21. Vom verzauberten Schloss. (4)

[430] Es stand einmal unter der Erde ein Schloss, das war gradeso wie heutzutag die Schlösser über der Erde sind. Bei dem Schloss war ein Garten, und in einer Ecke des Gartens war eine Treppe, die führte aus dem Schlossgarten in die Höhe. In dem Schloss wohnte ein König, und der König hatte etliche Nachbarn, davon war einer der König Blaubart. Eines Tags nun kam der König Blaubart herüber und sprach ›Nachbar, dein Töchterchen wird in zwölf Jahren herangewachsen sein, da soll sie mich und mein Schloss heben.‹ Die Königstochter wuchs auch in zwölf Jahren heran, und da kam der König Blaubart wieder herüber und sprach ›Nachbar, schick mir deine Tochter heut auf eine Nacht hinüber, so wird sie und ich mit erlöst sein.‹ Der König schickte auch seine Tochter ins Nachbarschloss, dass sie dort über Nacht bliebe. Der König Blaubart aber führte sie in ein Zimmer, wo ein paar Betten zurecht gemacht waren, und sprach zu ihr ›Mein Kind, wenn du heute Nacht und dann noch zwei Nächte hier zubringst, so werden wir beide nahe Verwandte werden.‹ Damit ging er, und das Fräulein legte sich zu Bett. Es war aber nicht mehr weit zum Hahnenschrei, da trat einer zu ihr herein, der hatte Ketten umhängen, und die Ketten klirrten und rasselten. Er that die Ketten von sich und legte sich nieder, und im Schlaf röchelte[430] er. Der Hahn fing an mit den Flügeln zu schlagen und wollte eben krähen, da erhob sich jener vom Bett, hängte sich die Ketten um und ging hinaus. Am Morgen kam der Schlossherr mit seiner Frau zur Prinzessin herein, und sie waren voller Freude und sagten zu ihr ›Nur noch zwei Nächte schlaf bei uns, Kind, dann werden wir aus der Erde emporsteigen.‹ Sie versprach es auch, bat aber, dass sie den Tag zu ihren Eltern hinübergehen dürfe. Der König antwortete ›So geh, aber wenn dir deine Mutter etwas mitgeben will, so hüte dich es anzunehmen und hierher mitzubringen.‹ Als nun die Prinzessin nach Haus kam, fragte ihre Mutter ›Nun, was gibt's von drüben zu erzählen?‹ Sie antwortete ›Es wär alles gut, ich bekomme gut zu essen und zu trinken, aber da kommt in der Nacht einer zu mir in das Zimmer herein, der hat Ketten umhängen, er wirft die Ketten ab und legt sich hin und schläft.‹ Da fragte die Mutter ›Hast du denn kein Licht, dass du sehen kannst, was es für einer ist?‹ ›Nein, ich habe keins.‹ ›Dann will ich dir doch ein Licht und Schwefelhölzchen mitgeben.‹ Aber die Prinzessin sprach ›Nein, der König Blaubart hat mir verboten was von dir anzunehmen‹, und sie nahm das Licht und die Schwefelhölzer nicht. Wie sie danach wieder in des Blaubarts Schloss hinüberkam, da waren wieder die Betten zurecht gemacht und alles frisch bezogen. Und der König und die Königin sagten zu ihr ›Mein Kind, nur noch diese Nacht verbring hier und dann noch eine, dann steigen wir aus der Erde empor.‹ Die Nacht brach herein, und sie legte sich zu Bett. Und wieder, als es nicht mehr weit vom Hahnenschrei war, tritt er zu ihr herein und hat Ketten umhängen und klirrt und rasselt damit. Er wirft die Ketten von sich, legt sich müde und matt nieder und röchelt im Schlaf. Wie aber der Hahn mit den Flügeln schlug und eben krähen wollte, da erhob er sich wieder, hängte seine Ketten um und ging hinaus. Am Morgen, als der König und die Königin aufgestanden waren, gingen sie zur Prinzessin, sprachen ihr wieder gar freundlich zu und sagten ›Mein Kind, nur noch eine Nacht brauchst du hier zu schlafen, dann bist du erlöst und für alles belohnt.‹ Und die Prinzessin wollte wieder gern heim zu ihren Eltern. Da sprach der König ›Es sind jetzt schon acht Werst bis zu deiner Eltern Schloss, denn wir steigen schon in die Höhe.‹ Aber sie ging doch nach Haus, und diesmal vergass[431] König Blaubart dem Fräulein einzuschärfen, dass sie von der Mutter nichts annehmen solle. Zu Haus fragte die Mutter ›Nun, mein Kind, wie steht's drüben?‹ ›Alles geht gut‹, antwortete die Prinzessin, ›nur das ist ein bös Ding, dass ich nicht weiss, wer da Nachts in Ketten zu mir kommt und in meinem Zimmer schläft.‹ Spricht die Mutter zu ihr ›So nimm Licht und Schwefelhölzchen mit, und wenn er zu dir eintritt, dann zünde das Licht an und sieh, wer es ist.‹ Da nahm sie denn Licht und Schwefelhölzer mit. Und am Abend, wie sie sich eben gelegt hatte, da trat wieder der mit den Ketten herein und legte die Ketten ab. Rasch zündete sie ein Hölzchen an, aber da warf jener auch seine Ketten wieder um und verschwand unter Heulen und Sturmesgebraus. Und alsbald schrie alles im Schloss ›Weh, die Unglückselige hat uns ins Unglück gebracht!‹ Und dann ward es wieder still. Die Prinzessin wartete, dass der König und die Königin kämen, aber sie kamen nicht. Sie wartete, dass es Tag würde, aber es wurde nicht Tag. In immer währender Nacht wandelte sie in allen Zimmern umher und fand keinen Ausgang und bekam keinen Menschen zu Gesicht. So wandelte sie ein ganzes Jahr lang; die Kleider auf ihrem Leibe verschlissen und wie eine böse Krankheit zehrte an ihr der Gram, dass keine Seele zu ihr kam.

