LVII. Iwan, Kupiska's1 Sohn.

[257] (Aus Akkala in Russisch-Lappland.)


Es lebte einmal ein Kaufmann, der hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Eltern starben und hinterließen große Besitzungen, sowie einen Hund. Die Güter sollten gemeinschaftlich sein, der Hund aber dem Sohne gehören. Da verkauften die Kinder die Güter und schenkten das Geld der Kirche. Hierauf theilten sie die Kleider und reisten auf's Gerathewohl hinaus in die weite Welt. Der Hund begleitete sie. Sie wanderten dahin durch Wald und Feld, über Berge und Thäler, deren Namen sie nicht kannten, sie setzten über Seen und Flüße, deren Furten sie nicht kannten, aber sie kamen doch vorwärts. Endlich gelangten sie zu einem großen Hause mitten im Walde; dasselbe war leer. Sie gingen hinein und legten sich darin zur Ruhe. Sie waren aber nicht lange drinnen gewesen, als drei große, häßliche Räuber kamen, denen dieses Haus gehörte. Da sagte die Schwester ganz verzagt zu dem Bruder:

»Ich fürchte mich so sehr, ich fürchte mich so sehr!«

»Ah, fürchte dich nicht, es wird uns nichts geschehen!« sagte der Bruder, und er begann auch sogleich mit dem ältesten der Räuber zu ringen. Als der Hund sah, das es seinem Herrn[258] schlecht ging, sprang er hinzu und biß den Räuber so stark in den Fuß, daß er rücklings zu Boden fiel. Hierauf packte er denselben bei der Kehle und biß ihn todt. Es kam nun die Reihe an den nächstältesten Räuber; und auch diesem erging es nicht besser als dem ersten. Nun sollte der Jüngste an die Tour kommen. Da begann die Schwester zu weinen und zu jammern. Der Hund sprang auf ihn zu, um ihn zu beißen, aber in demselben Augenblick hielt die Schwester den Hund zurück.

»Lieber Bruder, tödte den Jüngsten nicht!« bat die Schwester.

»Warum nicht?« fragte der Bruder.

»Er ist so jung! Du kannst ihn ja binden und dann kann ich mit ihm sprechen, wenn ich allein zu Hause bin, während du draußen auf der Jagd bist!«

So banden sie ihn denn. Am nächsten Morgen stand der Bruder zeitlich auf und ging auf die Jagd. Die Räuber hatten drei Pferde. Eines davon, welches Flügel hatte, nahm er und ritt hierauf fort. Als aber der Bruder fort war, löste die Schwester dem Räuber die Bande. Der Räuber war ein schöner Mann und bald wurden sie einig, daß sie Mann und Weib werden wollten.

»Aber was wird mein Bruder dazu sagen?« meinte die Schwester.

»Wir nehmen ihm das Leben!« sagte der Räuber. Und sie beschloßen auch wirklich, dem Bruder das Leden zu nehmen.

»Das Schlimmste ist der Hund!« meinte der Räuber. »Aber höre nur! Wenn dein Bruder zurückkommt, so sage ihm, daß du krank bist und daß du nicht gesund werden könntest, wenn du nicht Bärenmilch bekämest.«

Als der Bruder sich dem Hause näherte, band die Schwester wieder den Räuber, legte sich sodann auf das Bett und jammerte und klagte.[259]

»Was fehlt dir? Bist du nicht gesund, Schwester?« fragte der Bruder.

»Nein, ich bin so krank, ach, so krank!« jammerte die Schwester.

»Was für eine Arznei hast du denn nothwendig?«

»Es gibt nur ein Mittel, das mir helfen kann«, sagte die Schwester; »aber man findet es nur weit, weit von hier. Hinter zwei Meeren ist ein drittes Meer. Draußen auf diesem Meere ist eine Insel, auf der Insel befindet sich ein Bär und dieser Bär hat Junge und Milch in seinem Euter. Ein wenig von dieser Milch kann mich gesund machen.«

Der Bruder ruhte die Nacht über aus; aber zeitlich am nächsten Morgen stand er auf, nahm sein fliegendes Pferd und flog über Länder und Meere dahin. Der Hund war ebenfalls mit und saß rückwärts auf dem Pferde. So kam er zu der Insel. Der Bär lief ihm sogleich entgegen, aber Iwan schlug mit seinem Stock nach demselben und der Hund biß und zerfleischte ihn, so daß er gar bald um das Leben bitten mußte.

