10. Von den zwei Fischerssöhnen. (10)

[385] Es war einmal ein Fischer, der fing beim Fischen ein Fischchen. Das Fischchen bat ihn, dass er es doch wieder frei lasse. Aber er sagte ›Ich lasse dich nicht frei.‹ Und da sprach das Fischchen ›So iss du mich wenigstens nicht; nimm mich mit nach Haus und zerschneid mich in sechs Stücke: zwei Stücke gib einem Hund, zwei einer Stute und zwei deiner Frau zu essen.‹ Der Fischer that, wie ihm das Fischchen gebot, er gab zwei Stücke einem Hund, zwei einer Stute und zwei seiner Frau. Und die Hündin brachte zwei Junge zur Welt, davon war eins wie das andre, die Stute brachte zwei Füllen zur Welt, auch davon war eins wie das andre, und des Fischers Frau brachte zwei Knäblein[385] zur Welt, und auch davon war eins wie das andre. Und die Knäblein und die Hündchen und die Füllen wuchsen heran und hielten getreulich zusammen.

Einst nahmen die Zwillingsbrüder jeder sein Pferd und seinen Hund und ritten fort in einen Wald. Und sie kamen an eine Fichte, die stand dicht am Weg, und da wollten sie sich trennen. Der eine sprach ›Wir wollen beide in den Baum einen Einschnitt machen, daran werden wir später sehn können, wie es mit uns steht.‹ Und der andere sprach ›Ja, wenn dann einer von uns wieder herkommt und des andern Einschnitt ist mit Blut bedeckt, so weiss er dann, dass der Bruder nicht mehr am Leben ist.‹ Darauf ritten sie davon, der eine ritt durch den Wald, der andre aber blieb auf dem Weg.

Und der durch den Wald ritt kam an ein Häuschen, darin fand er einen blutarmen Schuster, der war sehr traurig. Und er fragte den Schuster, warum er so traurig wäre, und der antwortete ›Darum, weil des Königs Tochter einem Drachen zugeführt werden soll, der sie verschlingen wird.‹ Danach setzte der Schuster dem Jüngling Abendessen vor, und der ass es und legte sich dann schlafen. Und am nächsten Morgen, als er aufgestanden war, ritt er nach dem Stein, in dem der Drache hauste. Und sieh, da kam auch in einer Kutsche die Königstochter herangefahren, und man gab ihr mit Fahnen das Geleite. Bei dem Stein stieg sie aus, und die andern fuhren dann wieder heim. Der Kutscher aber, der sie hergefahren hatte, fuhr nur ein Stückchen von dem Stein zurück und wartete der Dinge, die da kommen würden. Jetzt trat der Jüngling auf die Prinzessin zu, allein die Prinzessin wollte seine Hilfe nicht und sprach ›Es ist genug, wenn er mich verschlingt, er wird auch dich noch verschlingen.‹ Aber der Jüngling sagte ›Geh nur auf die Seite!‹ und die Prinzessin gehorchte, und er stellte sich zu Pferd in der Nähe des Steins auf und wartete auf den Drachen. Jetzt kam ein neunköpfiger Drache hervorgekrochen, und der Drache sprach ›Sind das thörichte Menschen! Haben sie mir auch noch einen zu Pferd geschickt!‹ Allein der Jüngling sprach ›Du sollst schon an mir genug haben!‹ und als der Drache darauf sagte ›Du willst wol gar mit mir ringen?‹, da stieg der Jüngling vom Pferd, und sie begannen den Kampf. Sie rangen und rangen, und der Drache stiess den Jüngling[386] bis an die Knie in den Erdboden hinein. Geschwind sprang der Jüngling aus der Erde wieder heraus, und sie rangen wieder, und auch des Jünglings Pferd und sein Hund rangen mit, und jetzt stiess der Jüngling den Schwanz des Drachen in die Erde. Der Drache sprach ›Wir wollen ein bischen ausruhen.‹ Da ruhten sie sich denn ein Weilchen aus, und der Hund und das Pferd thaten desgleichen. Dann begann der Kampf von neuem. Sie rangen und rangen, und jetzt schlug der Drache den Jüngling bis zu den Hüften in die Erde. Aber der sprang schnell wieder heraus, das Ringen ging weiter, und jetzt stiess der Jüngling den Drachen bis zur Mitte des Leibs in den Boden und hieb ihm sechs Köpfe ab. Danach begann wieder der Ringkampf, sie rangen und rangen, und schon war dem Drachen die Kraft am Ausgehn, da nahm er sie noch einmal ganz zusammen und schlug den Jüngling bis unter die Achseln in den Boden. Allein der Jüngling sprang geschwind aus der Erde wieder heraus, sie rangen weiter, und jetzt schlug der Jüngling den Drachen fast bis zum Kopf in den Boden und hieb ihm die drei übrigen Köpfe ab, und da war der Drache todt. Darauf zog der Jüngling aus den Köpfen alle Zungen aus, versah jede Zunge und jeden Kopf, zu dem die Zunge gehörte, mit einer Zahl, und nahm die Zungen mit. Und er sprach zu dem Mädchen ›Uebers Jahr komm ich wieder, dann wollen wir Hochzeit machen.‹ Drauf zog er von dannen. Die Prinzessin aber ging zu dem Kutscher und setzte sich in die Kutsche, um heimzufahren. Der Kutscher holte sich erst noch die neun Köpfe, alsdann fuhren sie ab. Unterwegs aber sagte der Kutscher zur Prinzessin ›Versprich mir, dass du meine Frau werden willst, sonst tödte ich dich. Es bleibt sich gleich: der Drache sollte dich verschlingen, und da kann ich dich ja tödten.‹ Die Prinzessin sagte Ja dazu, und als sie zum König kamen, sprach der Kutscher zum König ›Ich habe deine Tochter von dem Drachen befreit, ich rang mit ihm und hab ihm alle neun Köpfe abgehauen: da wollen wir beide nun Mann und Frau werden.‹ Der König antwortete ›Du kannst sie haben‹, allein das Mädchen hatte keine Lust seine Frau zu werden und sprach zu ihm ›Warte noch ein Jahr, dann wollen wir Hochzeit machen.‹

