XII. Das Meerweib.

[61] (Aus Nässeby.)


Zwei Brüder gingen einmal an einem mondhellen Abend zum Meere hinab, um einem Fuchs aufzulauern, der längs des Strandes zu kommen pflegte, um Fische zu finden. Während sie nun hier saßen, tauchte ein Meerweib aus dem Meere auf und setzte sich auf einen Stein, der nicht weit vom Strande entfernt war. Der Jüngere der Brüder schickte sich an, nach dem Meerweibe zu schießen, der Aeltere aber hielt ihn davon ab und sagte:

»Schieß' nicht, es könnte uns schlimm ergehen, wenn du schießest!«

Inzwischen saß das Meerweib auf dem Steine, löste sein langes Haar auf und kämmte es. Wieder wollte der Jüngere schießen, aber der Aeltere hielt ihn zurück:

»Was fällt dir denn ein? Kannst du sie nicht in Ruhe lassen? Sie thut uns ja nichts! Weshalb willst du nach ihr schießen?«

Der Jüngere aber kümmerte sich gleichwohl nicht um das, was der Aeltere sagte, er spannte den Hahn und legte den Büchsenkolben an die Wange. Als der ältere Bruder dies sah, rief er der Meerfrau draußen zu:

»Nimm' dich in Acht, Meerfrau, sonst ergeht es dir schlecht!«[62]

In demselben Augenblicke hüpfte dieselbe in das Meer, tauchte aber ein Stück weiter draußen wieder auf und rief dem Aelteren der Brüder, der ihr wohlwollte, zu:

»Kommst du morgen um dieselbe Zeit wieder hieher, so sollst du es nicht bereuen!«

Die beiden Brüder gingen nun heim. Am nächsten Abend begab sich der Aeltere allein wieder zum Strande hinab und setzte sich auf demselben Platze nieder, wo er den Abend zuvor gesessen hatte. Er saß nicht lange hier, so kam ein Schwarzfuchs heran. Er schoß denselben. Gleich darauf tauchte auch die Meerfrau aus dem Meere auf, setzte sich wieder auf denselben Stein und rief dem jungen Manne zu, er solle zu ihr hinaus kommen.

»Du brauchst dich nicht zu fürchten,« fügte sie hinzu, »ich werde dir nichts zu Leide thun!«

Der Bursch watete hinaus zur Meerfrau.

»Setze dich auf meinen Rücken,« sagte die Meerfrau, »und stecke Nase und Mund in mein Haar hinein, damit du nicht erstickst, wenn ich dich durch die Tiefe des Meeres zur Wohnung meines Vaters hinabführe!«

Der Bursch that, wie die Meerfrau ihm gesagt hatte. Diese tauchte nun mit ihm in das Meer nieder. Als sie auf dem Meeresboden angekommen waren, nahm sie einen Bootsanker, reichte ihn dem Burschen und sagte:

»Wenn wir in meines Vaters Haus kommen, wird mein Vater erproben wollen, wie stark du bist; er ist jedoch blind und du mußt ihn daher nicht mit der Hand begrüßen, sondern ihm den Anker hinreichen!«

Sie kamen an den Ort, wo die Meerfrau wohnte; es war hier kein Wasser, auch war es nicht finster, sondern eben so hell wie oben am Tage und das Wasser stand über ihnen wie ein Dach.[63]

Als der junge Mann »Guten Tag« sagte, und den Anker hinreichte, ergriff der Vater der Meerfrau denselben mit solcher Wucht, daß er ganz verbogen wurde. Sie gaben nun dem Burschen eine ganze Menge Silbergeld und dazu fügte die Meerfrau selbst noch einen großen goldenen Becher, der einmal auf dem Tisch eines Königs gestanden hatte. Hierauf reisten sie wieder auf dieselbe Weise zurück, wie sie gekommen waren; dem Burschen aber schien es, als ob Alles Glas wäre, und die Meerfrau führte ihn nach demselben Orte zurück, von wo sie ihn mit sich genommen hatte.

Der Bursch wurde ein wohlhabender Mann und hatte auf der See stets das Glück mit sich; der jüngere Bruder aber, der nach der Meerfrau hatte schießen wollen, welkte dahin wie ein von Würmern zerfressener Baum. Was immer er that, was immer er beginnen mochte, es ging stets schlecht aus; es war nie mehr ein Segen mit seinen Unternehmungen.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 61-64.
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