XLIX. Anika.

[202] (Aus Russisch-Lappland.)


Gleich östlich vom Jakobsflusse in Süd-Varangen ragt eine große Halbinsel in's Eismeer hinaus, welche die »Fischerinsel« genannt wird. Auf der Ostseite derselben befindet sich eine ganz kleine Insel, welche den Namen Anikijef trägt. Der Ort ist ein ausgezeichneter Fischplatz und die Insel in alten Zeiten sowohl von Fischern wie von Walfischfängern häufig besucht worden. Davon zeugt eine Menge von Namen mit Jahreszahlen, welche sich auf einem flachen Schieferfels auf der Insel eingehauen finden. Ueber den Ursprung des Namens dieser Insel erzählen die Lappen in jener Gegend nachstehende Sage, die auch unter den Russen im Gouvernement Archangel allgemein bekannt ist.


Vor vielen, vielen Jahren mußten Alle, welche bei der Fischerinsel fischten, von ihrer Ausbeute einem Seeräuber oder Viking, der Anika hieß, Abgabe entrichten. Dieser Anika fand sich jedes Frühjahr mit Schiff und Mannschaft ein und zwang den Fischern mit Gewalt den zehnten Theil ihres Fanges ab. Während des Winters hingegen war er dort nie zu sehen und Niemand wußte, wo er sich zu dieser Jahreszeit aufhalte. Die[203] allerersten Fischer aber, die im Frühling dahin kamen, konnten sicher sein, daß sie Anika's Schiff schon dort antrafen und Anika selbst am Strande spazieren ging, um sie zu empfangen. Selbst Diejenigen, welche ihren Aufenthaltsort an anderen Stellen der Fischerinsel als in der Bucht bei Anikijef hatten, mußten hier anlegen, um ihren Tribut zu entrichten. Gaben sie denselben nicht freiwillig, so nahm Anika ihn mit Gewalt, und man konnte dann froh sein, wenn man überhaupt mit dem Leben davon kam.

Anika war doch auch wieder nicht ohne eine gewisse Ritterlichkeit. Er gab nämlich den Schiffern jedes Jahr Gelegenheit, sich durch einen Zweikampf von dieser Abgabe zu befreien. Jedesmal im Frühjahre, wenn alle Fischer angekommen waren, versammelte er dieselben und fragte sie, ob Jemand einen Zweikampf mit ihm wagen wolle. Da aber Anika größer und stärker war als ein gewöhnlicher Mensch, hatte Niemand den Muth, sich in einen Kampf mit ihm einzulassen. Deshalb wagte es auch Niemand, ihm die Abgabe von der Fischausbeute zu verweigern. Diese Plage dauerte bereits viele Jahre hindurch.

Eines Tages kam ein junger Bursch zu einem viermännigen Boote, das eben im Begriffe stand, den Hafen bei Anikijef zu verlassen, um auf Fischfang auszugehen. In der Hast, mit der die Fischer fortzukommen trachteten, bemerkten sie den jungen Menschen gar nicht; dieser jedoch grüßte höflich den Anführer und sagte:

»Nehmt mich mit auf den Fischfang, Kameraden, ich will euch als Ködergeber (der den Köder an die Angelhaken der Fischleine steckt) dienen!«

Der Anführer betrachtete den Jungen, konnte sich aber nicht erinnern, denselben früher schon gesehen zu haben. Er antwortete, daß sie bereits einen Ködergeber, wie auch einen Leineneinzieher und einen Ruderer hätten, und daß es daher unbequem sein würde, wenn ihrer noch mehr im Boote[204] wären. Aber der Bursch hörte nicht auf, den Anführer zu bitten, so daß dieser endlich sagte:

»Na, wenn du schon so große Lust hast, mitzukommen, so bleib' meinetwegen da! Mach' ein Kreuz, verrichte dein Gebet und steig' zu uns in's Boot!«

Der Bursch that dies und sie fuhren ab. An diesem Tage waren sie ganz besonders vom Glücke begünstigt, so daß das Boot in kurzer Zeit mit Fischen angefüllt war und sie daher wieder zurückfahren konnten; sie mußten aber, wie gewöhnlich, zuerst auf Anikijef anlegen, um einen Theil der Fische an Anika abzuliefern. Als sie auf der Insel landeten, warfen sie die Fische an's Land, um dieselben zu säubern. Diese Arbeit wurde dem jungen Burschen übertragen, der dieselbe in der gewöhnlichen Weise verrichtete. Er schnitt zuerst die Köpfe ab, nahm hierauf die Eingeweide heraus und spaltete zuletzt den ganzen Fisch auseinander. Allein die Arbeit ging ihm so schnell von der Hand, daß die Anderen ihm ganz erstaunt zusahen.

