25. Von dem Mädchen, das eine Hexe zur Stiefmutter hatte. (34)

[447] Es war eine Witwe, die war eine Hexe. Sie hatte drei Töchter, die eine hatte ein Auge, die zweite zwei, die dritte drei Augen. Die Witwe heiratete einen Witwer, der hatte nur ein[447] Töchterchen. Das Mädchen hatte es bei seiner Stiefmutter gar nicht gut: Tag für Tag trieb es das Vieh aus, und eines Tags verlangte die Hexe auch noch, dass es jeden Tag einen Sack voll Flachs spänne und aufwebte und ausbleichte und alles am Abend fertig mit nach Haus brächte. Da ging das Kind auf den Kirchhof, wo seine Mutter lag, und fing an ihrem Grab zu weinen an, also dass die Thränen darauf fielen. Die Mutter drunten in der Erde sprach ›Es ist nicht Regen, es ist nicht Schnee, es fällt der Thau von den Bäumen.‹ Aber das Kind sagte ›Es ist nicht Schnee, noch ist es Regen, es fällt auch kein Thau von den Bäumen, ich weine nur hier auf deinem Grab.‹ Fragte die Mutter ›Warum weinst du?‹ ›Ach‹, erwiederte es, ›die garstige Stiefmutter hat mir befohlen, ich solle jeden Tag den Flachs, den sie mir mitgibt, spinnen, weben und bleichen und alles Abends fertig mit nach Haus bringen, und es ist immer ein ganzer Sack voll Flachs!‹ Da sprach die Mutter ›Wenn du mit deiner Heerde aufs Feld kommst, da ist eine Kuh drunter, nimm den Sack mit Flachs und steck ihn der ins eine Ohr, und wenn du ihn zum andern Ohr herausziehst, so ist das Leinwandstück fertig gesponnen, gewebt und gebleicht.‹ Das that nun auch das Mädchen, und wie es Abends mit dem fertigen Gewebe heimkam, dachte die Hexe, wie mag es das wol fertig gebracht haben? Am nächsten Tag gab sie ihm wieder einen ganzen Sack voll Flachs mit auf die Weide, sie schickte aber eine ihrer Töchter, die mit dem einen Auge, mit, dass sie acht gäbe. Wie die beiden Mädchen mit dem Vieh hinauskamen, setzten sie sich beide hin, und der Sack mit dem Flachs lag ruhig da. Da sprach die junge Hexe ›Weshalb arbeitest du nicht? Du wirst zum Abend nicht fertig werden!‹ Aber Stiefschwesterchen sagte ›Komm, ich will dir den Kopf absuchen.‹ ›Nein, arbeite du nur!‹ antwortete die Hexentochter. Aber sie wurde schläfrig, und der Kopf begann ihr zu jucken, und da sagte sie ›Lause mich doch ein bischen.‹ Stiefschwesterchen that's, und indem sie dazu sang ›Eia popeia, Einäuglein, schlaf!‹, schlief auch das eine Auge ein. Jetzt nahm das Mädchen den Flachssack, trug ihn zur Kuh hin, steckte ihr den Flachs ins Ohr und zog zum andern Ohr die Leinwand fix und fertig heraus. Und als die Zeit zum Eintreiben kam, trat sie zur Stiefschwester hin und rief ›Schwesterchen, steh auf, wir wollen jetzt eintreiben!‹ Die Hexentochter[448] erwachte und fragte ›Ei, ist denn deine Arbeit fertig?‹ Das Mädchen sagte ›Ja‹, und sie trieben dann heim. Zu Haus gab das Stiefkind den Sack und die Leinwand der Stiefmutter, und da fragte die ihre Tochter ›Sahst du, wie sie's anfing?‹ und die Einäugige antwortete ›Nein, ich schlief, während sie arbeitete.‹ Am dritten Tag gab die Hexe dem Stiefkind wieder einen Sack voll Flachs und schickte die Zweiäugige mit, aber auch die liess sich einschläfern, und die Leinwand ward fertig. Am vierten Tag musste die dreiäugige mit. Wie Stiefschwesterchen nun auch die einschläfern wollte, sagte die Hexentochter ›Nein! mir hat die Mutter befohlen, ich solle darauf acht geben, wie du's anfängst.‹ Aber auch ihr juckte nachher der Kopf, und Stiefschwesterchen fing jetzt wieder an sie in Schlaf zu singen, aber nur zwei Augen schliefen ein, das dritte aber blinzte nur so ein bischen und blieb wach. Und als das Mädchen den Sack zur Kuh trug, den Flachs ihr ins eine Ohr hineinsteckte und dann am andern Ohr die Leinwand fertig gesponnen, gewebt und gebleicht herausnahm, da hatte die Hexentochter alles gesehn. Stiefschwesterchen ging nachher zu ihr hin und sprach ›Steh auf, Schwesterchen, wir wollen jetzt eintreiben!‹ und als sie mit dem Vieh heimkamen, sagte die Hexentochter zu ihrer Mutter ›Ich hab alles gesehn, wie sie's anfängt‹, und erzählt' es ihr. Da ging die alte Hexe hin und schlachtete die arme Kuh.

