LIII. Der Bauerssohn, der Königssohn und die Schwester der Sonne.

[221] (Aus Tanen.)


Es waren einmal ein Königssohn und ein Bauerssohn. Sie waren Spielgenossen und hatten von dem Könige jeder einen Bogen erhalten, mit dem sie Pfeile in die Luft schossen, um zu sehen, wessen Pfeil am höchsten gehe. Einmal nun, als sie sich wieder auf diese Weise unterhielten und Beide zugleich in die Luft schossen, geschah es, daß, als die Pfeile niederfielen, auf der Spitze des einen Pfeiles eine Schwanzfeder einer goldenen Henne steckte. Darüber kam es nun zu einem Streite. Der Königssohn behauptete, daß es sein Pfeil sei, auf dessen Spitze die goldene Feder stak, der Bauerssohn aber behauptete, daß es vielmehr der seinige sei, und der Bauerssohn hatte dieses Mal Recht. Da sie sich nicht einigen konnten, gingen sie zum Könige und erzählten ihm, wie Alles zugegangen war. Als der König dies hörte, sagte auch er, daß der Pfeil, auf dessen Spitze die Schwanzfeder war, seinem Sohne gehöre. Der Bauernknabe gab jedoch nicht nach, sondern behauptete noch immer, daß es sein Pfeil sei. Schließlich erzürnte der König und sagte zu dem Knaben:

»Nun, so lassen wir es gelten, daß es dein Pfeil ist; wenn es aber schon dein Pfeil ist, so soll es dir auch erlaubt[222] sein, die goldene Henne zu holen, welcher eine Feder an ihrem Schwanze fehlt, und holst du sie nicht, so gilt es dein Leben.«

Dem Knaben wurde bänglich zu Muthe; er wußte nicht, wo in aller Welt er nach der goldenen Henne suchen sollte. Aber es blieb ihm keine andere Wahl übrig, als sich auf die Wanderung zu machen, schon allein aus dem Grunde, um dem Zorn des Königs zu entgehen. So machte er sich denn einen Sack mit Proviant zurecht und zog fort, obschon er nicht wußte, welchen Weg er einschlagen sollte.

Als er einen Tag lang gegangen war und die Nacht anbrach, legte er sich zur Ruhe, wobei ihm der Proviantsack als Kopfkissen diente. Er hatte jedoch nicht lange geschlafen, als er dadurch erwachte, daß Jemand an dem Proviantsacke zog. Der Knabe richtete sich auf, und als er sich umsah, entdeckte er, daß es ein Fuchs war, der an dem Sacke zog.

»Wohin willst du reisen?« fragte der Fuchs.

»Ah, ich habe mich auf den Weg gemacht, um eine goldene Henne zu suchen, die eine Feder aus ihrem Schwanze verloren hat!« sagte der Knabe, »aber ich weiß nicht, wo ich die Henne finden werde.«

»Ich werde dir den Weg zeigen«, sagte der Fuchs. »Siehst du, dort weit im Osten ist eine schöne Jung frau, welche die ›Schwester der Sonne‹ (Bæivas oabba) oder die ›Morgenröthe‹ genannt wird. Sie hat drei goldene Hühner auf ihrem Hof.«

So zogen denn der Knabe und der Fuchs weiter und wanderten zusammen den ganzen Tag: der Fuchs voraus, der Knabe hinterdrein. Als der Abend kam, legten sie sich zur Ruhe und schoben ihre Proviantsäcke als Kissen unter den Kopf. Um die Mitternachtszeit begann der Fuchs zu winseln und sich vor dem Knaben sehr aufgeregt zu geberden.

»Herr Vetter!« sagte der Fuchs, »da ist Jemand, der mir den Proviantsack wegziehen will!«[223]

Als der Knabe sich umsah, bemerkte er, daß ein Mensch ganz nahe bei ihnen stand.

»Wohin wollt ihr denn, ihr Beide?« fragte der Mann.