Ein Jahr verstrich, da ritt der Fischerssohn wieder zu dem Schuster und sprach bei ihm ein. Sie hatten aber beide nichts[387] zu essen, und da band der Jüngling seinem Hund einen Korb an und schickte ihn damit zur Königstochter. Die Prinzessin legte Braten, Wein und Kuchen hinein, und der Hund lief zu seinem Herrn zurück, der band ihm den Korb vom Hals ab und setzte ihn auf den Tisch, und er und der Schuster assen sich satt. Am nächsten Morgen aber ritt der Jüngling zu dem König, und als er ins Zimmer eintrat und sich auf einen Stuhl setzte, da erblickte ihn die Königstochter und freute sich, dass ihr Bräutigam doch noch gekommen war. Und sie sprach zum König ›Nicht der Kutscher ist es, der mich befreit hat, sondern dieser Jüngling da.‹ Da rief der König die Hochzeitsgäste zusammen (die Prinzessin sollte nämlich grade den Tag des Kutschers Frau werden), und der Jüngling fragte einen General ›Hat nicht jegliches lebendes Wesen eine Zunge?‹ Als der General antwortete ›Ei freilich, jegliches lebendes Wesen hat eine Zunge‹, da musste der Kutscher die neun Köpfe herbeiholen, und der Fischerssohn holte die neun Zungen heraus, und er legte sie den Zahlen nach in die Köpfe, und alle passten in die Köpfe. Da war's klar, und der König liess den Kutscher tödten: er wurde hinausgeführt und vier Ochsen wurden an ihn gespannt, die rissen ihn in Stücke. Dem Fischerssohn aber gab der König seine Tochter zur Frau.

Einst ritt der Fischerssohn in den Wald auf die Jagd. Da begegnete ihm eine Hexe, und die Hexe sprach ›Liebes Herrchen, mir bangt, mir bangt vor deinem Hund, er wird mich beissen.‹ ›Geh nur zu, er wird dich schon nicht beissen‹, antwortete er. Aber die Hexe sprach ›Da hast du eine Ruthe, gib dem Hund eins damit.‹ Er nahm die Ruthe, und wie er den Hund mit der Ruthe schlug, da verwandelte sich der Hund in einen Stein. Drauf nahm die Hexe die Ruthe wieder und schlug damit den Fischerssohn und sein Pferd, und da verwandelten sich auch die in Steine. Die Königstochter aber wartete und wartete auf ihren Mann, aber er kam nicht wieder.

Einst kam nun sein Bruder zu der Fichte geritten, an der sie sich getrennt hatten, und wie er seines Bruders Einschnitt mit Blut bedeckt sah, erschrak er sehr. Er ritt weiter und kam zu dem König, der seines Bruders Schwäher war, und da glaubte die Königstochter, ihr Gemahl wäre zurückgekommen, und freute sich sehr. Er liess sich aber nichts merken. Und am[388] nächsten Morgen wollte er fortreiten, seinen Bruder zu suchen. Die Königstochter wollte ihn nicht fortlassen: ›Geh nicht, geh nicht, sonst wirst du wieder verloren gehn.‹ Aber er ritt doch fort, und ritt in den Wald und traf die Hexe. Die Hexe sprach ›Liebes Herrchen, mir ist bange, mir ist bange, dein Hund wird mich beissen.‹ Er aber antwortete ›Was? dir ist bange? Meinen Bruder hast du ums Leben gebracht, und jetzt willst du auch mich ums Leben bringen! Mache, dass du mir meinen Bruder gleich zur Stelle schaffst!‹ Da musste denn die Hexe ihn schaffen: sie schlug mit der Ruthe auf einen Stein, und da wurde der Jüngling wieder lebendig, und darauf auch das Pferd und der Hund. Und beide Brüder ritten jetzt zusammen durch den Wald, und der, der die Königstochter zur Frau hatte, ritt zu ihr heim. Und beide lebten fortan herrlich und in Freuden und sie leben jetzt noch, wenn sie nicht gestorben sind.

Quelle:
Leskien, August/Brugman, K.: Litauische Volkslieder und Märchen. Straßburg: Karl J. Trübner, 1882, S. 385-389.
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