Da erblickte sie einst in der Wand ein Fensterchen, das war nicht grösser als dass ein Sperling ein und ausfliegen konnte. Sie reckte sich in die Höhe und sah durch das Fensterchen einen Teich, der ging bis an die Mauer heran, und zwei Fischer fischten und plauderten mit einander. ›Wenn‹, sagte der eine, ›das Fräulein jetzt wieder umherwanderte, würde sie eine Küche finden und in der Küche ein altes Mütterchen, das das Feuer schürt. Und wenn sie dann nur sagte »Altes Mütterchen, legt ihr euch schlafen und ruht aus, ich will indessen für euch das Feuer schüren«, und, nachdem das Mütterchen eingeschlafen wäre, nur herginge und sie umbrächte und das Feuer auslöschte!‹ Die Prinzessin hörte das alles, und da ging sie und kam zu der Küche, fand das Mütterchen am Feuer und sprach zu ihr ›Altes Mütterchen, legt ihr euch schlafen und ruht aus, ich werde indes das Feuer schüren.‹ Das Mütterchen ging und schlief ein, und da schlug die Prinzessin die Alte todt und löschte das Feuer aus. Und jetzt stieg das Schloss aus der Erde empor, und alles im[432] Schloss jubelte und suchte nach der Prinzessin: ›Wo ist das gute Mädchen, das uns erlöst hat?‹ Der Prinzessin aber wurde es angst, denn sie dachte, wegen des Mütterchens, das sie umgebracht hatte, werde es ihr schlimm gehn. Und sie versteckte sich in der Küche. Aber da trat derselbe, der damals Nachts zu ihr gekommen war und sich hingelegt hatte, zu ihr in die Küche, und es war König Blaubarts Sohn und war ein gar schöner Junker: seitdem das Schloss verzaubert worden war, hatte er zur Busse sich die Ketten umhängen und immer mit dem Hahnenschrei aus der Erde emporsteigen und in Feld und Wald in den Ketten wandern müssen. Er führte jetzt die Prinzessin zu seinen Eltern und sprach ›Das alles geschah nur, weil mein Liebchen ihrer Mutter folgte und das Licht mitbrachte. Hätte sie der Mutter nicht gefolgt, so wären wir schon früher aus der Erde heraufgekommen. So aber litt sie Not und Trübsal: die Kleider verschlissen an ihr, und ein ganzes Jahr hat sie in den Zimmern umherwandern müssen. Aber nun ist sie mein liebes Schätzchen, und wir alle haben durch sie Licht und Freude wieder erlangt.‹ Darauf sprach die Prinzessin ›Ich will kein Licht, keine Freude, ich möchte nur wieder zu meinem Vater und meiner Mutter!‹ Aber alle sagten ihr ›So lange die Sonne über der Schöpfung aufgeht, gelangt niemand von hier in deine Heimat, und wenn er ein Vogel wäre; nimmer siehst du sie wieder, so lange du lebst.‹ Da blieb denn die Prinzessin beim König Blaubart und gab dem Prinzen ihr Jawort, und der König schenkte ihnen die Hälfte von allen seinen Besitztümern und sprach ›Lebt und regiert wie ich, und wir wollen allzeit Gott und dieser Prinzessin dafür dankbar sein, dass sie uns erlöst hat. So geht jetzt zusammen zur Kirche, auf dass ihr Mann und Frau werdet, und habt immerdar Gottes Gebote vor Augen.‹

Quelle:
Leskien, August/Brugman, K.: Litauische Volkslieder und Märchen. Straßburg: Karl J. Trübner, 1882, S. 430-433.
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