X. Das Mädchen aus dem Meere.

[54] (Aus Lebesby.)


Es war einmal ein Bauer, der hatte einen einzigen Sohn. Eines Tages zog dieser auf die Jagd und kam zu einer Meeresbucht, wo der Strand mit dem feinsten Sande bedeckt war und das Wasser weit hinaus hell und klar über dem weißen Sandboden leuchtete. Der junge Bursch setzte sich an dem Waldrande nieder und zog seinen Speisevorrath aus der Tasche. Während er es sich nun auf das Beste schmecken ließ, tauchten drei Mädchen aus dem Meere empor, stiegen an's Ufer und legten ihre Kleider auf den Rasen hin, zwei von ihnen an denselben Ort, die Dritte aber legte die ihrigen ein wenig abseits von den andern. Nachdem sie sich nun so entkleidet hatten, begaben sie sich wieder hinaus in die See, um sich zu baden. Sie wateten hin und her, spielten und scherzten und plätscherten mit den Händen im Wasser.

Dann gingen sie wieder an's Ufer, zogen ihre Kleider an und verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren.

Auch der junge Bursch ging seines Weges, kam aber den nächsten Tag wieder, um zu sehen, ob auch die Mädchen sich von Neuem zeigen würden, wobei er ein Versteck suchte, von wo aus er sie ganz in der Nähe beobachten konnte, ohne von ihnen gesehen zu werden. Er hatte auch wirklich nicht lange dagesessen,[55] als die drei Mädchen sich wieder einstellten und ganz ebenso thaten, wie das erste Mal; doch auch an diesem Tage störte der junge Bauernsohn sie nicht, bemerkte indeß, daß die Kleider, welche das eine der Mädchen etwas abseits legte, hübscher waren als die der andern beiden.

Am dritten Tage jedoch begab er sich hin mit dem Vorsatz, daß, wenn er die Mädchen noch einmal zu sehen bekäme, er die Kleider, welche die eine von ihnen besonders legte, verstecken wollte. Wie gedacht, so gethan. Die Mädchen kamen wieder, und während sie sich badeten, schlich der junge Bursch herbei, nahm die schmucksten Kleider mit fort und versteckte sie. Als nun die Mädchen sich gebadet hatten und wieder an's Ufer stiegen, fanden zwei von ihnen ihre Kleider an dem Orte, wo sie dieselben hingelegt, zogen sie an und verschwanden; die Dritte hingegen fand die ihrigen nicht. Sie wurde darüber sehr bange und traurig, lief hin und her und rief aus:

»Wenn du, der du mir die Kleider genommen, ein Mann bist, so verspreche ich dir als Liebste dasjenige Mädchen, das du selbst dir wünschest, bist du aber ein Mädchen, so verspreche ich dir den Bräutigam, den du selbst dir wünschest.«

Da kam der junge Bursch aus seinem Versteck hervor und rief:

»Du bekommst deine Kleider nicht eher, als bis du mir versprichst, selbst meine Frau zu werden.«

Das Mädchen weinte und jammerte und sagte, daß dies nicht möglich wäre.

»Ich kann hier nicht leben, da ich hier nicht zur Welt gekommen bin, und du kannst da nicht leben, wo ich herkomme.«

Der junge Bursch meinte indeß, daß dies doch wohl anginge, und er sprach und bat so lange, bis sie schließlich nachgeben und ihm versprechen mußte, seine Frau zu werden, obwohl sie dabei heftig weinte. Er führte sie also zu seinen Eltern, ließ sie taufen und gab ihr einen christlichen Namen, worauf sie sich[56] ehelich verbanden und nach einigen Jahren einen Sohn bekamen. Als dieser so groß geworden war, daß er gehen konnte, begleitete er eines Tages seinen Vater nach dem Vorrathshause. In dem Kasten aber, aus welchem dieser etwas herauszunehmen hatte, lagen obenauf einige Kleidungsstücke, die er zuvörderst bei Seite legte, und da sie dem Knaben, der dabei stand, ganz besonders schmuck und rar dünkten, so fragte er den Vater, wem sie denn gehörten? Der Vater gab aber hierauf keine Antwort, sondern legte die Kleider wieder an ihre Stelle.

