XXVI. Das vertauschte Kind.

[113] (Aus Schwedisch-Lappland.)


Niemals kann man in der Aufsicht über die neugebornen Kinder zu vorsichtig sein, denn die Unterirdischen und Vitra suchen sich derselben stets zu bemächtigen, bevor sie getauft sind – denn nachher haben sie keine Gewalt mehr über sie – und wenn es gelingt, nehmen sie dieselben und lassen dafür eines ihrer eigenen Kinder zurück. Aber ein solches vertauschtes Kind bereitet seinen Pflegeeltern immer viel Verdruß. Stammt es von den Unterirdischen, welche nicht größer sind als ein vierjähriges Kind, so wächst nichts an ihm als der Kopf, der eben so groß wird wie bei einem gewöhnlichen Menschen, da er mit dem Taufwasser besprengt worden. Die Kinder der Vitra wachsen zwar, fallen aber den Eltern doch ebensosehr oder noch mehr zur Last wie die der Unterirdischen.

Es war einmal ein Bauer, der eine neugeborene Tochter zur Taufe tragen sollte. Da es mitten im Sommer war und man es daher mit dem Einbringen des Heues besonders eilig hatte, ging er ganz allein mit dem Kinde zum Pfarrer. Als er ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, sah er ein paar Haselhühner vom Wege auffliegen; da er ein leidenschaftlicher Schütz war, der jederzeit seine Büchse bei sich hatte, so konnte er natürlich die Haselhühner nicht so fliegen lassen, sondern legte[114] das Kind auf den Weg nieder und begann zu jagen. Aber wer keine Hühner bekam, das war unser Bauer.

Als er endlich zu dem Kinde zurückkehrte, konnte er dasselbe nicht mehr erkennen, denn es schien ihm größer und häßlicher geworden zu sein als es früher war. Er ging indessen doch mit ihm zum Pfarrer und es wurde getauft. Als er aber nach Hause kam, wollte auch die Mutter das Kind nicht kennen. Man konnte jedoch an der Sache nichts ändern, sondern suchte sich dies dadurch zu erklären, daß man das Kind vor der Taufe nicht genau besichtigt, und es daher bloße Einbildung sei, daß es früher anders ausgesehen habe als jetzt. Aber je mehr das Mädchen heranwuchs, desto mehr kam man zur Gewißheit, daß es kein menschliches, sondern ein Kind der Vitra sei; denn seine Hand- und Fußgelenke wuchsen so stark, daß sie beinahe eine halbe Elle lang wurden und dann konnte es auch nicht sprechen lernen, obschon es Alles zu verstehen schien, was man zu ihm sprach.

Auf diese Weise lebte das Mädchen, ohne sich im Geringsten nützlich zu machen, bis es über dreißig Jahre alt war; da wurde es plötzlich krank und starb zur Freude Aller. In derselben Nacht jedoch, in welcher sie den Geist aufgab, kam ein fürchterlicher Orkan von einem der größten Berge des Kirchspiels und verwüstete einen ungefähr zwölf Ellen breiten Weg, der zu einem anderen Berge führte. Alles, was sich auf diesem Wege befand, wurde mehrere Klafter weit von seinem Platze weggeschleudert. Eine Bootshütte, in welcher sich zwölf Boote befanden, wurde dem Boden gleich gemacht und die Boote über einen ganzen See getragen und zertrümmert.

Man wußte Anfangs nicht, was man von dieser merkwürdigen Begebenheit halten sollte; aber bald sahen Alle klar und deutlich ein, daß es Vitra gewesen sein mußte, welche dieses ganze Spectakel angestiftet hatte aus Freude darüber, daß sie ihre Tochter oder Schwester, die gezwungen war, länger als[115] dreißig Jahre unter den Menschen zu leben, bevor die Kraft der Taufe verloren ging, wieder zurückbekam.

Was aus dem Kinde geworden ist, welches Vitra gestohlen hatte, darüber erfuhr man zwar niemals etwas; aber es ist ganz sicher anzunehmen, daß es bei Vitra schließlich auch ein Wesen ihresgleichen wurde; denn schlechte Gesellschaft verdirbt gute Sitten.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 113-116.
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