XV. Der Riese und die zwei Lappenkinder.

[68] (Aus dem schwedischen Lappmarken.)


Einige Lappenkinder hatten einmal ohne Wissen ihrer Eltern ein Boot bestiegen und waren auf einen großen See hinaus gefahren, um sich zu unterhalten. In der Nähe des See's befand sich ein großer Berg, in dem ein Riese seine Wohnstätte hatte. Die Kinder wußten jedoch hievon nichts. Der Riese hatte inzwischen erfahren, daß auf dem See draußen Kinder waren und er eilte nun sogleich zum Strande hinab, versteckte sich hinter einem großen Stein und begann den Kindern zu rufen. Diese, welche niemals von dem Riesen hatten sprechen hören, glaubten, daß jemand von den Eltern rufe und ruderten so schnell sie konnten an's Land. In dem Augenblicke aber, da das Boot an's Land stieß, sprang der Riese hervor, lud dasselbe auf seine Achseln und eilte nach seiner Wohnung, bevor die erschreckten Kinder überhaupt nur hatten daran denken können zu entfliehen. Da aber der Riese so groß war, daß seine Achseln die zu höchst sitzenden Zweige der Bäume berührten, lauerte das eine um das andere von den Kindern darauf, sich an den Baumzweigen fest zu halten und so der drohenden Gefahr zu entgehen, von dem Riesen gefressen zu werden.

Als dieser bei seiner Wohnung anlangte, rief er seinem Weibe und sagte ihm, es möge sogleich ein paar der fettesten Kinder nehmen und einen recht köstlichen Festschmauß zubereiten.[69]

»Aber du hast ja nicht mehr als zwei Kinder mitgebracht!« sagte die Riesin.

»Bist du verrückt?« schrie der Riese ganz böse; als er aber nachsah, fand er, daß nur ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen – Bruder und Schwester – im Boote waren, und diese waren so mager, daß sie nur Haut und Knochen hatten und daher nicht früher gegessen werden konnten, als bis sie etwas gemästet worden waren.

Nun wurden die beiden Geschwister in einen Verschlag gegeben und das Riesenweib brachte ihnen die prächtigsten Speisen, gekochte und gebratene, auf goldenen und silbernen Schüsseln, und forderte sie auf zu essen. Aber der Knabe verstand die Absicht, die damit verbunden war, und sagte zu dem Mädchen, daß sie die besten Gerichte unberührt lassen und nur so viel essen sollten als nothwendig sei, sich am Leben zu erhalten.

Nach einiger Zeit kam ein Gast zu dem Riesen und da wollte dieser natürlich mit einem besonders guten Bissen aufwarten. Er ging deshalb nach dem Stalle, wo die Kinder in ihrem Verschlage waren, und forderte den Knaben auf, einen Finger durch ein in der Wand des Verschlages befindliches Loch hinauszustecken. Der Knabe nahm jedoch einen Erlenast und steckte denselben statt des Fingers durch das Loch. Der Riese war dumm genug zu glauben, daß der Ast ein Finger sei als er aber einen tüchtigen Schnitt in denselben gemacht hatte, sagte er ganz verdrießlich:

»Nein, das taugt nichts.«

Nun wurde das Mädchen aufgefordert, ihre Brust zu entblößen, damit der Riese untersuchen könnte, wie fett sie sei. Sie hielt ihm aber einen Knochen hin und ließ den Riesen daran herumschneiden, so viel er Lust hatte. Aber da wurde der Riese böse und sagte:[70]

»Das ist eine sonderbare Sache; der Knabe ist mager wie eine Krähe und das Mädchen ist noch zehnmal schlechter!«

Und er schleuderte die beiden Kinder auf seinen Rücken und trug sie zur Hütte ihrer Eltern; er warf sie in dieselbe hinein und sagte:

»Da habt ihr eure elendigen Jungen; denn solche Knochengerippe will ich nicht haben!«

Und er lief wieder zurück nach seiner Wohnung, so daß die Erde unter seinen Füßen erzitterte.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 68-71.
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