Der Knabe und der Fuchs erzählten, wohin sie wollten, und als der Mann dies hörte, erbot er sich, bei ihnen zu bleiben und ihnen behilflich zu sein. So reisten sie denn nun alle Drei weiter: der Fuchs voraus, der Mann und der Knabe hinterdrein. Endlich kamen sie zu dem Schlosse der Sonnenschwester, wo sich die goldenen Hühner befinden sollten. Vor dem Thore blieben sie stehen und berathschlagten lange, wer von ihnen zuerst hineingehen sollte.

»Ich will es zuerst versuchen, hineinzugehen und die Henne zu stehlen!« sagte der Fuchs.

Aber dem Knaben gefiel es nicht, daß der Fuchs zuerst hineingehen sollte.

»Ich will selbst gehen!« sagte der Knabe.

»Du wirst nicht ohne Verdrießlichkeiten davonkommen!« meinte der Fuchs.

»O, es wird mir nichts geschehen!« entgegnete darauf der Knabe.

»So geh' denn«, sagte der Fuchs, »aber irre dich nicht; nimm nur diejenige Henne, bei der du siehst, daß ihr eine Schwanzfeder fehlt!«

Der Knabe ging in den Hof hinein, erblickte sogleich die drei goldenen Hühner und sah auch, daß einem derselben eine Feder im Schwanze fehlte. Es gelang ihm, die Henne ohne Weiteres zu ergreifen, und er ging mit derselben nach dem Thore zu. Als er aber schon in der Nähe desselben war, entdeckte er, daß eine Thür, die in ein Zimmer innerhalb des Hofes führte, ein wenig offen war.

»Warum soll ich nicht hingehen und mich ein wenig umsehen?« dachte sich der Knabe.[224]

Er ließ die Henne wieder laufen, ging langsam näher, sah sich um und entdeckte, daß die Schwester der Sonne in einem Bette im Zimmer lag und schlief. Hierauf ging er wieder hinaus, ergriff die Henne und wollte zum Thore hinaus.

»Warum soll ich nicht auch das Angesicht der Schwester der Sonne betrachten?« dachte der Knabe.

Er ließ die Henne laufen, ging wieder in das Zimmer hinein und sah, daß das Angesicht der Schwester der Sonne unbeschreiblich schön war. Er ging wieder hinaus, ergriff die goldene Henne und schritt auf das Thor zu.

»Warum soll ich die Schwester der Sonne nicht küssen, da sie doch schläft und so schön ist«? dachte der Knabe und blieb stehen.

Er ließ die Henne abermals laufen, stahl sich in das Zimmer hinein und küßte die Schwester der Sonne. Als er aber wieder hinaus kam und die Henne ergreifen wollte, war diese so scheu geworden, daß sie sich durchaus nicht fangen ließ. Als er ihr nachlief, begannen alle Hühner zu schreien und von diesem Lärm erwachte die Schwester der Sonne; sie kam zur Thür und sagte zu dem Knaben:

»Du darfst meine goldene Henne nicht nehmen, es sei denn, daß du meine Schwester holst, welche von Riesen geraubt und weit, weit fortgeführt worden ist!«

Der Knabe wurde betrübt und ging hinaus und erzählte seinen Kameraden, wie es ihm im Hofe drinnen ergangen sei, und daß er die goldene Henne erst dann nehmen dürfe, wenn er die Schwester der Sonnenschwester, »die Abendröthe«, geholt habe, welche von Riesen geraubt und weit, weit fortgeführt worden sei.

»Ich wußte es ja, daß du nicht ohne Verdrießlichkeit davon kommen würdest«, sagte der Fuchs.[225]

Hierauf reisten sie weiter. Der Fuchs war wieder derjenige, der den Weg weisen sollte. Als sie mehrere Tage lang gewandert waren und sich der Riesenburg näherten, sagte der Fuchs:

»Wenn wir bei der Riesenburg angelangt sind, müßt ihr Beide wieder draußen bleiben, während ich hineingehe und das Mädchen hole. Wenn ich dann mit ihr herauskomme, müßt ihr sie allsogleich ergreifen und so schnell, als ihr könnt, mit ihr davoneilen. Ich selbst werde wieder hineingehen und die Riesen aufzuhalten versuchen, so daß sie nicht merken, was mit dem Mädchen geschehen ist.«