»Erschlag' mich nicht, Iwan Kupiska's Sohn!« bat der Bär; »was du haben willst, magst du nehmen, aber nimm mir nicht das Leben!«

»Ich brauche nicht dein Leben, ich brauche nur deine Milch!« sagte Iwan.

Hierauf bekam er Milch und außer der Milch bekam er auch eines von den Jungen des Bären. Er reiste sogleich mit der Milch, dem Hunde und dem Bärenjungen heim. So hatte er nun zwei Diener.

Als die Schwester den Bruder in weiter Ferne kommen sah, band sie den Räuber wieder und legte sich auf das Bett. Hierauf kam der Bruder mit der Bärenmilch.

»Das ist doch des Teufels mit dem Bruder, daß der Bär ihn nicht zerrissen hat!« dachte die Schwester und in ihrem[260] Aerger darüber nahm sie die Milch und goß sie weit über den Boden hin aus.

Am nächsten Morgen ging der Bruder wieder auf die Jagd mit seinen zwei Dienern, dem Hunde und dem Bären. Als er fort war, löste die Schwester dem Räuber abermals die Bande und sie berathschlagten nun neuerlich, wie sie dem Bruder das Leben nehmen könnten. Am allerwenigsten wußten sie Rath wegen des Hundes.

»Stelle dich wieder krank!« sagte der Räuber.

Als der Bruder zurückkam, hatte die Schwester den Räuber wieder gebunden, und sie selbst lag auf dem Bette und jammerte wie früher:

»Ich bin so krank, ach, so krank!«

»Was für eine Arznei hast du nothwendig?« fragte der Bruder.

»Reise wieder nach der Insel zurück!« sagte die Schwester. »Auf der Insel ist ein Wolf, der Junge hat, und Wolfsmilch ist das Einzige, was mir helfen kann!«

Am nächsten Morgen reiste Iwan zeitlich auf dem fliegenden Pferde, mit dem Bären und dem Hunde hinten drauf, fort. Sowie er zu der Insel kam, stürzte der Wolf ihm entgegen; aber Iwan schlug ihn mit seinem Stock, so daß er um Gnade bitten mußte.

»Tödte mich nicht, Iwan Kupiska's Sohn!« bat der Wolf. »Alles, was du haben willst, sollst du erhalten; nur schone mein Leben!«

»Ich brauche dein Leben nicht, ich brauche nur deine Milch!« sagte Iwan.

»Nimm so viel du willst!« sagte der Wolf.

Er bekam nun Wolfsmilch und außerdem eines von den Jungen des Wolfes, so daß er jetzt drei Diener hatte. Als er sich dem Hause näherte, band die Schwester den Räuber und[261] legte sich auf's Bett. Hier auf kam der Bruder mit der Milch zu ihr.

»Teufelsbruder, den auch der Wolf nicht zerrissen hat!« dachte die Schwester und in ihrem Aerger schüttete sie die Milch weit über den Boden hin aus.

Am nächsten Morgen begab sich der Bruder mit seinen drei Dienern auf die Jagd. Der Hund spürte auf, der Wolf jagte und der Bär tödtete. Als er Abends heimkam, lag die Schwester wieder auf dem Bette und jammerte wie früher:

»Ich bin so krank, ach, so krank!«

»Was für eine Arznei hast du nothwendig?« fragte der Bruder.

»Weit von hier sind zwei Berge«, sagte die Schwester, »die sich bald öffnen, bald wieder schließen. Zwischen den Bergen sind zwei Katzen, ein Männchen und ein Weibchen. Das Weibchen bäckt Kuchen und das Männchen streicht Butter darauf. Verschaffe mir die Kuchen, dann werde ich gesund!«

Am nächsten Morgen zeitlich reiste der Bruder mit seinen drei Dienern auf dem Rücken des Pferdes – zuerst der Bär, dann der Wolf und zuletzt der Hund – wieder ab. Es dauerte nicht lange, so kamen sie zu dem Berge und gerade in diesem Augenblicke öffnete er sich und tief unten in einer Kluft saßen zwei Katzen und bucken Kuchen. Das Pferd machte einen Sprung und eins, zwei, drei waren sie alle miteinander unten. Iwan ergriff augenblicklich die Kuchen und das Pferd sprang wieder mit ihm hinauf; aber der Bär, der Wolf und der Hund kamen nicht auf das Pferd hinauf, und die Berge schloßen sich über ihnen. So mußte er ohne sie heimreisen. Die Schwester und der Räuber waren sehr erfreut, als sie sahen, daß der Bruder allein nach Hause kam.

