein,«2 antwortete Tobiòla, »das ist aber mein Tod; denn dieses Mädchen hat schon sieben Männer gehabt, und Alle hat man am Morgen nach der Hochzeit todt im Bette gefunden.« »Sei nur ruhig, Tobiòla, wenn du thust, was ich dir sage, so wird dir nichts geschehen.« So sprach der Jüngling und ging zum Gevatter. »Guter Freund,« sagte er, »mein Gefährte Tobiòla wünscht eure schöne Tochter zu heirathen. Gebet sie ihm und laßt uns dann wieder in unsre Heimath zurückkehren.« Der Vater wollte nicht und sprach: »Ach, wißt ihr denn nicht, daß meine Tochter dies schreckliche Schicksal auf sich hat, daß sie schon sieben Männer gehabt habt, und Alle sind in der Brautnacht gestorben?« »Wer weiß,« antwortete der Jüngling, »vielleicht wird Tobiòla nicht sterben, gebt ihm nur eure Tochter.« Also wurde die Hochzeit gefeiert, und Tobiòla heirathete die schöne Tochter des Gevatters. Nach der Trauung aber nahm ihn sein Gefährte bei Seite, und sprach zu ihm: »Höre wohl auf meine Worte und befolge sie genau. Heute Abend, wenn du mit deiner jungen Frau in die Kammer geführt wirst, so verschließe die Thüren und Fenster wohl, und lege die Galle des Fisches auf ein Kohlenbecken, daß sie verbrenne, und der Rauch euch Beide durchziehe. Dann wirf dich mit deiner Frau[179] auf die Knie, und thut drei Stunden lang Buße, denn deine Frau wird von einem bösen Teufel geplagt, der heißt Romeò, und weil ihre andern sieben Männer nicht Buße thaten, so bekam er Gewalt über sie.«

Tobiòla merkte sich Alles, was der Jüngling gesagt hatte, und als er mit seiner Frau in die Kammer geführt wurde, verschloß er die Thüren und Fenster wohl, daß kein Rauch hinausdringen konnte. Dann nahm er die Galle aus dem Büchschen, daß sie verbrannte, und der Rauch die ganze Kammer erfüllte. Tobiòla aber und seine Frau warfen sich auf den Boden und thaten Buße, drei Stunden lang, und das schöne Mädchen weinte bitterlich in ihrer Herzensangst. Nach den drei Stunden legten sie sich zu Bette und schliefen ruhig bis zum Morgen.

Als der Tag anbrach, standen der Gevatter und seine Frau in schweren Sorgen auf, und der Mann sprach zu seiner Frau: »Geh einmal in die Kammer und sieh, ob der unglückliche Tobiòla noch lebt.« Als sie aber in die Kammer trat, lagen Beide im Bette und schliefen sanft und ruhig. Da war große Freude im Haus, und Alle lobten Gott und dankten ihm für seine Gnade. Tobiòla blieb nun noch einige Tage in derselben Stadt; nachdem er aber das Geld seines Vaters wiederbekommen hatte, sprach er zum Gevatter: »Lieber Schwiegervater, ich muß nun wieder nach Hause zu meinen Eltern gehen, gebt uns euren Segen und laßt uns ziehen.« Da lud der Schwiegervater die Aussteuer seiner Tochter auf einige Maulthiere, segnete seine Tochter und seinen Schwiegersohn und ließ sie ziehen.

Seine Mutter Sara aber weinte immer, weil ihr lieber Sohn schon so lange fort war, und sie nichts mehr von ihm gehört hatte, und des Abends stieg sie auf einen hohen Berg, und schaute aus, ob er nicht bald käme.

Als sie nun wieder einmal auf dem Berg stand, und mit vielen Thränen nach Tobiòla ausschaute, sah sie auf einmal zwei Männer und eine Frau daherkommen mit mehreren hochbepackten Maulthieren, und als sie genauer hinsah, war einer der Männer ihr Sohn Tobiòla. »Gott sei gelobt, da kommt mein Sohn!« rief sie voll Freude, »und welch[180] schönes Mädchen hat er bei sich! Das ist ein sicheres Zeichen, daß es ihm gut ergangen ist.« Als nun Tobiòla seine Mutter erkannte, lief er ihr entgegen und küßte ihr die Hand, und das schöne Mädchen küßte ihr auch die Hand, und so gingen sie Alle zusammen fröhlich nach Haus.

Denkt euch nun die Freude des alten, blinden Tobià, als er hörte, sein Sohn sei wiedergekommen! Der Jüngling aber sprach zu Tobiòla: »Nimm die Leber des Fisches, und bestreiche damit die Augen deines Vaters, so wird er sein Gesicht wiederbekommen.« Da nahm Tobiòla die Leber des Fisches aus dem Büchschen, und bestrich damit die Augen seines Vaters, und alsbald ward er sehend.

Während sie sich aber noch darüber freuten, verwandelte sich der Jüngling in einen schönen Engel und sprach: »Ich bin der Engel Gabriel, und bin von Gott gesandt worden, euch zu helfen, weil Gott gesehen hat, daß ihr fromm und gottesfürchtig seid. Führet ein heiliges Leben, so werdet ihr glücklich sein, und wenn ihr sterbt, wird euch Gott in sein Paradies aufnehmen.« Damit segnete er sie, und flog zum Himmel. Tobià aber und seine Familie führten ein heiliges Leben, und als ihre Stunde kam, starben sie, und Gott nahm sie in seine Arme.

1

Cu beni fa, beni trova.

2

Fatri meu.

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. 176-181.
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