Nach dieser Verabredung gingen sie weiter und kamen zur Riesenburg. Der Fuchs, der dort ein alter Bekannter war, schlüpfte leicht hinein. Als er hinein kam, tanzten die Riesen eben mit dem Mädchen und, als sie den Fuchs sahen, riefen sie:

»Komm' und mache ein Tänzchen mit uns, alter Fuchs!«

Der Fuchs war gern dazu bereit, als er aber eine Weile getanzt hatte, sagte er zu den Riesen:

»Erlaubt mir nun, daß auch ich einmal das Mädchen in meine Arme nehme und mit ihm tanze!«

Die Riesen überließen das Mädchen dem Fuchs; in demselben Augenblick blies aber der Fuchs die Lichter aus und eilte mit dem Mädchen durch die Thür hinaus zu seinen Kameraden, die draußen warteten. Selbst sprang er sogleich wieder hinein. Die Riesen waren damit beschäftigt, Feuer anzublasen; aber kaum daß es ihnen gelang, Licht zu machen, blies der Fuchs es wieder aus.

»Hu, hu! wo ist das Mädchen?« brüllten die Riesen.

»Das Mädchen ist hier in meinen Armen!« sagte der Fuchs.

Auf diese Weise hielt er die Riesen so lange auf, bis er annehmen konnte, daß seine Kameraden bereits fünf bis sechs kleine Berge hinter sich hatten. Dann sprang er selbst auch davon und rief den Riesen zu:[226]

»Das Mädchen ist hier, kommt und nehmt es!«

Die Riesen erbitterten sich rasend gegen den Fuchs und liefen ihm nach. Der Fuchs aber nahm nicht den Weg, den seine Kameraden gezogen waren, sondern lief auf's Gerathewohl hinaus in die Wildniß so weit und so lange, daß er endlich ermüdete und ausruhen mußte. Er legte sich zu einem Kreise geschmiegt nieder, den Schweif über die Nasenspitze, und schlief ein. Als er im besten Schlafe war, kamen die Riesen. Der Fuchs war so müde und schlief so fest, daß sie ihn beinahe zertreten hätten, bevor er sie bemerkte. Er sprang nun wieder nach einer anderen Richtung davon und lief so lange, bis er wieder genöthigt war, sich kreisrund niederzulegen und auszuruhen. Doch da kamen abermals die Riesen und der Fuchs mußte sich neuerdings auf die Beine machen und lief so lange, bis der Tag zu grauen begann. Als sich aber die Morgenröthe auf dem Horizonte zeigte, blieb der Fuchs stehen und wartete auf die Riesen. Als sie auf ihn losstürzten, zeigte er gegen Osten und rief:

»Seht, da kommt die Schwester der Sonne!«

Die Riesen erhoben ihre Augen zu der Morgenröthe und wurden alle in steinerne Säulen verwandelt. Nun zog der Fuchs weiter und suchte die Spur seiner Kameraden, und als er diese wieder eingeholt hatte, reisten sie alle Vier zusammen zurück zu dem Schlosse der Schwester der Sonne. Hier gab es Jubel und Freude, und der Knabe wurde natürlicherweise sehr freundlich aufgenommen, da er die verschwundene Schwester zurückbrachte. Die goldene Henne, nach der er ausgezogen war, erhielt er sogleich; aber das war noch nicht Alles. Die Schwester der Sonne versprach, daß sie nach einiger Zeit selbst dahin kommen werde, wo der Knabe wohne, seine Gemahlin werden und bei ihm wohnen wolle. Aber die Schwester der Sonne war so, daß es von ihr leuchtete wie von einem strahlenden Sterne, und wenn sie in ein Haus kam, es so hell darin wurde, wie am lichtesten Tage, wenn es auch früher so dunkel war wie die[227] Nacht. Sie schlossen einen Bund der Treue mit einander und einigten sich darüber, zu welcher Zeit die Schwester der Sonne kommen sollte.

