XXIV. Aschenputtel, Riese und Teufel.

[103] (Aus Lyngen.)


Ein Mann hatte drei Söhne. Zuerst sollte der älteste hinaus in die Welt, um sich einen Dienst zu suchen. Er machte sich also Speisevorrath zurecht und zog fort. Nachdem er eine zeitlang gegangen war, setzte er sich nieder, um zu essen; während er so aß, kam da zuerst eine Axt herbeigesprungen, dann ein Bohrer, dann ein Hobel und so fort Werkzeuge von allerlei Art und alle baten den jungen Burschen um etwas Speise, dieser aber gab keinem von ihnen einen einzigen Bissen. Nachdem er gegessen, stand er auf, zog weiter und kam zu einem Königsschloß.

»Wohin des Weges?« fragte der König.

»Ich suche einen Dienst,« sprach der Bursch.

»Den kannst du bei mir finden,« antwortete der König; »ich habe in meinem Garten einen Baum, auf dem goldene Blätter wachsen; wenn du eine einzige Nacht den Baum zu bewachen vermagst, dann sollst du meine Tochter und die Hälfte meines Reiches bekommen.«

»Ich will's versuchen,« sagte der Bursch.

Des Abends begab er sich also in den Garten, wo der Baum stand, setzte sich nieder und sah zu, wie die Blätter hervorsproßten und immer größer wurden. Endlich waren sie fast[104] ausgewachsen, aber da überfiel ihn ein so schwerer Schlaf, daß er nicht länger Widerstand zu leisten vermochte, und einschlief. Als er wieder aufwachte, waren alle Goldblätter fort, so daß er am andern Morgen auf die Frage des Königs: »Nun, hast du Wache gehalten?« bloß antworten konnte:

»Nein, es war mir nicht möglich.«

Da befahl der König, daß man ihm das Leben nehme.

Nun wollte der zweite Sohn fort. Der Vater ließ ihn nur ungern ziehen, aber es half nichts; er machte seinen Speisevorrath fertig und begab sich auf den Weg. Es ging ihm mit den Werkzeugen und dem Dienst im Garten des Königs ganz ebenso wie dem älteren Bruder: er schlief ein und verlor zur Strafe gleichfalls das Leben.

Nun wollte der dritte Sohn fort, den die andern Grindkopf (knöbba) oder Aschenputtel (gudnavirus) nannten. Der Vater wollte ihn nicht weglassen und meinte, es würde ihm anderwärts schlimmer gehen als zu Hause; der Bursch bestand aber auf seinem Sinn, und der Vater mußte endlich nachgeben. Große Speisevorräthe bekam er indeß nicht; so nahm er denn die Speisetasche in die eine Hand, einen großen Handschuh in die andere und zog fort.

Nachdem er eine tüchtige Strecke gegangen war, setzte er sich nieder, um zu essen. Da kam mit einem Mal eine Axt, dann ein Bohrer, dann ein Hobel, dann allerlei andere Werkzeuge und bettelten um etwas Speise, und der Bursch gab Allen von den paar Brosamen, die er hatte. Dann stand er wieder auf, zog weiter und kam zu dem Königsschloß.

»Wohin des Weges?« fragte der König.

»Ich suche Dienst bei Jedem, der mich haben will,« antwortete der Bursch.

»So kannst du bei mir in Dienst treten,« sprach der König.

»Worin sollte ich dir wohl dienen können?« fragte der Bursch.[105]

»Ich habe in meinem Garten einen Baum, auf dem goldene Blätter wachsen«, versetzte der König; »wenn du ihn eine einzige Nacht zu hüten im Stande bist, so sollst du meine Tochter und das halbe Reich bekommen.«

»Ich will's versuchen,« sprach der Bursch.

Gegen Abend führte man ihn in den Garten zu dem Baume, hob ihn, da er klein war, auf einen der untersten Zweige und ließ ihn da sitzen. Als es dunkel wurde, fingen die Blätter zu wachsen an, aber je mehr sie wuchsen, desto schläfriger wurde der junge Bursch.

Gleichwohl that er sich eine zeitlang Gewalt an und schlief nicht ein; endlich aber war er nahe daran, vom Schlafe überwältigt zu werden; da hörte er plötzlich ein gräuliches Getöse in der Luft, so daß er Furcht bekam und die Schläfrigkeit verschwand. Hierauf sah er zwei häßliche Kerle herbeigefahren kommen; der eine war ein Riese, der andere war der Teufel; aber alle beide hatten zusammen nicht mehr als ein einziges Auge.

»Sieh' zu, ob da ein Wächter bei dem Baume ist,« sagte der Riese zum Teufel, der das Auge trug.

»Ei schäme dich,« sprach der Teufel »wir nehmen die Blätter trotz aller Wächter; wir haben sie ja auch früher genommen wie nichts!«

»Nun gut, so steig' du auf den Baum hinauf,« sagte der Riese.

»Nein, steig du hinauf,« antwortete der Teufel, »ich werde dir das Auge reichen.«

So kletterte denn der Riese auf den Baum.

»Gib mir nun das Auge,« sagte er.

Der Teufel reichte ihm das Auge hinauf, aber in demselben Augenblick griff der Bursch zu und steckte es in seinen Handschuh.

»Gib mir nun das Auge!« schrie der Riese »zum Teufel noch einmal!«[106]

»Du hast es ja schon bekommen, du Blindschleiche!« sagte der Teufel.

Hierüber wurde der Riese so böse, daß er von dem Baume auf den Teufel herabsprang und sich mit ihm herumbalgte, bis sie alle beide entzweisprangen.

Hierauf brach der Tag an, und der junge Bursch ging zu dem Könige.

