VII. Attjis-ene und Njavvis-ene.

[42] (Aus Alten.)


Attjis-ene und Njavvis-ene waren Nachbarn. Sie bekamen jede ein Kind; Attjis-ene eine Tochter und Njavvis-ene einen Sohn. Eines Tages sagte Attjis-ene zu Njavvis-ene:

»Komm', gehen wir hinaus, Molterbeeren pflücken! Diejenige, welche zuerst ihren Eimer voll hat, soll den Knaben haben, diejenige, welche verliert, soll das Mädchen erhalten.«

Attjis-ene hätte gern den Knaben in ihren Besitz bekommen, da sie wußte, daß er mit der Zeit ein Jäger werden würde und sie daher in ihren alten Tagen gut werde ernähren können. Njavvis-ene hatte natürlich keine Lust, auf diesen Handel einzugehen; aber schließlich gelang es Attjis-ene doch, sie zu überreden, so daß sie auf diese Wette einging.

So nahmen sie denn Jede ihren Eimer und gingen fort, Molterbeeren zu pflücken. Aber Attjis-ene nahm ihren Vortheil wahr, ohne daß Njavvis-ene es bemerkte. Sie füllte zuerst den Boden des Eimers mit Moos und Haidekraut aus, pflückte dann Beeren und legte sie darauf. Njavvis-ene beeilte sich so sehr sie konnte, um die meisten Beeren zu haben, aber es half nichts.

Als sie noch in der besten Arbeit war, rief Attjis-ene:

»Sieh' her, nun ist mein Eimer voll! Nun gehört der Knabe mir und du bekommst das Mädchen!«[43]

Und dabei blieb es. Attjis-ene nahm den Knaben und Njavvis-ene erhielt das Mädchen; hierauf gingen sie wieder heim.

Als der Knabe heranwuchs, wurde er ein flinker Jäger. Er ging auf die Wildrenthierjagd und schoß viele Thiere; Attjis-ene lebte gut und angenehm und es fehlte ihr an nichts. Njavvis-ene aber und das Mädchen hatten nichts anderes, woraus sie Suppe kochen konnten, als alte Schuhsohlen und Lederlappen. Sie bereute es jeden Tag, daß sie so leichtsinnig gewesen war, sich zur Wette mit Attjis-ene verlocken zu lassen.

Eines Tages machten Njavvis-ene und die Tochter wie gewöhnlich Feuer, um aus den Lederlappen und Schuhsohlen Suppe zu kochen. Am selben Tage war auch der Bursch auf Wildrenthierjagd ausgegangen.

Als es gegen Abend ging, schoß er ein Renthier und zog demselben die Haut ab. Das Fleisch vergrub er bis auf ein paar fette Stücke, die er in seinem Proviantsack mit sich nahm.

Auf dem Wege vom Berge hinab bemerkte er, daß von einem kleinen Erdhügel Rauch aufstieg. Er wunderte sich darüber, dachte nach, was es wohl sein könne, und ging näher, um genauer nachzusehen. Als er dahin kam, schlich er zu dem Loche, aus dem der Rauch aufstieg, blickte durch dasselbe hinab und sah nun, daß in einer Erdhütte ein Kessel über dem Feuer hing und in dem Kessel nur alte Schuhlappen sich befanden. Ein junges Mädchen stand dabei und gab auf den Kessel acht, wobei sie von Zeit zu Zeit in denselben hineinblickte. Als sie sich abwandte, ließ der Bursch ein paar fette Fleischbissen in den Kessel fallen.

»Mutter! Mutter! komm' und sieh'!« sagte das Mädchen, »unser Kessel setzt Fett ab!«

»Geh', du schwatzest wieder, was du kannst,« sagte die Alte; »es wäre schon gut, wenn alte Schuhlappen Fett absetzen würden! Ja, deine Mutter hat es freilich fetter als wir!«[44]

Der Bursch hörte Alles, was sie sagten, und konnte sich nicht erklären, wie dies zusammenhänge. Er begann zu argwöhnen, daß es nicht seine rechte Mutter sei, bei der er auferzogen worden war; und je länger er zuhörte, desto mehr kam er zur Ueberzeugung, daß seine Mutter die sei, die hier wohne.

Er beschloß deshalb nach Hause zu gehen und seine alte Stiefmutter aus dem Leben zu schaffen, da er ja annehmen mußte, daß sie eine Zauberin sei.

Als er dies gethan hatte, begab er sich zu seiner rechten Mutter. Sie beide nahmen nun auch der Tochter der Attjis-ene das Leben, und von dieser Zeit an lebten sie gut und vergnügt zusammen.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 42-45.
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