Als nun der Knabe erlangt hatte, wonach er ausgezogen war, und außerdem noch von der Schwester der Sonne das Versprechen erhalten hatte, daß sie seine Gemahlin werden wolle, reiste er mit seiner Begleitung. Auf dem Heimwege blieb der Mann wieder dort, wo er zu den beiden Anderen gestoßen, und der Fuchs blieb ebenfalls dort, von wo er zu dem Knaben gekommen war. So wanderte der Knabe nun allein dahin. Als er heim kam, ging er zum Könige und überbrachte ihm die goldene Henne, welcher eine Feder im Schwanze fehlte. Hierauf erzählte er auch, daß er heirathen und eine solche Frau bekommen werde, daß es im Hause von ihr leuchte wie von dem hellsten Licht. Der König antwortete darauf:

»Wenn es sich nicht so verhält, wie du sagst, sollst du lebendig in ein brennendes Theerfaß geworfen werden!«

Der Knabe versicherte, daß es wahr sei, und erzählte außerdem, an welchem Tage und zu welcher Stunde seine Braut, der Verabredung gemäß, die sie vor ihrer Trauung getroffen, kommen würde, um sich mit ihm zu vermählen. Als aber die festgesetzte Zeit mit Riesenschritten heranzunahen begann, fing der Bursch an, ängstlich und besorgt zu werden; denn der König hatte bereits das Theerfaß angezündet, in das er lebendig geworfen werden sollte, wenn seine Braut, die Schwester der Sonne, nicht zur bestimmten Zeit erschiene. Die Stunde rückte heran, das Theerfaß flammte und der Bursch war bis zum Tode betrübt und angsterfüllt. Er wußte keinen anderen Rath auf dieser Welt, als sich niederzuwerfen und den allmächtigen Gott anzurufen, daß er ihm Erlösung schenke von dem schmählichen Tode in einem brennenden Theerfasse.

Als die Angst des armen Burschen ihren Höhepunkt erreicht hatte, kamen Leute gelaufen, welche erzählten, daß man[228] weit draußen auf dem Meere ein großes Schiff mit vollen Segeln auf die Stadt zu kommen sehe. Niemand wußte noch, was das Schiff in seinem Schooße barg. Die Stunde, zu der die Schwester der Sonne kommen oder der Bursch in das Theerfaß geworfen werden sollte, war verstrichen. Aber der König sagte, man solle noch warten, bis das Schiff weiter gesegelt sei; er wollte nicht, daß der Bursch jetzt verbrannt würde, damit der abscheuliche Geruch sich nicht in der Stadt verbreite, so lange das Schiff im Hafen läge.

Das Schiff segelte in den Hafen herein, und bald erfuhr man, daß es der Schwester der Sonne gehöre, welche gekommen sei, um den Bauernburschen zu heirathen, wie sie es ihm versprochen hatte. Sie ging auch sogleich zu der Hütte, wo ihr Bräutigam beinahe leblos von Sorge und Angst lag.

»Kennst du mich?« fragte die Schwester der Sonne.

»Nein, ich kenne dich nicht!« antwortete der Bursch.

»Küsse mich!« sagte die Schwester der Sonne.

Der Bursch küßte sie.

»Kennst du mich noch nicht!«

»Nein«, antwortete der Bursch, »ich kenne dich nicht!«

Nun mußte die Schwester der Sonne selbst erzählen, daß sie seine verlobte Braut sei, welche jetzt komme, um Hochzeit mit ihm zu halten.