Des andern Tages jedoch, als er in den Wald gegangen und die Mutter mit dem Knaben allein geblieben war, erzählte er ihr von den schmucken und raren Kleidern, die er mit dem Vater im Vorrathshause gesehen. Die Mutter nahm den Knaben bei der Hand und hieß ihn ihr zeigen, wo denn die Rarität läge. Als sie den Kasten öffnete, erkannte sie gleich die Kleider wieder, die sie einst aus dem Meere mitgebracht hatte, und empfand darüber zugleich Freude und Traurigkeit; doch nahm sie dieselben mit in die Stube; hier legte sie sie an, küßte das Söhnchen, welches auf der Schwelle stehen blieb und ihr nachblickte, ging dann nach dem Strande hinab und verschwand in dem Meere, aus dem sie gekommen war.

Als nun der Mann nach Hause kehrte und seine Frau nirgends sah, fragte er den Knaben:

»Wo ist deine Mutter?«

»Die Mutter,« sagte dieser, »ist an's Meer gegangen.«

Der Mann dachte sich nun gleich, daß sie wohl ihre Meerfrauenkleider, die er in dem Kasten aufgehoben, wiedergefunden hätte und in ihre alte Heimat zurückgekehrt wäre. Er wurde also sehr traurig und wußte nicht, was er anfangen sollte; endlich jedoch suchte er Gieddagäts-galgjo und erzählte ihr das Vorgefallene.

»Hast du Kinder?« fragte sie.

»Ja,« antwortete er, »einen kleinen Sohn.«[57]

»So sei nicht länger traurig,« sprach jene, »sie kommt noch dreimal wieder in dein Haus; lässest du sie aber das dritte Mal fort, so kehrt sie nimmer wieder. Heute Nacht kommt sie das erste Mal; jedoch darfst du dich in deinem Bette nicht rühren, sondern mußt thun, als ob du schliefest. Sie wird sich bei dem Kinde niedersetzen und es eine Zeit lang streicheln und liebkosen. In der zweiten Nacht wird sie wieder kommen und eben so thun. Sobald es nun aber am dritten Tage Abend zu werden beginnt, mache dir im Winkel bei der Thür ein Versteck zurecht, und das Bett laß du so aussehen, als ob du darin lägest und schliefest. Wenn sie dann das dritte Mal kommt, so hält sie sich am längsten auf; in dem Augenblick aber, wo sie fortgehen will, fasse du sie um den Leib und halte sie mit allen Kräften fest, sprich ihr liebevoll zu und suche sie zu überreden, daß sie bei dir bleibe. Wenn sie nun nachgibt und nicht länger versucht sich von dir loszureißen, so führe sie zum Bett und lege dich mit ihr hinein. Sobald sie aber eingeschlafen ist, stehe leise auf, geh hinaus und sieh zu, daß du die Kleider findest, welche sie trug, als sie aus dem Meere kam. Sie liegen an der Ecke des Hauses, bringe sie zu mir, und ich werde sie aufheben, daß sie nimmer wieder von irdischen Menschenaugen erblickt werden sollen.«

Es ging Alles wie Gieddagäts-galgjo vorausgesagt. Als die Mutter zweimal bei ihrem Kinde gewesen war und der Abend des dritten Tages sich nahte, that der Mann wie Gieddagäts-galgjo ihm gerathen hatte. Noch brannte die Lampe, da hörte er seine Frau kommen, leise die Thüre öffnen und sich nach der Stelle hinschleichen, wo das Kind lag. Da setzte sie sich nieder und fing an das Söhnchen zu streicheln und zu liebkosen. Als sie aber wieder fortgehen wollte und mitten in der Stube war, ergriff sie ihr Mann und hielt sie fest und sprach ihr liebevoll zu mit allen überredenden Worten, deren er mächtig war, so daß sie endlich sich beruhigte und nicht länger sich loszureißen versuchte; dann führte er sie an's Bett und legte sich mit ihr[58] hinein. Sie versank rasch in einen tiefen Schlaf, in welchem der Mann sie ließ, während er aufstand, um die Kleider zu suchen, die sie vor dem Hause abgelegt hatte. Er fand sie und brachte sie zu Gieddagäts-galgjo, welche sagte: »Diese Kleider will ich so verbergen, daß kein Menschenauge sie mehr sehen soll!« worauf der Mann wieder nach Hause kehrte und sich an seiner Frau Seite legte.

Von dieser Zeit an führten sie ein glückliches Leben; Alles schlug ihnen nach Wunsch aus, und die Verwandten der Frau brachten ihr aus der Tiefe des Meeres Alles, was sie nöthig hatte oder wünschte.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 54-59.
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