Als er mit Allem fertig war, zog er seine ledernen Handschuhe aus und bat den Ruderer, dieselben auszuwaschen. Dieser that dies auch und gab sie ihm dann zurück. Aber der Bursch fand, daß der Ruderer aus denselben das Wasser nicht ordentlich ausgepreßt habe. Er nahm sie deshalb selbst und rang sie aus; aber unter seinen Händen gingen sie sogleich in Stücke, als ob es ein schleißiger Fetzen gewesen wäre. Die Bootsmannschaft, welche diese Probe ungeheurer Stärke sah, begann zu ahnen, daß der Junge kein gewöhnlicher Mensch sei. In diesem Augenblicke kam der Riese auf sie zugeschritten.

»Hört, ihr Leute dort,« schrie er, »weshalb bringt ihr mir heute nicht die Abgabe von eurem Fange?«

»Du scheinst mir wahrhaftig ein recht komischer Kauz zu sein,« antwortete der junge Kamerade der Fischer, indem er sich gegen Anika umkehrte; »was willst du denn hier? Du bist da[205] nicht zu den Richtigen gekommen; schau, daß du fortkommst, sonst ...!«

»Wa – was? Ha, ha, ha!« lachte Anika, »ich sehe, daß du mich nicht kennst; pack' dich nur selber fort, sonst hau' ich dich zu Boden, daß du dich nie wieder erheben wirst!«

Der Bursch lachte, als ob er sich vor den Drohungen des Anika durchaus nicht fürchte, und ging schnurgerade auf ihn zu.

»Ah ha, kleiner Freund,« schrie Anika, »ich sehe, daß es dir nicht an Muth fehlt; ich glaube beinahe, daß du die Absicht hast, dich mit mir zu schlagen!«

»Ja wohl, ich fürchte mich gar nicht vor dir!« entgegnete der Junge.

Es wurde nun oben auf der Insel ein Ort ausgewählt, wo der Kampf stattfinden sollte. Der Platz wurde mit einem Steinzaune eingehegt und die beiden Kämpfenden sollten wie bei einem gewöhnlichen Zweikampfe oder Holmgange den Ring nicht verlassen. Der Kampf aber sollte auf die besondere Weise geschehen, daß jeder der Kämpfenden dreimal hinter einander sich auf die Hände stellen und seinen Gegner mit den Füßen auf die Brust schlagen sollte.

Der junge Bursch mußte sich zuerst den Schlägen des Riesen aussetzen und stellte sich daher mitten im Steinringe auf. Anika stellte sich auf die Hände, ging rund wie ein Rad auf den Burschen zu und schlug ihn mit den Beinen mitten auf die Brust. Aber der Bursch rührte sich nicht vom Flecke. Anika ging einige Schritte zurück und machte einen neuen Rundsprung. Der Junge that einen Schritt nach rückwärts, blieb aber doch aufrecht stehen. Beim dritten Schlage wich der Junge eine Klafter weit zurück, erhielt sich aber gleichwohl innerhalb des Ringes auf den Beinen.

Nun war die Reihe an Anika, den Schlägen des jungen Menschen Stand zu halten. Dieser that dasselbe, was Anika gethan hatte; er stellte sich auf die Hände und schlug[206] den Riesen auf die Brust. Aber dieser wich schon auf den ersten Schlag eine Klafter weit zurück, nahm jedoch seinen Platz wieder ein. Nach dem zweiten Schlag taumelte er drei Klafter und nach dem dritten gar sieben Klafter weit zurück und blieb todt außerhalb des Steinringes liegen. Die Fischer gruben innerhalb des Ringes, wo der Kampf stattgefunden hatte, ein Grab. In dieses wurde Anika gelegt und ein großer Stein über ihm aufgerichtet. Hierauf ging der räthselhafte junge Mann mit Denjenigen, die dem Kampfe beigewohnt hatten, wieder zum Strande hinab, versammelte hier alle Fischer um sich und sage zu ihnen:

»Dankt nun Alle Gott! Euer Feind existirt nicht mehr, und von nun an soll es Niemand mehr wagen, euch bei eurer Fischerei zu beeinträchtigen. Gott sei mit euch! Lebt wohl!«

Nach diesen Worten verschwand er aus ihren Augen und Niemand weiß, woher er kam oder wohin er ging. Aber oben auf der Fischerinsel, ein Stück vom Hafen entfernt, sollen sich nach Aussage der Lappen auf einem ebenen Platze noch Spuren von dem Steinringe finden, wo der Kampf abgehalten wurde und der Riese Anika seinen Tod fand.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 202-207.
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