Auch der König erfuhr jetzt, daß die Schwester der Sonne gekommen sei; er ließ das Theerfaß auslöschen und ging hin, um zu sehen, ob das wirklich wahr sei, was der Knabe von ihr erzählt hatte, daß es nämlich in dem Hause, in welchem sie sich befinde, ganz hell werde. Als er in die Hütte des Bauernburschen kam, sah er, daß es drinnen ebenso licht war, wie mitten am Tage. Der König versuchte nun die Schwester der Sonne zu überreden, daß sie statt des Bauernburschen lieber seinen Sohn heirathen möchte; aber die Schwester der Sonne war taub gegen alle seine Reden und Bitten. Sie wollte den Bauernburschen haben[229] und am nächsten Tage sollte Hochzeit gehalten werden. Am nächsten Tage aber, als die Trauung vorgenommen werden sollte, sagte der Vater des Burschen, daß die selbe nur in Gegenwart des Königs stattfinden dürfe. Als aber der König kam, sagte dieser:

»Ihr dürft nicht früher Hochzeit halten, als bis der Bursch drei Dinge ausgeführt hat, und das Erste ist, daß er an einem Tage alle Bäume fällen muß, die in meinem Walde stehen!«

Damit war es für diesen Tag mit der Hochzeit vorbei. Der Bursch wußte nicht, wie er den Befehl des Königs ausführen sollte; aber die Schwester der Sonne sagte zu ihm:

»In meinem Schiffe befindet sich eine Axt; geh' und hole sie und begib dich damit in den Wald und hau' einen Baum um. Wenn er fällt, sage: ›So falle der ganze Wald!‹ Drei von den Spänen aber, die zu Boden fallen, wenn du den Baum umhaust, hebe auf und stecke sie in deine Tasche.«

Der Bursch that, wie die Schwester der Sonne ihm befohlen hatte. Als der erste Baum fiel, fielen auch alle übrigen. Drei Späne aber hob er auf und steckte sie in die Tasche.

Am nächsten Morgen wollten sie wieder mit der Hochzeit beginnen. Aber der Vater des Burschen sagte abermals, daß die Trauung nicht stattfinden könne, wenn der König nicht dabei sei. So wurde denn wieder der König geholt. Als derselbe kam, sagte er:

»Ihr dürft nicht früher Hochzeit halten, als bis der Bursch alle Bäume, die er gestern fällte, wieder mit ihren Wurzeln aufgestellt hat!«

Auch diesen Tag wurde also nichts aus der Hochzeit. Der Bursch mußte in den Wald gehen und thun, was die Schwester der Sonne ihm sagte. Sie gab ihm eine kleine Flasche mit Salbe und sagte:[230]

»Stelle einen Baum auf, salbe ihn und sprich: ›So sollen sich alle Bäume des Waldes aufrichten!‹«

Der Bursch that dies, und der Wald stand wieder da, wie er früher dagestanden hatte.

Am Morgen des dritten Tages begannen sie abermals mit der Hochzeit; aber auch diesmal konnte die Trauung nicht stattfinden, ohne daß der König dabei sein sollte. Als er geholt worden, sagte er:

»Der Bauernbursch darf nicht eher heirathen, als bis er eine Schlange mit drei Köpfen erschlagen hat, die sich im See vor meinen Fenstern aufhält!«

Dem Burschen wurde angst und bange, er wußte, daß die Schlange ein entsetzliches Thier war, welches er durch eigene Stärke und eigene Hand nicht überwinden konnte. Aber seine Braut wußte auch diesmal Rath.

»Geh' hinaus auf mein Schiff«, sagte sie zu ihrem Bräutigam, »und hole mein Schwert. Geh' hierauf zum See und wirf die Späne in's Wasser. Nimm dann das Boot und rudere mitten auf den See hinaus. Wenn die Schlange auftaucht, hau' nach ihr mit dem Schwerte; du wirst ihr alle drei Köpfe auf einmal abhauen. Hau' dann auch die Spitze von jeder Zunge ab und geh' am nächsten Morgen damit in die Küche des Königs. Wenn der König Morgens in die Küche hinaus kommt, dann sprich zu ihm:

›Hier bring' ich dir ein Morgenopfer zur Vergeltung dafür, daß du mir drei Morgenopfer gebracht hast!‹ Wirf dann die Zungenspitzen hin und eile fort zum Schiffe; hüte dich aber, zurückzusehen!«

