XXXV. Der genarrte Stalo.

[151] (Aus dem schwedischen Lappmarken.)


Ein Aschenputtel hatte sich einmal auf die eine oder andere Weise verirrt und war zu dem Wohnsitze eines Stalo gekommen. Dieser Stalo besaß Haus, Küche und Schafe. Derselbe pflegte immer, wenn er solch eines kleinen Wechselbalges von einem Lappenjungen habhaft wurde, ihn einige Zeit bei sich zu behalten, um ihn zu mästen, bevor er ihn verspeiste. So gedachte er es auch mit diesem zu machen. Der Aschenputtel ersann indessen eine List, den Stalo blind zu machen. Er stellte sich nämlich, als ob er außerordentlich scharfsichtig wäre, und gab vor, daß er allerlei merkwürdige Dinge in weiter Entfernung sehe. Stalo versuchte, in dieselbe Richtung zu stieren, konnte aber nichts entdecken.

»Höre, mein Junge«, sagte Stalo, »wie bist du denn so scharfsichtig geworden?«

»Ja, das ist so«, antwortete der Aschenputtel, »ich ließ mir einmal einen Tropfen Blei in die Augen tröpfeln, und davon bin ich so scharfsichtig!«

»Ah, was du nicht sagst«, meinte der Stalo; »komm', Lieber, und gieße auch mir ein wenig geschmolzenes Blei in die Augen; ich möchte ebenfalls so scharfsichtig werden wie du«.[152]

»Ja«, sagte Aschenputtel, »ich will es gerne thun; aber du hältst es wohl nicht aus, denn es schmerzt ein wenig!«

»Nicht aushalten?« meinte Stalo, »ich werde Alles aushalten, wenn ich nur so scharfsichtig werde wie du, Bursch!«

Aschenputtel mußte so gleichsam gegen seinen Willen dem Stalo Blei in die Augen gießen. Er ließ den Stalo sich auf den Rücken legen und goß zuerst in dessen eines Auge Blei. Stalo wehklagte, sagte aber gleichwol:

»Beeile dich, mein Lieber, und gieße rasch auch in das andere Auge Blei!«

Der Junge that es.

»Nun wirst du,« sagte Aschenputtel, »eine zeitlang blind sein, bis die Augen die Verwandlung durchgemacht haben; hernach aber wirst du sehr scharfsichtig sein.«

So lange der Stalo blind war, sollte der Junge die Sorge für den Haushalt auf sich nehmen. Er suchte sich unter den Schafen des Stalo einen fetten Widder aus und schlachtete denselben. Hierauf nahm er Stalo's alten Hund und schlachtete auch diesen. Des Abends kochte er für sich fettes Schaffleisch in dem einen Topfe, in dem anderen Topfe aber kochte er Hundefleisch für den Stalo, und als Alles gesotten war, stellte er dem Stalo in einem Troge das Hundefleisch vor, während er sich selbst hinsetzte und von dem fetten Schaffleisch aß.

Der Stalo hörte nun, wie der Bursch mit gutem Appetit und Behagen seine Mahlzeit verzehrte, während er selbst das zähe Hundefleisch kaum beißen konnte.

»Höre, Junge«, sagte Stalo zum Aschenputtel, »koktes tun njalbme fal snjaiska, ja mun njalbme fal stauka, stauka? Woher kommt es, daß dein Mund schmatzt und schnalzt, während mein Mund nur knarrt?«

Der Aschenbuttel fand darauf irgend eine Antwort und Stalo mußte sich damit begnügen.[153]

Es dauerte indessen nicht lange, so sah Stalo ein, daß er von dem Burschen zum Besten gehalten worden war, denn die versprochene Scharfsichtigkeit wollte sich durchaus nicht einstellen. Er war und blieb blind. Nun dachte er darüber nach, wie er sich rächen und dem Jungen seinen Betrug ordentlich heimzahlen könnte. Eines Tages endlich bat er denselben, in den Schafstall zu gehen, um die Schafe zu zählen.

»Das kann ich ja thun«, sagte Aschenputtel und ging hinein.

Aber obgleich der Stalo blind war, kam er doch sogleich nach und stellte sich in der Thüre auf.

»Aha!« dachte der Stalo, »jetzt habe ich dich in der Falle! du sollst meinen Klauen nicht entrinnen!«

Aber Aschenputtel ließ sich auch nicht so leicht entmuthigen.

»Laß nun alle meine Schafe heraus!« sagte Stalo, »aber eins nach dem andern, meinen großen Widder zuletzt!«

»Ja, ja« sagte der Bursch, »es soll so geschehen!«

Hierauf ließ er die Schafe, eines nach dem andern, zwischen den Füßen Stalo's, der mitten in der Thüre stand, zum Stalle hinaus; den großen Widder aber schlachtete er und zog ihm das Fell ab. Als endlich die Reihe an diesen gekommen wäre, hüllte der Bursch sich in das Fell und ging auf allen Vieren zwischen den Beinen des Stalo's zum Stalle hinaus.

»Aha!« sagte Stalo, »da ist mein prächtiger, großer Widder!« und klopfte dem vermeintlichen Thier auf den Rücken.

Endlich sagte Stalo: »Komm nun selber heraus, mein Junge!«

Da rief Aschenputtel im Freien:

»Ich bin ja schon längst heraußen!«

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 151-154.
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