»Nun wollen wir ihn tödten!« sagte der Räuber, und als Iwan eintrat, war der Räuber seiner Fessel entledigt und sagte zu ihm:[262]

»Geh hin und heize in der Badestube ein!«

Iwan willigte ein und ging sogleich dahin. Aber während er damit beschäftigt war, die Badestube zu erwärmen, kam ein Rabe dahergeflogen.

»Woher kommst du?« fragte Iwan.

»Von den Bergen, die sich öffnen und schließen!«

»Was gibt es Neues?«

»Der Bär, der Wolf und der Hund leben noch!«

»Was treiben sie?«

»Sie graben einen Weg unter dem Berge; um wieder zu dir her zu kommen!«

Als die Badestube erwärmt war und Iwan sich auf die Bank im Dampfe niedergelegt hatte, kam der Räuber, um die Thüre zu verammeln und die Badestube in Brand zu stecken. Aber gerade in dem Augenblicke, als er sie anzünden wollte, kamen der Hund, der Bär und der Wolf, überfielen den Räuber und zerrißen ihn. Hierauf ging der Bruder zu seiner Schwester hin ein und sagte:

»Dreimal hast du Anschläge gemacht, mich zu tödten, dreimal sind sie dir mißlungen; denn siehe, ich lebe noch! Aber nun verlasse ich dich auf immer!«

Er nahm hierauf den Hund, den Bären und den Wolf mit sich und zog zu Fuß von dannen. Die Schwester blieb allein zurück und alles, was die Räuber besessen hatten, auch die Pferde überließ Iwan ihr. Er ging und ging, bis er endlich zu einer Stadt kam. Er betrat dieselbe und wanderte durch die Straßen der Stadt. In einem Fenster saß ein Kaufmann. Der Kaufmann sah, daß der Fremde der Sohn eines besseren Mannes sein müsse, und lud denselben zu sich ein. Als er eine Weile mit ihm gesprochen hatte, bat ihn der Kaufmann, daß er bei ihm bleiben möge. Iwan blieb und der Kaufmann gewann ihn so lieb und hatte solche Freude an ihm, daß er weder essen noch trinken konnte, wenn Iwan nicht dabei war. Er liebte ihn, als ob er sein eigener Sohn gewesen wäre, und schließlich gab er ihm seine einzige Tochter zur Ehe. Eines Tages fragte er Iwan:[263]

»Hast du keine Geschwister?«

»Ja, ich habe eine einzige Schwester«, antwortete Iwan, »aber sie ist weit, weit von hier!«

»Bringe sie hieher!« sagte der Kaufmann.

Den Tag darauf bestieg Iwan ein Pferd und ritt fort, um die Schwester zu holen. Nach langem Suchen fand er wieder zurück zu dem Hause im Walde, wo sie ganz allein wohnte. Hierauf nahm er die Schwester, die drei Pferde und alles Gut mit sich zu dem Kaufmann, seinem Schwiegervater. Die Schwester blieb bei ihnen; sie konnte es aber nicht vergessen, daß der Bruder den Tod des jungen Räubers, ihres Geliebten, verursacht hatte, und suchte noch immer nach einer Gelegenheit, ihm das Leben zu nehmen. Eines Tages endlich fand sich eine solche und sie stieß dem Bruder ein Messer mitten in's Herz, so daß er todt zusammenstürzte.

Der alte Kaufmann klagte und jammerte lange Zeit über den Verlust seines theuren Schwiegersohnes. Er ließ ihn unter seinem Fenstern begraben, um ihn auch nach dem Tode so nahe als möglich bei sich zu hahen. Als der Hund, der Bär und der Wolf merkten, daß ihr Herr verschwunden war, weinten sie alle lange. Aber der Wolf fand das Grab und begann zu graben. Der Bär kam auch dazu und nahm die Leiche aus dem Sarge. Sodann kam der Hund und als dieser Iwans Wunde beleckt hatte, wurde Iwan, der Sohn Kupiska's, wieder lebendig. Der Alte war vor Freude ganz außer sich, als er seinen Schwiegersohn wieder lebendig vor sich sah.

»Weshalb hast du mich getödtet?« fragte der Bruder seine Schwester.

»Weshalb hast du meinen Geliebten getödtet?« antwortete sie. Hierauf wurde die Schwester zum Tode verurtheilt und in dem Grabe ihres Bruders begraben; Iwan aber, der Sohn Kupiska's, lebte noch lange und glücklich.

1

Kupez, russisch = Kaufmann.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 257-264.
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