35. Von dem Tagedieb und Lügner und seinem Kamerad. (41)

[472] Es war ein Tagedieb, der bummelte einst am Strand, und da begegnete ihm einer, den fragte er ›Hast du schon einmal einen Stein schwimmen sehn?‹ Der andre sagte ›Ja, ich hab einen gesehn; er sitzt jetzt in einer Mühle und muss dort klopfen.‹1 ›Ei, das ist schön!‹ versetzte der Tagedieb, ›da müssen wir zwei Kameraden werden.‹ Und dann sprach er zu ihm ›Wir wollen in das und das Königreich gehn, ich werde dem König was vorlügen, und du kommst nachher auch hin, und du wirst dann schon wissen, was du zu sagen hast.‹ Drauf ging der Tagedieb zu dem König und bat den König, dass er ihm Branntwein zu trinken gebe. Der König sprach ›Ich habe keinen; bei uns ist kein Getreide gewachsen, da haben wir weder Bier noch Branntwein.‹ Da erzählte der Tagedieb dem König, er hätte in einem andern Königreich den Hafer so hoch stehn sehn, dass die Leute von einem Halm zwölf Fässer Bier machten. ›Ich wette dreihundert Rubel, dass das nicht wahr ist‹, sprach der König. Der Tagedieb aber antwortete ›Und ich wette auch dreihundert Rubel, dass es wahr ist.‹ So setzte jeder dreihundert Rubel, und der König sagte ›Ich werde einen Diener hinschicken, der soll schaun, ob es wahr ist.‹ Der Diener ritt fort nach dem Land und begegnete unterwegs einem, den fragte er ›Von wo bist du, Mann?‹ Und der Mann war, wie er sagte, grade aus derselben Gegend, wo der Diener hin sollte, und da fragte ihn der Diener ›Weisst du nicht, wie gross ist bei euch der Hafer geworden? wie viel Bier kann man von einem Halm machen?‹ Der Mann antwortete ›Das weiss ich nicht, ich bin nicht dabei gewesen, wie Bier gemacht wurde. Aber ich hab schon gesehn, wie bei uns der Hafer gefällt wurde: drei Männer hatten mit Äxten drei Tage lang daran zu thun.‹ Da gab ihm der Diener zehn Rubel, er solle das auch vor dem König sagen. Und als der Diener zum König zurückkam, fragte der ›Nun, ist's wahr?‹ und der Diener antwortete ›Ja, es ist wahr, lieber König. Hier hab ich einen Mann aus der Gegend mitgebracht.‹ Da gab der König dem Tagedieb die dreihundert Rubel.

Die zwei Gesellen gingen von dannen, und der Tagedieb sagte[473] zu seinem Kameraden ›Ich will jetzt zu einem andern König gehn und ihm was vorlügen, ich kriege von dem noch mehr! Du wirst wieder schon wissen, was du zu sagen hast; mach nur, dass du flink bei der Hand bist!‹ Er ging also zu dem König und bat den König um Weisskohl. Der König antwortete ›Den haben wir nicht; heuer ist bei uns kein Kohl gewachsen.‹ Darauf sagte der Tagedieb ›Lieber König, da gibt's einen König, bei dem ist der Kohl so gross geworden, da hatten sie zwölf Ständer voll von einem Kohlkopf.‹ ›Das ist nicht wahr!‹ ›Lieber König, ich wette sechshundert Rubel, dass es wahr ist.‹ ›Und ich setze sechshundert dagegen!‹ Da schickte denn der König seinen Diener hin, der sollte schaun, ob's wahr wäre. Der Diener ritt fort, und da begegnete er einem, den fragte er ›Woher bist du, Mann?‹ Und da der Mann sagte, er sei aus der Gegend, wo der Diener hin wollte, fragte ihn der Diener ›Wie gross ist bei euch der Weisskohl geworden? wie viel Fässer voll kann man von einem Kopf einmachen?‹ Er antwortete ›Ich weiss nicht, ich bin nicht dabei gewesen. Aber ich hab gesehn, da fuhr man mit zwölf Pferden einen Kohlkopf nach dem Meer, um ihn hineinzuwerfen; denn wenn er stinkig würde, dachte man, käme eine grosse Pest über die Menschen.‹ Da sagte der Diener ›Da hast du zehn Rubel, weil du mir die Reise erspart hast. Komm mit und sag das nämliche auch vor dem König.‹ ›Gut‹, sprach der andre. Der Diener kam nun zum König zurück, und wie der fragte ›Ist's wahr?‹, antwortete er ›Ja, es ist wahr, lieber König. Sieh hier hab ich einen Mann aus der Gegend.‹ Da gab der König dem Tagedieb die sechshundert Rubel. Der hatte nun neunhundert, und er sprach zu seinem Kameraden ›Komm, wir wollen weiterziehn.‹

