13. Von den zwei Waisenkindern. (13)

[401] Es war einmal ein alter Mann und eine alte Frau, die hatten einen Sohn und eine Tochter. Und die beiden Alten starben. Der Jüngling und seine Schwester gingen nun von Hause fort und kamen in einen Wald, und da fanden sie keinen Ausweg daraus. Wie sie so im Walde hingingen, begegnete ihnen ein altes Männchen, und das alte Männchen sprach zu dem Jüngling ›Gib mir ein Stückchen Brod, dann geb ich dir dafür meine Flinte; wenn du was schiessen willst, triffst du mit der jedesmal.‹ Der Jüngling gab ihm Brod, und das Männchen schenkte ihm die Flinte dagegen. Die Waisenkinder gingen nun weiter durch den Wald, und über eine Weile begegneten sie wieder demselben alten[401] Männchen, und das Männchen sprach zum Jüngling ›Gib mir ein Stückchen Brod.‹ Der Jüngling antwortete ›Ich habe selbst nicht viel, nur zwei kleine Stückchen. Ein Stückchen will ich dir geben, vielleicht wird uns beiden Gott mehr geben.‹ Und er gab ihm das eine Stückchen Brod, und das alte Männchen schenkte ihm einen Ring und eine kleine Ruthe und sprach ›Wenn du nun weiter wanderst und jemanden auf dich zukommen siehst, der dir was anhaben will, so gib ihm nur eins mit der Ruthe, dann wird er dich in Ruhe lassen.‹ Der Jüngling ging darauf mit seiner Schwester weiter, und da sprach das Mädchen ›Du hast das ganze Brod hingegeben, was sollen wir nun selber essen?‹ Er aber sprach ›Gott wird uns schon mehr geben.‹ Im Weitergehn stiess ihnen abermals das alte Männchen auf, und das Männchen sprach ›Gib mir ein bischen Fleisch, so schenk ich dir dafür dieses Pfeifchen.‹ Der Jüngling gab ihm Fleisch, und das alte Männchen schenkte ihm dafür das Pfeifchen. Das Mädchen aber schalt jetzt wieder den Bruder, dass er alles Fleisch weggeschenkt habe.

Sie wanderten weiter durch den Wald und kamen in einen Garten und fanden dort zwölf Räuber mit zwölf Jagdhunden. Da schoss der Jüngling die zwölf Hunde todt, und als die Räuber jetzt auf ihn zugelaufen kamen und ihn umbringen wollten, da schoss er auch elf von den Räubern todt, der zwölfte aber lief ins Haus und versteckte sich dort. Der Jüngling ging nun in das Haus hinein, er konnte aber den Räuber nicht finden. Und dann ging er in den Wald, dort erblickte er eine Bärin, und er wollte sie todt schiessen. Aber die Bärin sprach ›Schiess nicht, schiess nicht, ich will dir auch ein Junges von mir schenken.‹ Der Jüngling sprach ›Du musst mir auch noch Milch von dir geben‹, und die Bärin gab ihm das Junge und die Milch, und er nahm den kleinen Bären und die Milch mit nach Haus und schenkte die Milch seiner Schwester. Das Mädchen aber hatte sich mit dem Räuber eingelassen, und sie wollte ihren Bruder verderben. Sie bat diesen, dass er ihr jetzt auch noch Milch vom Wolf brächte, und sie dachte, dass der Wolf ihn schon zerreissen werde. Der Jüngling ging in den Wald hinaus, und da erblickte er auch eine Wölfin und wollte schiessen. Aber die Wölfin sprach ›Schiess nicht, schiess nicht, ich will dir auch alles geben was du verlangst.‹ Da sprach der Jüngling ›So gib mir Milch von dir.‹ Die Wölfin gab ihm von[402] ihrer Milch und schenkte ihm auch noch ein Junges und sprach ›Das Junge wird dir, wenn es dir ans Leben geht, ein mächtiger Freund sein.‹ Er ging nun wieder heim und gab die Milch seiner Schwester. Die Schwester aber trank die Milch nicht, sondern goss sie unter das Bett, und bat ihn, dass er ihr doch auch Milch vom Einhorn mit heimbrächte; sie dachte, das Einhorn wird ihn schon zerreissen. Und der Jüngling ging abermals in den Wald und sah das Einhorn und wollte es todt schiessen. Aber das Einhorn sprach ›Schiess nicht, schiess nicht, ich will dir auch alles geben was du nur willst.‹ Da sagte er ›So gib mir Milch von dir.‹ Das Einhorn gab sie ihm und schenkte ihm auch noch ein Junges und sagte ›Dieses Junge wird dir, wenn dein Leben in Gefahr kommt, ein mächtiger Freund sein.‹ Der Jüngling nahm nun die Milch und das Junge mit nach Haus und schenkte die Milch seiner Schwester. Aber die Schwester trank sie wiederum nicht, sondern goss sie unter das Bett.

Jetzt hatte der Jüngling einen jungen Bären, einen jungen Wolf und ein junges Einhorn, und er brachte ihnen immer Fleisch mit nach Haus und fütterte sie damit. Eines Tags aber, wie der Jüngling schlief, da nahm ihm der Räuber den Ring ab und wollte ihn umbringen. Aber er wurde wach, pfiff auf dem Pfeifchen, das ihm das alte Männchen geschenkt hatte, und da kam das Einhorn gelaufen, schlug die Thür ein und riss den Räuber in Stücke. Danach befahl der Jüngling seiner Schwester, dass sie mit ihm in eine kleine Kammer ginge, und er sprach zu ihr ›Nicht eher lass ich dich frei, als bis du diese Tonne voll Kohlen leer gegessen und die Tonne voll Thränen geweint hast!‹

Darauf zog der Jüngling von dannen und kam zu einem König. Der König musste immer eine von seinen Töchtern einem Drachen ausliefern, der sie verschlang, und damals sollte grade wieder eine dem Drachen übergeben werden. Der Jüngling ging zu dem König und sprach ›Ich will deine Tochter von dem Drachen erlösen.‹ Der König antwortete ›Wenn du sie erlösest, so geb ich sie dir zur Frau und dazu die Hälfte meines Königreichs.‹ Da ging denn der Jüngling zu dem Drachen, und auch die Königstochter kam jetzt angefahren. Er stellte sich an die Stelle, wo der Drache herauskommen musste, und wie der Drache jetzt aus der Höhle herauskam, da schlug ihm der Jüngling alle sechs[403] Köpfe ab. Drauf fuhr er mit der Prinzessin zum König zurück, und der König gab ihm seine Tochter zur Frau.

Eines Tags fiel dem Jüngling ein, dass seine Schwester sich noch in dem Gehöft befinde, wo er die zwölf Räuber umgebracht hatte. Und er zog hin und ging in das Kämmerchen, um nach seiner Schwester zu schauen. Sieh da waren die Kohlen aus der Tonne verschwunden, und die Tonne war bis oben hin voll Thränen geweint. Und das Mädchen flog als eine Rauchwolke davon und sprach zum Bruder ›Ich danke dir, Bruder, dass du mir die Seligkeit verschafft hast.‹

Quelle:
Leskien, August/Brugman, K.: Litauische Volkslieder und Märchen. Straßburg: Karl J. Trübner, 1882, S. 401-404.
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