XLII. Das Stalo-Thal.

[172] (Aus Lyngen.)


In Lyngen's Kirchspiel liegt ein Thal, ungefähr eine Meile innerhalb des Marktplatzes Skibotn, auf der linken Seite des Storfjords. Die Eigenthümer des Hofes Storeng sollen in alter Zeit, bevor dieses Thal bewohnt wurde, Weiden für ihr Vieh daselbst gehabt haben. Eines Tages nun, als ein junges, schönes Lappenmädchen im Thale die Thiere hütete, kam ein Stalo dahin und freite um das Mädchen, und als dasselbe nicht sogleich »Ja« sagte, drohte er, daß er es mit Gewalt entführen werde. Zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm Herz und Hand zu versprechen, sie hoffte aber doch noch, daß sie durch die eine oder andere List gerettet werden könne, wenn Zeit und Gelegenheit käme. Sie bat Stalo so lange, daß er ihr erlaubte, nach Hause zu gehen, um, wie sie vorgab, einiges von ihrem unentbehrlichen Kram und ihre Festkleider zu holen. Stalo aber drohte ihr, daß er alle Thiere erschlagen würde, wenn sie nicht so schnell als möglich zurückkäme.

Als das Mädchen nach Hause kam, gab es große Bestürzung und Schrecken auf dem Hofe; denn reiste dasselbe fort, so fürchteten sie, daß sie es niemals wiedersehen würden, und hielt es sein Versprechen nicht, so verloren die Lappen die Herden,[173] die ihr ganzes Hab und Gut ausmachten. Das Mädchen faßte Muth und vertrauend auf ihre ausgedachte List wollte sie wie eine zweite Judith ihr Leben wagen für ihre geliebte Herde. Sie packte ein Bündel Kleider zusammen, legte den schönsten Rock an und schnallte den hübschest–gestickten Gürtel um ihre schmale Taille. Hierauf hängte sie Beil, Messer und Nähzeug an ihren Gürtel, putzte ihre Haube mit den buntesten Bändern auf, nahm frisches Queckgras, das sie in ihre besten Schuhe stopfte, und steckte endlich noch einen großen Knäuel von Bindfaden in die Tasche. So ging sie von dannen und hinauf durch das Thal zu dem Orte, wo ihr barscher Freier sie bereits voll Ungeduld erwartete. Erfreut, seine schöne Braut wieder zu sehen, reichte Stalo ihr seine rechte Hand und so wanderten sie längs des mit dichtem Walde bewachsenen Thales dahin.

Das Mädchen ließ sogleich den Knäuel fallen, behielt aber das eine Ende des Fadens in der Hand. Als Stalo hierüber seine Verwunderung ausdrückte, gab sie vor, daß sie dadurch den Knoten des Fadens bekäme. Als sie annahm, daß der Knäuel abgewickelt sei, ließ sie das Ende des Fadens los, ohne daß ihr Verehrer es bemerkte und Verdacht schöpfte. Nun begann sie Stücke der äußeren feinen Rinde bald von diesem, bald von jenem Baume abzuschälen, während sie weiter durch das Thal gingen; auf Stalo's Frage, warum sie dies thue, antwortete sie, daß sie die feine Rinde sammle, um Feuer damit anzumachen, wann sie ausruhen und Mahlzeit halten würden.

Endlich kamen sie zu einer waldlosen Ebene, wo Stalo stehen blieb und sich setzte. Das Mädchen machte alsbald Feuer mit der gesammelten Rinde, trug trockenes Holz zusammen und legte dasselbe auf das Feuer. Nachdem sie gegessen hatten, überschüttete Stalo das Mädchen mit Liebkosungen und zeigte sich seiner jungen Braut gegenüber so heiter, daß seine Barschheit in zärtliche Liebe verwandelt schien. Er bat sie flehentlich, daß sie in seinen Armen ausruhen möchte; aber sie weigerte sich[174] dessen mit weiblicher Schamhaftigkeit, so lange das Feuer noch brenne, versprach jedoch, daß sie sich, sobald das Feuer verlöscht wäre, allen seinen Wünschen fügen wollte, da er so besonders gut gegen sie sei. Vertrauend auf seine Stärke und hingerissen von Liebe, legte er seinen Kopf in ihren Schooß und bat sie, auf demselben eine Jagd nach Wild anzustellen.

Nach früherer Verabredung war inzwischen der Dienstherr des Mädchens, begleitet von mehreren Nachbarn, der Spur des Stalo gefolgt. Geleitet von dem Bindfaden und den bezeichneten Birkenbäumen, fanden sie bald zu dem Aufenthaltsorte des Liebespaares und kamen unbemerkt so nahe, daß sie den Wink des jungen Mädchens beobachten konnten. Sowie dieses an Stalos schwerem Athem bemerkte, daß derselbe in tiefen Schlaf gefallen sei, gab sie ihnen ein Zeichen. Sie schlichen sich heimlich an und versetzten Stalo, der mit dem Gesichte im Schooße des Mädchens lag, einen so wuchtigen Hieb auf den Rücken, daß er sogleich todt war.

Den Riesenleib des Stalo legten sie unter einen großen Stein, den sie hierauf mit einer Menge kleinerer Steine bedeckten, so daß weder von dem Leibe noch von dem großen Steine etwas sichtbar war. Die Lappen wollen wissen, daß man einmal vor vielen Jahren in dem Steinhaufen nachgegraben und dabei menschliche Gebeine von ungewöhnlicher Größe gefunden habe. Der Stein heißt noch heute Stalo-gæđge (Stalo-Stein) und das Thal wird von den Lappländern Stalo-vagge (Stalo-Thal), von den Norwegern aber Skogspeiderdal (Waldspäherthal) genannt.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 172-175.
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