Stiefschwesterchen ging jetzt wieder auf den Kirchhof an der Mutter Grab und weinte. Und sie hörte die Stimme der Mutter ›Ist's Schnee? ist's Regen? Nein, Thau fällt von den Bäumen.‹ Darauf sprach das Mädchen ›Es ist nicht Schnee, es ist nicht Regen, noch fällt auch Thau von den Bäumen, ich weine nur hier auf deinem Grab.‹ Da fragte die Mutter drunten ›Warum weinst du?‹ und das Kind antwortete ›Sie haben mir meine arme Kuh geschlachtet!‹ ›Geh heim‹, sagte darauf die Mutter, ›und bitte, dass sie dir das Gekröse zum Ausspülen geben; damit geh zum Teich, und wenn du es ausspülst, wirst du darin einen Ring und ein Gersten- und ein Haferkorn finden. Nimm sie mit nach Haus und steck sie unterm Fenster in die Erde.‹ Das Mädchen that, wie ihm die Mutter befahl, und es fand, als es am Teich das Gekröse der Kuh ausspülte, alles, wie es die Mutter gesagt hatte, und steckte den Ring und die Körner unter dem Fenster in den Boden. Am nächsten[449] Morgen aber war dort ein Brunnen voll Wein und ein Apfelbaum mit reifen Äpfeln daran.

Und ein Königssohn kam des Wegs gefahren, der hielt an und wollte von dem Wein und den Äpfeln haben. Er schickte die Hexe, sie solle ihm von dem Wein schöpfen und von den Äpfeln pflücken, aber wie die Hexe an den Brunnen trat, sank der Wein tief tief hinab, und die Äpfel wichen nach oben hin zu rück. Drauf kam die Stieftochter herbei, und wie die herantrat, da wurde der Brunnen wieder bis oben voll Wein, und die Äpfel neigten sich ganz herab, und sie schöpfte von dem Wein und pflückte von den Äpfeln und brachte sie dem Prinzen. Dem Prinzen aber gefiel das so, dass er sprach ›Für diese Bewirtung sollst du meine Frau werden!‹ Dann fuhr er weiter. Die Hexe aber hatte die Worte des Prinzen gehört, und sie sperrte das Mädchen in eine Kammer ein und schloss die Thür zu, und wollte eine ihrer eignen Töchter zur Frau des Prinzen machen.

Als der Tag kam, wo des Prinzen Braut zur Trauung nach der Kirche fahren sollte, musste sich die Hexentochter fertig machen, aber sie konnte die Schuhe nicht anbringen, die der Königssohn dem Stiefkind geschenkt hatte. Da ging die Hexe her und hackte ihr ein Stück von den Füssen ab, und jetzt brachte sie die Schuhe an und fuhr zur Kirche. Das Stiefkind aber musste wieder hinaus und das Vieh hüten. Aber draussen flog das Mädchen als Vöglein auf, flog zum Prinzen hin und sagte ›Kuku, kuku, an des Hexleins Füssen ist ein Stück abgehackt.‹ Der Prinz hörte die Worte und dachte, man hat mir wol meine Braut vertauscht! Und er schaute nach und sah, dass wirklich ein Stück an den Füssen abgehackt war. Da jagte er die Hexentochter auf der Stelle fort, liess sich mit dem Stiefkind trauen, und sie führten ein glückliches Leben.

Quelle:
Leskien, August/Brugman, K.: Litauische Volkslieder und Märchen. Straßburg: Karl J. Trübner, 1882, S. 447-450.
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