43. Von des Flachses Qual. (2)

[497] Bei einem Bauerwirt waren einmal ein Knecht und ein Mädchen in Diensten. Sie hatten sich gern und wollten Mann und Frau werden. Aber er starb. Da weinte das Mädchen lange Zeit um ihn. Und sie studierte viel in Büchern.1 Eines Nachts nun erschien er ihr im Traum und sprach ›Erwarte mich am Samstag Abend, da komm ich auf einem Schimmel zu dir geritten. Putz dich wie zur Kirche und nimm deine Kleider und bind sie in einen Pack zusammen, setz dich dann ans Fenster, mach das Fenster auf und warte, bis ich zu dir komme.‹ Der Samstag kam, sie putzte sich und erwartete ihn. Und er erschien zur Stunde auf einem weissen Pferd und sprach ›Komm, setz dich auf mein Ross, wir wollen dahin reiten, wo ich wohne!‹ Sie ritten davon und kamen zu einem Kirchhof. Und eine Stimme (vom Kirchhof her) sprach ›Des Mondes Licht scheint hell wie der Tag. Es reitet ein Bursch mit seinem Mädchen. Lebendes Mädchen, fürchtest du dich nicht mit dem Todten zu reiten?‹ ›Was sollt ich mich fürchten, da ich Treue geschworen habe?‹ Der Ritt ging weiter zu einem andern Kirchhof. Wieder sprach eine Stimme ›Des Mondes Licht scheint hell wie der Tag. Es reitet ein Bursch mit seinem Mädchen. Lebendes Mädchen, fürchtest du dich nicht mit dem Todten zu reiten?‹ ›Was sollt ich mich fürchten, da ich beim Liebsten bin?‹ Sie ritten weiter und kamen an die Hölle. Er sprach ›Steig ab und bleib hier sitzen, ich gehe mir eine Pfeife anzünden.‹ Drauf rief er in die Hölle hinein ›Auf, Brüder! kommt alle, dass wir dem Mädchen, das ich hergebracht habe, nachsetzen!‹ Und sie machten sich alle auf, sie zu verfolgen. Das Mädchen aber hatte gemerkt, wo es war, und sie lief davon, was sie laufen konnte. Sie drehte sich um, da war der todte Bräutigam schon dicht hinter ihr, und da warf sie ein Buch weg. Die Verfolger nahmen das Buch und zerrissen es. Abermals waren sie schon nicht mehr weit von ihr, da drehte sie sich wieder um[497] und warf ihnen den ganzen Bündel Kleider hin, den sie mitgenommen hatte. Jetzt kam das Mädchen an ein Häuschen und sah, dass drinnen ein Kienspan brannte. Da lief sie in das Häuschen und wickelte ihren Rosenkranz um die Thürklinke. Drinnen aber erblickte sie einen Todten auf dem Brett, und ihm zu Häupten brannte ein Theerlicht, und neben dem Tisch lag ein todter Hahn; da nahm sie den Hahn in die Hände. Jetzt rief der Todte draussen vor dem Fenster ›Du, Todter! gib mir das lebendige Mädchen her! die Thür ist mit einem Strick zugebunden, und über die Fenster ist das Kreuz gemacht, ich kann nicht hineinkommen.‹ Der Todte begann sich zu regen, und jetzt rief jener wieder ›Du, Todter! gib das lebendige Mädchen her! die Thür ist mit einem Strick zugebunden, und über die Fenster ist das Kreuz gemacht, ich kann nicht hineinkommen.‹ Da stand der Todte auf und sprach zu dem Mädchen ›Weswegen wirst du von ihm verfolgt?‹ Sie aber sagte ›Geduldet euch ein wenig, ich will euch erst des Flachses Qual erzählen.‹ Und da erzählte sie den Todten, wie man den Flachs sät, wie er dann wächst und reif wird, wie er gerauft, getrocknet, ausgespreitet, aufgenommen, in die Brachstube eingefahren und getrocknet wird, und wie man ihn dann brecht, ausschwingt und hechelt und dann spinnt, webt, bleicht, schneidet und näht. Jetzt fing der Hahn in ihren Händen zu krähen an, und da sah sie, dass sie nicht mehr auf dem Stuhl sass, sondern auf einem Baumstumpf, und dass sie nicht mehr in der Hütte war, sondern inmitten eines Morastes, und die beiden Todten standen noch wie vorher da, aber es waren abgestorbne Baumstämme.

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Sind Erbauungsbücher gemeint?

Quelle:
Leskien, August/Brugman, K.: Litauische Volkslieder und Märchen. Straßburg: Karl J. Trübner, 1882, S. 497-498.
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