Sie kamen wieder zu einem andern König, und der Tagedieb fragte ihn ›Hat der Herr König schon Wunder gesehn?‹ ›Nein.‹ ›Lieber König, es gibt eine Stadt, nach der kam einmal ein Vogel geflogen, der setzte sich auf die Stadt und pickte die Sterne vom Himmel.‹ ›Das ist nicht wahr!‹ ›Es ist doch wahr! Ich will jede Wette eingehn, ich setze zwölfhundert Rubel.‹ Drauf sprach der König ›Ich wette zwölfhundert dagegen.‹ Und er schickte seinen Diener, dass er zusehe, ob's wahr wäre. Der Diener ritt fort und begegnete einem Mann, den fragte er ›Von wo bist du her?‹ Und da der Mann sagte, aus der Stadt, nach der der Diener reiten[474] sollte, fragte ihn der Diener, ob das mit dem grossen Vogel wahr wäre. Der Mann antwortete ›Den Vogel hab ich nicht gesehn, aber ich hab zugesehn, wie ein Ei von ihm von zwölf Männern mit Hebebäumen in einen Keller geschafft wurde.‹ Da gab ihm der Diener zehn Rubel und sprach ›Sag das auch vor dem König.‹ Wie der Diener nun zurückkam, fragte der König ›Ist's wahr?‹ ›Ja, es ist so, lieber König. Sieh da hab ich einen Mann aus der Gegend.‹ Da zahlte der König dem Tagedieb die zwölfhundert Rubel.

Die beiden Gesellen zogen nun von dannen und theilten das Geld unter einander; dabei gab der Tagedieb dem andern drei (polnische) Groschen zu wenig. Nachher nahm sich jeder ein Weib, und eines Tags kam zum Tagedieb sein Kamerad und verlangte die drei Groschen. Der Tagedieb aber sprach ›Komm nächsten Sonntag, da werd ich sie dir geben‹, er hatte aber keine Lust ihm die drei Groschen zu geben, und er verkleidete sich, als wenn er gestorben wäre, legte sich aufs Brett, und befahl seiner Frau, sie solle sagen, er sei todt. Die Frau rieb sich die Augen mit einer Zwiebel, und wie jetzt ihres Mannes Kamerad wegen der drei Groschen kam, weinte sie. ›Er ist todt?‹ ›Ja, todt!‹ ›So will ich ihm wenigstens für die drei Groschen noch dreimal eins mit der Ofenkrücke übern Bauch geben.‹ Damit griff er nach der Ofenkrücke, und da erhob sich der andre vom Brett. ›Ah, du lebst?‹ ›Ja.‹ ›So gib die drei Groschen heraus!‹ ›Ich hab sie jetzt nicht, komm zum Sonntag wieder, dann will ich sie dir geben.‹ Am nächsten Sonntag kroch der Tagedieb in eine Kartoffelgrube. Und wie sein Kamerad wegen der drei Groschen kam, fragt' er seine Frau ›Wo ist dein Mann?‹ ›Der ist gestorben.‹ ›Wo hast du ihn begraben?‹ ›In der Kartoffelgrube.‹ ›So will ich für die drei Groschen ein Gebet verrichten.‹ Und er ging nach der Grube, scharrte im Stroh und brüllte wie ein Bulle. ›Husch husch, Bestie!‹ rief der in der Grube. ›Bist du da drin, Bruder?‹ ›Ja.‹ ›So gib die drei Groschen heraus!‹ ›Ich hab sie jetzt nicht, komm nächsten Sonntag, da geb ich sie dir.‹ Am nächsten Sonntag ging der Tagedieb in eine Kapelle und kroch in einen Sarg. Der andre aber kam, um die drei Groschen zu verlangen, und da ging er nach der Kapelle, und wie er drin herumging, da traten auf einmal zwölf Räuber herein. Er wusste sich nicht[475] zu lassen, und da zog er sich schnell nackt aus und stellte sich an die Wand, als wäre er ein Märtyrerbild. Die zwölf Räuber aber hatten Geld mitgebracht, das wollten sie jetzt unter einander theilen. Es waren dreizehn Haufen Geld, und da ihrer nur zwölf waren, so wussten sie nicht, wie sie das Geld vertheilen sollten. Da sagte einer von den Räubern ›Der dreizehnte Haufen soll dem gehören, wer dem Märtyrerbild, das hier an der Wand steht, den Kopf abhauen kann.‹ Und er nahm eine Axt und wollte schon darauf zugehen und zuhauen, da erhob der Tagedieb, der in dem Sarg lag, seine Stimme und rief ›Reisst euch alle von den Wänden los, ihr Märtyrerbilder! und ihr Todten steht auf! Wir werden an ihnen genug kriegen!‹ Und er und sein Kamerad fingen ein Gepolter an, dass die Räuber dachten, es wären ihrer viele, und sie liefen in den Wald hinaus. Jetzt machten sich die beiden daran, das Geld der Räuber unter sich zu vertheilen. Einer aber von den Räubern kam zurückgelaufen, der sollte schaun, ob es ihrer wirklich viele wären, und er steckte von aussen den Kopf durchs Fenster. Da zog ihm der Tagedieb den Hut vom Kopf, gab den Hut seinem Kamerad und sprach ›Da, nimm den Hut für die drei Groschen, die du zu kriegen hast!‹ Da lief der Räuber zu den andern zurück und sprach ›Wir wollen weiter laufen! Wir haben das Geld nach Haufen getheilt, aber die sind so viele, dass drei Groschen auf jeden kommen! Und da war noch einer übrig, für den waren keine drei Groschen mehr da, da haben sie mir meinen Hut vom Kopf gerissen und ihm den gegeben.‹ Da machten sich die Räuber auf und davon, die zwei aber haben sich das ganze Geld nach Haus getragen.

1

Das Original enthält ein unübersetzbares Wortspiel (płaúkent und płáka).

Quelle:
Leskien, August/Brugman, K.: Litauische Volkslieder und Märchen. Straßburg: Karl J. Trübner, 1882, S. 472-476.
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