III. Die wilden und die gezähmten Thiere.

[18] (Aus Koutokäino.)


Es war einmal ein Pfarrer, der wollte sich verheirathen. Er schickte deshalb nach allen Seiten Boten aus und lud zur Hochzeit alle damals noch wilden Thiere der Umgegend ein: den Bären, den Wolf, den Vielfraß, den Fuchs, den Weißfuchs, das Pferd, die Kuh, die Ziege, das Schaf und das Renthier.

Zuerst machte sich der Bär auf den Weg. Er begegnete einem Knaben.

»Wohin des Weges?« fragte der Knabe.

»Ich muß zur Hochzeit des Pfarrers!« antwortete der Bär.

»Reise nicht dahin!« sagte der Knabe; »du hast einen so ausgezeichneten Pelz, daß ihn die Leute gerne haben möchten und dich darum erschlagen und ihn dir abziehen werden.«

Der Bär that, wie der Knabe ihm gerathen. Er kehrte um und ging wieder in den Wald zurück.

Dann kam der Wolf.

»Wohin des Weges?« fragte der Knabe.

»Ich muß zur Hochzeit des Pfarrers!« antwortete der Wolf.

»Reise nicht dahin!« sagte der Knabe. »Du hast ein so schönes Fell, daß du nicht mehr lebend von dort zurückkehrst!«

Der Wolf machte es wie der Bär. Er kehrte um und ging wieder in den Wald zurück.[19]

Dann kam der Vielfraß.

»Wohin des Weges?« fragte der Knabe.

»Zur Hochzeit des Pfarrers!«

»Reise nicht dahin!« sagte der Knabe; »du hast ein so ausgezeichnetes Fell, daß sie dich, wenn du dahin gelangst, festnehmen werden und du nie wieder von dort fortkommst.«

»Ach, ich bin stark genug, um wieder zu entschlüpfen, wenn ich will,« meinte der Vielfraß; er wußte, daß er sich sowohl in das Haus hinein, als auch aus dem Hause heraus nagen könnte, aber er that gleichwohl, wie der Knabe ihm gerathen.

Dann kam der Fuchs.

»Wohin des Weges?« fragte der Knabe.

»Zur Hochzeit des Pfarrers!«

»Nimm dich in Acht!« sagte der Knabe; »du hast einen so kostbaren Pelz, daß dir die Leute sogleich das Leben nehmen und dir das Fell abziehen werden«.

Der Fuchs säumte nicht und schlich wieder heim.

Dann kam der Weißfuchs.

»Wohin des Weges?« fragte der Knabe.

»Zur Hochzeit des Pfarrers!«

»Ach, du Armer! Was willst du dort machen? Wenn du dahin kommst, fressen dich die Hunde!«

Der Weißfuchs fürchtete sich und kehrte wieder um.

Nun aber kam das Pferd.

»Wohin des Weges!« fragte der Knabe.

»Zur Hochzeit des Pfarrers!« antwortete das Pferd.

»Reise nicht dahin!« sagte der Knabe; »wenn du dahin kommst, so nehmen sie dich, da du so stark bist, zur Arbeit und du gewinnst nie wieder die Freiheit!«

»Ach, niemand kann mich festhalten,« sagte das Pferd; »ich reiße mich los, wenn ich nur will.«

Hierauf ging das Pferd weiter, ohne sich darum zu kümmern, was der Knabe gesagt hatte; als es aber dahin kam, wo die[20] Hochzeit stattfinden sollte, wurde es gebunden und zu einem Arbeitsthier gemacht.

Dann kam die Kuh.

»Wohin des Weges?« fragte der Knabe.

»Zur Hochzeit des Pfarrers!«

»Geh' nicht dahin!« sagte der Knabe; »du hast so viel Milch, eine so gute Haut und so gutes Fleisch, daß sie dich, wenn du dahin kommst, binden werden und du nie wieder die Freiheit erlangst.«

Aber die Kuh achtete auch nicht auf die Warnung des Knaben und deshalb erging es ihr ebenso, wie es dem Pferde ergangen war. Sie wurden beide zu Hausthieren gemacht und erlangten nie wieder ihre Freiheit.

Dann kam die Ziege und auch sie wollte nicht auf den Rath des Knaben hören. Deshalb erging es ihr nicht besser als dem Pferde und der Kuh.

Dann kam das Schaf; aber obgleich der Knabe ihm abrieth, zur Hochzeit zu reisen, weil es nicht nur schöne Wolle, sondern auch gutes Fleisch habe, so half es doch nichts. Das Schaf war dumm genug, dahin zu gehen, und kam niemals wieder zurück.

Endlich kam auch das Renthier.

»Wohin des Weges?« fragte der Knabe.

»Ich muß zum Hochzeitsschmaus, zum Pfarrer!« antwortete das Renthier.

»O, du Thor!« sagte der Knabe; »wenn du dahin kommst, wirst du den Leuten so gut gefallen, daß sie dich behalten, da du stark und geschwinder bist als jedes andere Thier ohne Flügel!«

»Ja, ich bin stark und bin flink,« antwortete das Renthier; »es geschieht mir nichts, wenn sie mich auch binden; ich mache mich schon wieder frei, wenn ich will!«[21]

Dann setzte das Renthier seinen Marsch fort. Es erging ihm aber nicht besser als den anderen Thieren, die zur Hochzeit des Pfarrers gekommen; es wurde ebenfalls gebunden, gezähmt und zum Arbeitsthier gemacht.

So ging es zu, daß einige Thiere wild und frei ge blieben, andere gezähmt worden sind. Die ersteren waren folgsam und hörten auf einen vernünftigen Rath; die letzteren waren eigenwillig und unfolgsam und deshalb erging es ihnen, wie es allen ergeht, die wohlgemeinte Rathschläge nicht befolgen wollen.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 18-22.
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