XXIX. Der betrogene Riese.

[121] (Aus dem schwedischen Lappmarken.)


Vor vielen hundert Jahren, als noch Riesen und Bergtrolle in allen Bergen und Hügeln hausten, konnte es leicht geschehen, daß man wider Willen mit irgend einem Troll zu thun bekam, wenn man über den Grenzstein des Heim's hinausging. So ereignete es sich auch einmal, daß vier Lappen, welche ausgegangen waren, ihre Renthiere zu suchen, sich im Gebirge verirrten. Drei ganze Tage und eben so viele Nächte wanderten sie umher, ohne auf eine menschliche Wohnung zu stoßen, und sie waren deshalb schon nahe daran, vor Hunger und Müdigkeit zu sterben, als sie endlich den Schein eines Lichtes bemerkten, das am Fuße eines bis in die Wolken reichenden Berges angezündet zu sein schien. Freudig eilten die Lappen auf dasselbe zu, denn sie hofften, dort eine menschliche Wohnung zu finden. Als sie aber am Fuße des Berges anlangten, fanden sie, daß der Lichtschein aus einer im Berge befindlichen Grotte kam. Nachdem sie einen Augenblick überlegt hatten, beschlossen sie, in dieselbe hineinzugehen. Als sie ungefähr zwei Büchsenschußlängen weit in den Berg hinein gekommen waren, gelangten sie in einen großen Saal, dessen Wände und Dach aus reinstem Silber und so blank waren, daß man sich darin spiegeln konnte. Ein menschliches Wesen war nicht zu sehen, wohl aber befanden sich[122] hier mehr als hundert riesengroße Böcke und Ziegen. Beim nördlichen Giebel stand ein großer Herd, auf dem ein lustiges Feuer flammte, und über dem Feuer hing ein Staunen erregender, großer Kessel, in dem das Fleisch von einem ganzen Ochsen kochte. Da sie sehr hungrig waren, setzten sie sich um den Kessel und begannen von dem Fleische zu essen.

Nachdem die Lappen sich satt gegessen hatten, gossen sie das warme Wasser aus dem Kessel und löschten damit das Feuer, worauf sie denselben wieder mit kaltem Wasser anfüllten. Das Fleisch, welches im Kessel übrig geblieben war, versteckten sie. Hierauf begannen sie sich in der Grotte umzusehen und fanden, daß hier große Haufen von Gold und Silber sowie anderen Kostbarkeiten aufbewahrt waren. Sie wagten jedoch nicht, etwas von diesen Schätzen zu nehmen, bevor sie erführen, wer der Besitzer all' dieser Reichthümer sei. Da sie Verdacht schöpften, daß dieser wohl kein Mensch sein dürfte, beschlossen sie, die Grotte zu verlassen, nachdem sie sich von ihren mühsamen Wanderungen ein wenig erholt hatten. Sie verbargen sich nun schleunigst in dem finstersten Theile der Grotte und schliefen alsbald ein. Aber sie waren kaum eingeschlafen, als sie durch einen Lärm geweckt wurden, der so stark war, daß sie glaubten, es wäre ihre letzte Stunde gekommen. Im nächsten Augenblicke sahen sie einen Mann in die Grotte schreiten, der so groß war, daß sie Alle darüber in Entsetzen geriethen; denn sie erkannten sogleich, daß es ein Riese war. Zu entfliehen wäre unmöglich gewesen und sie beschlossen deshalb, sich ganz ruhig zu verhalten.

Der Riese blieb mitten in der Grotte stehen, begann die Nase zu rümpfen und nach allen Seiten zu riechen und zu schnobern.

»Sonderbar!« murmelte er endlich. »Es ist doch nicht möglich, daß Jemand hieher gefunden haben sollte!«

Hierauf ging er zum Herde, hob den Deckel von dem gewaltigen Kessel und schaute in diesen hinein; als er aber nur[123] Wasser darin fand, schien er nicht wenig darob erstaunt zu sein. Er stand jedoch nicht lange in Verwunderung da, sondern schleuderte in seinem Aerger schon in der nächsten Secunde den großen Deckel gegen die silberne Wand, so daß er darin stecken blieb, und begann hierauf alle Winkel und Ecken der Höhle zu durchsuchen. Es dauerte nicht lange, so fand er die erschreckten Lappen, zog sogleich den größten von ihnen hervor und schleuderte ihn in den Kessel, damit er gekocht werde, wobei er freilich vergaß, daß der Kessel ohne Feuer nicht kochen könne. Die übrigen Lappen kettete er an die Wand der Grotte, worauf er sich schlafen legte, bis der im Kessel liegende Lappe gekocht sein würde.

Es waren kaum einige Minuten verstrichen, als er so stark zu schnarchen begann, daß der Berg erbebte und die Kohlen auf dem Herde zu tanzen anfingen. Da stieg der Lappe aus dem Kessel, befreite seine Kameraden von den Ketten und eilte mit ihnen dem Ausgang der Höhle zu. Da fanden sie aber zu ihrer großen Enttäuschung, daß der Riese denselben mit einem Steine verrammelt hatte, der so groß war, daß sie ihn alle vier nicht von der Stelle bewegen konnten.