»Wie ist's?« fragte dieser, »hast du Wache gehalten?«

»Ja freilich,« versetzte der Bursch.

Darauf schickte der König Leute hin, welche nachsehen sollten, und es wies sich, daß der Bursch die Wahrheit gesagt hatte; der Baum stand voll der schönsten goldenen Blätter.

»Bekomme ich nun deine Tochter?« fragte der Bursch.

»Noch nicht!« antwortete der König.

»Was muß ich denn noch thun, um sie zu bekommen?«

»Wenn du ein Schiff in einer Nacht fertig bauen und es vor meine Thür herbringen kannst, so sollst du meine Tochter haben.«

»Das ist ja rein unmöglich,« sprach der Bursch; »wie soll ich in einer einzigen Nacht ein ganzes Schiff fertig bauen und hierher bringen können? Doch will ich es versuchen.«

Gegen Abend ging der Bursch mit seiner Axt auf's Feld und, dort angelangt, hieb er sie in einen Baum und sprach:

»Nun ihr Werkzeuge alle mit einander, denen ich zu essen gegeben habe, kommet jetzt herbei und ma chet ein Schiff bis morgen fertig und bringet es vor des Königs Thür!«

Da begann ringsumher im ganzen Walde ein gewaltiges Leben und Treiben; man hörte überall hauen und hämmern und hobeln, und Alles war lauter Geschäftigkeit. Der Bursch setzte sich nieder und sah zu. Es dauerte auch nicht lange, so stand ein Schiff da, und es wurde immer größer und größer, bis es endlich ganz fertig war. Hierauf stieg er in das Schiff hinein und fuhr fort.[107]

Während es so fuhr, erblickte der Bursch einen Mann, welcher Knochen benagte. Als er zu ihm hinkam, fragte er ihn:

»Was hast du da vor, lieber Mann?«

»Mein Leben lang habe ich Knochen genagt,« sagte der Mann, »bin aber noch nicht satt geworden.«

»Tritt herein in mein Schiff,« sagte der Bursch, »du sollst Markknochen bekommen.«

Der Mann that, wie ihm geheißen, und so hatte der Bursch einen Kameraden.

Bald nachher fuhr er bei einem andern Manne vorbei, der ein Stück Eis benagte.

»Was hast du da vor, lieber Mann?« fragte der Bursch.

»Mein Leben lang habe ich Eis genagt, aber noch ist mein Durst nicht gelöscht.«

»Tritt herein in mein Schiff, du sollst einen Löschtrank bekommen,« sprach der Bursch. So hatte er noch einen Gefährten.

Dann fuhr er weiter und sah wieder einen Mann, welcher da stand und bald das eine, bald das andere Bein in die Höhe hob, aber nicht von der Stelle kam.

»Was hast du da vor, lieber Mann?« fragte der Bursch.

»Mein ganzes Leben lang habe ich es versucht einen Schritt zu machen, aber noch immer bin ich auf demselben Fleck.«

»Tritt in mein Schiff, du sollst endlich vom Fleck kommen,« sprach der Bursch und hatte nun drei Kameraden.

Er fuhr noch weiter und sah wieder Einen, welcher zielte ohne zu schießen.

»Was hast du vor, lieber Mann?« fragte der Bursch.

»Mein ganzes Leben lang habe ich gezielt, aber es noch nicht so weit gebracht, daß es losgeht.«

»Tritt in mein Schiff, es wird dann schon losgehen,« sprach der Bursch.[108]

Der Mann that es, und so hatte der Bursch nun Mannschaft genug.

Dann setzte er seinen Weg fort, kam des Morgens an die Thür des Königs und trat zu ihm hinein.

»Nun,« sprach der König, »ist das Schiff fertig?«

»Ei freilich!« antwortete jener.

Der König ging hinaus, um nachzuschauen, und allerdings stand das Schiff fix und fertig vor der Thür.

»Gibst du mir jetzt deine Tochter?« fragte der Bursch.

»Noch nicht!« sagte der König.

»Was hindert nun noch?« fragte jener weiter.

»Wenn du heute Nacht von dem Könige, meinem Nachbarn, seinen goldenen Becher holen und morgen auf meinen Tisch stellen kannst, dann sollst du meine Tochter haben.«

»Das bin ich nicht im Stande,« sprach der Bursch, »das ist unmöglich; wie soll ich in einer einzigen Nacht dorthin gelangen und morgen Früh wieder hier sein können?«

»Ja, das ist deine Sache,« antwortete der König.

»Ich will's versuchen,« sagte der Bursch, ging dann zu dem Weitschreiter und sprach zu ihm:

»Wohlan du Weitstapfer, wenn du niemals früher in deinem Leben einen Schritt hast zu thun vermocht, so sollst du ihn jetzt thun! Schreite zu dem Nachbarkönig hin, hole seinen Goldbecher und bringe ihn bis morgen Früh hierher.«

Dieser machte sich auf den Weg, war aber, als der Morgen zu grauen anfing, noch nicht wieder da.

»Wohlan, du Weitschießer,« sprach der Bursch, »schieß jetzt dem Weitschreiter in's Fußblatt, so daß er sich ein Bischen sputet.«[109]

Der Weitschreiter war unterwegs einem Mädchen begegnet und hielt sich bei ihr auf. Als aber der Schütze schoß, erinnerte er sich an das, was ihm oblag, machte sich wieder auf den Weg und war mit dem Goldbecher zur Stelle, ehe es noch ganz Tag geworden.

Der Bursch brachte den Becher zum König und stellte ihn auf den Tisch.

»Bekomme ich nun deine Tochter?« fragte er.

»Ja, nun bekommst du sie,« antwortete der König, und so hielten sie Hochzeit; ich aber ging meiner Wege.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 103-110.
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