Der Bauernbursch that, wie ihm seine Braut befohlen hatte. Aus den Spänen, welche er in den See warf, wurde ein Boot. Mit diesem ruderte er bis in die Mitte hinaus, und als die Schlange ihren Kopf erhob, schlug er ihr alle drei Köpfe auf Einmal ab. Hierauf hieb er auch die Spitze der[231] Zungen ab und ging damit am nächsten Morgen nach der Küche des Königs. Als der König in die Küche hinaus kam, sagte der Bursch:

»Gnädigster König! du hast mir drei Morgenopfer dargebracht, dafür bringe ich dir hier ebenfalls ein Morgenopfer!«

Gleichzeitig warf er die Zungenspitzen hin und lief sodann davon, fort, hinab zum Schiffe. Aber er strauchelte auf dem Wege und fiel so, daß er dabei zufällig nach rückwärts blickte. Da sah er, daß weder die Stadt noch die Königsburg mehr vorhanden waren. Alles war von den Zungenspitzen vernichtet worden. Und als er nach dem Schiffe blickte, war es so weit draußen im Hafen, daß er es kaum mehr sehen konnte.

Da stand er nun wieder ganz allein und wußte nicht, was er anfangen sollte. Betrübt machte er sich auf die Wanderung, ohne zu wissen wohin. Als er einen Tag lang gewandert war, sah er gegen Abend an einem kleinen Erdhügel Rauch aufsteigen. Er ging auf den Erdhügel zu und rief:

»Lieb' Mütterlein, lass' mich hinein!«

Die Gieddagäts-Alte ließ den Burschen in die Hütte hinein, und als er drinnen war, fragte er sie:

»Kannst du mir nicht Bescheid geben über die Schwester der Sonne?«

»Nein, das kann ich nicht!«

Der Bursch wollte wieder gehen; aber beim Fortziehen gab die Alte ihm einen Brief, bat ihn, denselben zu ihrer nächstältesten Schwester mitzunehmen, und sagte:

»Wenn du anfängst, müde zu werden, nimm den Brief heraus und schüttle die Blätter!«

Der Bursch wanderte weiter und als er einen langen Weg zurückgelegt hatte und wieder müde zu werden begann, fiel ihm ein, was die Alte von dem Briefe gesagt hatte. Er zog ihn hervor, schüttelte die Blätter und sogleich verschwand[232] alle Müdigkeit. Hierauf wanderte er wieder weiter und kam abermals zu einem Erdhaufen, von welchem Rauch aufstieg.

»Lieb' Mütterlein, lass' mich hinein!« rief der Bursch wie früher.

Die Gieddagäts-Alte ließ ihn hinein.

»Hier schickt dir deine älteste Schwester einen Brief!« sagte der Bursch.

Die Alte nahm den Brief in Empfang und dankte dem Burschen für seine Mühe.

»Du kannst mir wohl keinen Bescheid über die Schwester der Sonne geben?«

»Nein, ich weiß keinen Bescheid!« sagte die Alte; als aber der Bursch gehen wollte, gab sie ihm einen Brief mit an ihre jüngste Schwester und sagte:

»Wenn du müde wirst, so zieh' den Brief heraus und schüttle die Blätter!«

So zog denn der Bursch weiter, bis er abermals aus einem Erdhügel Rauch aufsteigen sah.

»Lieb' Mütterlein, lass' mich hinein!« rief der Bursch auch diesmal.

Die Gieddagäts-Alte ließ ihn hinein.

»Sieh, hier ist ein Brief von deiner nächstälteren Schwester!« sagte der Bursch. »Weißt du mir nicht Bescheid zu geben über die Schwester der Sonne?«

»Ja,« antwortete die Alte, »sie wohnt auf dem Banka-Schlosse und ihr Vater hat neulich eine große Niederlage im Kriege erlitten, weil du mit seinem Schwert verschwunden bist, und die Schwester der Sonne selbst liegt beinahe im Sterben vor Gram und Kummer. Aber wenn du zu ihr kommst, nimm eine Stecknadel und stich ihr in die Handfläche hinein, und wenn dann ein Blutstropfen hervorkommt, sauge denselben auf. Es wird dann besser mit ihr werden und sie wird dich wieder erkennen. Bevor du[233] aber in's Banka-Schloß kommst, werden dir noch viele wunderbare Dinge begegnen!«

Als die Gieddagäts-Alte dem Burschen diesen Bescheid gegeben hatte, reiste er weiter. Er war nicht lange gegangen, so traf er zwei Brüder, die sich um ein Kleidungsstück stritten.