Da war nun guter Rath theuer.

Nachdem sie sich eine Stunde lang berathschlagt hatten, kehrten sie wieder in die Höhle zurück, um dem Riesen, wenn möglich, einen Streich zu spielen. Das versteckte Fleisch wurde wieder in den Kessel gethan und drei der Lappen gingen zu den Plätzen zurück, wo der Riese sie angekettet hatte; der vierte aber verbarg sich hinter einer großen Kufe in der Nähe des Ausganges.

Nun erwachte auch der Riese und eilte zum Kessel, um nachzusehen, ob der Lappe schon gekocht sei; da er aber denselben nicht darin fand, ging er zu den gebundenen Lappen und drohte ihnen, sie auf der Stelle todtzuschlagen, wenn sie ihm nicht sagten, wohin ihr Kamerade gekommen sei. Einer der[124] Lappen behauptete, daß der Kamerade sich unbedingt im Kessel befinden müsse und der Riese vielleicht nur schlechte Augen habe, so daß er ihn nicht sehen könne.

»Es wäre sonderbar«, sagte der Riese, der sich seiner Heftigkeit ein wenig schämte; »aber wenn ich so recht über die Sache nachdenke, glaube ich beinahe selbst, daß ich in letzterer Zeit anfange, etwas schlechter zu sehen.«

»Na, dem kann man ja leicht mit einer guten Augensalbe abhelfen,« sagte der Lappe.

»Kannst du eine solche Salbe zubereiten?« fragte der Riese.

»Ja gewiß! Sowie du meine Salbe in die Augen bekommst, wirst du auf fünfzig Meilen ebenso gut sehen wie auf fünfzig Zoll. Aber du mußt darauf gefaßt sein, daß es fürchterlich schmerzt.«

»Das macht nichts; bereite nur die Salbe, damit ich sie sobald als möglich bekomme!«

»Ich will es gern thun, wenn du mich gut bezahlst.«

»Du sollst ganze vierzehn Tage bei mir leben, bis ich deine Kameraden aufgefressen habe. Aber du mußt mir deinen Namen sagen, damit ich dich nicht statt eines anderen auffresse.«

Der Lappe sagte, er heiße »Garniemand«, und der Riese wiederholte den Namen zehnmal, um ihn bei späterer Gelegenheit nicht zu vergessen. Es wurde nun am Herde Feuer angezündet, worauf der Lappe fünf Pfund Blei schmolz und es dem Riesen in die Augen goß, der natürlich davon ganz erblindete.

Der Riese merkte gar bald, daß Garniemand ihn betrogen habe, und begann nun seinen Nachbar zu rufen, damit er ihm helfe die Lappen zu züchtigen. Der Nachbar kam auch herbeigelaufen und fragte, wer ihm ein Leid zugefügt hätte, daß er so schrecklich jammere.

»Garniemand hat es gethan!« antwortete der Riese.

Der Nachbar, welcher glaubte, daß er spaße, wurde böse und sagte:[125]

»Dann kannst du dir selbst am Besten helfen; rufe mich aber kein zweites Mal, sonst geht es dir nicht gut!«

Hierauf ging der Nachbar wieder fort; der Riese aber begann nun, da er von seinem Nachbar keine Hilfe erhielt, so gut er konnte selbst in der Höhle herumzusuchen, um seine Feinde zu ergreifen; diese aber versteckten sich unter seinen Ziegen und Böcken, so daß er sie nicht finden konnte. Nachdem er lange auf diese Weise herumgetappt, merkte er, daß seine Thiere ihm beim Suchen hinderlich seien. Er ging deshalb zum Ausgang der Höhle, nahm den großen Stein hinweg, der als Thür diente, und ließ die Ziegen und Böcke, ein Thier nach dem anderen, hinaus, nachdem er sich früher vergewissert, daß keiner der Lappen sich mit ihnen hinausschlich.

Als die Lappen die Absicht des Riesen merkten, schlachteten sie schleunigst vier Böcke, zogen ihnen die Haut ab und wickelten sich in dieselbe ein, worauf sie auf Händen und Füßen aus der Höhle hinauskrochen, nachdem sie noch zuvor so viel Gold und Silber mit sich genommen hatten, als sie tragen konnten.

Als der letzte Lappe die Höhle verlassen wollte, wurde er vom Riesen festgehalten, der ihn liebkoste, streichelnd über den Rücken fuhr und sagte:

»Du mein armer, großer Bock, der du nun ohne Herrn sein wirst!«

Nachdem er den vermeintlichen Bock eine Weile geliebkost, ließ er ihn gehen, worauf er die Oeffnung mit dem oben erwähnten Steine verschloß und hohnlachend ausrief:

»Nun hab' ich euch doch in der Falle! Wir werden nun sehen, wer von uns am meisten betrogen worden ist, mein lieber Garniemand!«

Was mit dem dummen Riesen weiter geschah, weiß Niemand; wahrscheinlich aber ging er in der Höhle herum und suchte die Lappen, bis er verhungerte.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 121-126.
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