28. Von der Hexe, die dem Mädchen den Kopf abbiss. (29)

[459] Ein Bauerwirt hatte drei Töchter, die sassen eines Abends bei der Arbeit; die eine webte, die andre spann und die dritte spulte Seide. Da ging ihnen das Licht aus, und da hiess es, es solle im Nachbarhaus Licht geholt werden. Aber keine wollte gehn, und die Webende sprach ›Mir leuchtet mein Schiffchen!‹ und die Spinnende ›Mir leuchtet mein Rädchen!‹ und die Spulende[459] ›Mir leuchten meine seidnen Fädchen!‹ Aber da musste sich doch die jüngste auf den Weg machen. Auf dem Weg begegnete ihr ein weisser Herr, der fuhr auf einem weissen Wagen mit weissen Pferden, und hinterher lief ein weisser Hund. Fragte sie der Herr ›Wohin läufst du, Mädchen?‹ ›Zur Muhme, um Feuer zu holen‹ antwortete sie. Aber der Herr sprach ›Geh nicht hin, deine Muhme ist eine Hexe, sie wird dich verschlingen.‹ Da kehrte sie auch zurück. Jetzt ging die zweite, und die traf unterwegs einen roten ›Herrn mit roten Pferden und rotem Wagen, und hinterdrein lief ein roter Hund.‹ Der Herr fragte ›Wohin läufst du, Mädchen?‹ ›Ich gehe zur Muhme, um Feuer zu holen.‹ Sprach zu ihr der Herr ›Geh nicht hin, deine Muhme ist eine Hexe, die wird dich fressen.‹ Da kehrte sie um. Jetzt ging die älteste, und der begegnete ein schwarzer Herr mit schwarzen Pferden und einem schwarzen Wagen, und ein schwarzer Hund lief hinterher. Der Herr fragte ›Wohin gehst du, Mädchen?‹ Sie antwortete ›Zur Muhme, um Feuer zu holen.‹ ›Geh nicht‹, sprach er, ›deine Muhme ist eine Hexe, sie wird dich fressen.‹ Aber sie hörte nicht und ging doch nach dem Hof der Muhme. Da sah sie am Hofthor eine Menschenhand als Riegel eingesteckt, und wie sie an die Hausthür kam, an der Thür einen Menschenfinger als Riegel. Sie ging nun ins Haus hinein, und da sah sie, wie ihre Muhme grade ein Kind lebendig fressen wollte. ›Muhme, was machst du da!‹ rief sie und wollt' ihr das Kind aus den Händen reissen. Aber da warf die Muhme das Kind weg und biss dem Mädchen den Kopf ab.

Quelle:
Leskien, August/Brugman, K.: Litauische Volkslieder und Märchen. Straßburg: Karl J. Trübner, 1882, S. 459-460.
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