»Worüber streitet ihr denn, gute Leute?« fragte der Bursch.

»Unser Vater hat uns ein Kleidungsstück hinterlassen, welches die Eigenschaft hat, daß Einen, wenn man es anzieht, Niemand sehen kann«, sagten sie. »Darum streiten wir!«

»Laßt es mich für einen Augenblick sehen«, sagte der Bursch, »dann werde ich euch sagen, wer es behalten soll!«

Die Brüder überließen dem Burschen das Kleidungsstück, er aber hatte dasselbe kaum in den Händen, als er es umwarf und verschwand, so daß sie ihn nicht mehr sahen. – Hierauf wanderte er weiter und begegnete zwei Leuten, die sich um ein Tischtuch zankten.

»Weßwegen zankt ihr denn?«

»Wegen eines Tuches«, antworteten die Brüder, »das die Eigenschaft hat, daß, wenn es auf den Tisch gebreitet wird, der Tisch sich augenblicklich mit den köstlichsten Gerichten bedeckt!«

»Laßt mich das Tuch besehen«, sagte der Bursch, »dann werde ich entscheiden, wer es behalten soll.«

Als der Bursch das Tuch in den Händen hatte, machte er sich unsichtbar und verschwand. – Hierauf wanderte er abermals weiter und traf Zwei, die wegen eines Stockes stritten.

»Weshalb zankt ihr euch? fragte der Bursch.«

»Wegen eines Stockes«, antworteten die Brüder, »der die Eigenschaft hat, daß man mit dem einen Ende Menschen erschlagen und mit dem anderen Ende dieselben wieder lebendig machen kann.«

»Zeigt mir den Stock«, sagte der Bursch, »dann werde ich entscheiden, wer ihn behalten soll!«[234]

Als die Brüder den Stock ihm hinreichten, hütete er sich wohl, denselben an dem Ende anzufassen, welches sie ihm entgegenhielten es war nämlich das Ende, welches tödtete. Er bat, daß er das andere Ende anfassen dürfe, und als er den Stock in der Hand hatte, machte er sich unsichtbar und verschwand.

Endlich traf er Zwei, die sich um ein Paar Schuhe stritten.

»Worüber streitet ihr denn?« fragte der Bursch.

»Ueber ein Paar Schuhe, welche die Eigenschaft haben, daß, wenn man sie trägt und sich nach irgend einem Ort wünscht, man augenblicklich dort ist.«

»Laßt auch mich sie versuchen«, sagte der Bursch, »dann werde ich bestimmen, wer sie behalten soll!«

Als er die Schuhe erhielt, legte er sie an und rief:

»Ich möchte auf dem Banka-Schlosse sein!«

Sogleich war er dort und fand die Schwester der Sonne beinahe sterbend vor Kummer. Aber er nahm eine Stecknadel und stach sie damit in die Handfläche, so daß ein Blutstropfen hervorkam. Diesen saugte er auf, und sogleich kam die Schwester der Sonne wieder zu sich und erzählte ihm nun, wie es ihr und ihrem Vater von der Zeit an ergangen war, als sie von ihm getrennt wurde.

»Aber das Schlimmste von Allem«, sagte sie, »ist, daß mein Vater große Verluste im Kriege erlitten hat, weil du mit seinem Schwerte verschwunden bist.«

»Wo liegen die Todten?« fragte der Bursch, »ich muß hin und sie sehen!«

Sie zeigte ihm den Weg und der Bursch ging auf das Schlachtfeld, wo die Gefallenen lagen, und machte sie mit dem Stocke alle wieder lebendig. Da gab es denn Freude und Fröhlichkeit auf dem Banka-Schlosse und hierauf hielten sie Hochzeit und lebten glücklich ihr ganzes Leben lang.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 221-235.
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